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# taz.de -- 30 Jahre Einheit in Stralsund: Die Kanzlerin auf Pinguinbesuch
> In der Stralsunder Altstadt liegt Merkels Wahlkampfbüro. Man liebt sie
> hier, man hasst sie, man sonnt sich in ihrem Glanz. Was, wenn sie nicht
> mehr da ist?
Ob in der Kneipe „Zur Fähre“, im Restaurant „Hansekeller“ oder im Deut…
Meeresmuseum: In Stralsund kann man der Bundeskanzlerin ganz nah kommen.
Die Hansestadt ist in den letzten 30 Jahren zur politischen Heimat für
Angela Merkel (CDU) geworden. Dabei hat sie hier nie gewohnt. 1990 ist der
damals noch unbekannten 36-jährigen Physikerin der vorpommersche
Ostsee-Wahlkreis zugeteilt worden. Dass daraus trotzdem eine
Erfolgsgeschichte wird, war damals nicht absehbar.
Das Vertrauen der Bevölkerung hat sich die gebürtige Hamburgerin hart
erarbeitet. Trat Merkel bei Bundestagswahlen für ihre Union an, hat sie
immer das Direktmandat geholt – mit und ohne Kanzlerinnen-Bonus. Seit 30
Jahren vertritt sie Stralsund, Rügen und Nordvorpommern im deutschen
Bundestag. In dieser Zeit hat sie die mediale Aufmerksamkeit immer wieder
auf Stralsund und das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gelenkt.
Jetzt fragt man sich natürlich, wie es hier wird, wenn sie bald nicht mehr
Kanzlerin ist? Nicht nur wegen der ganzen Aufmerksamkeit, auch, weil da
noch ein Versprechen offen ist …
## Die größte Brücke der Bundesrepublik
Keine Frage: Die Region verdankt Merkel viel. Gewaltige Bilder zum
Beispiel. Eines zeigt, wie sie die neue Rügenbrücke einweiht, die zweite
Verbindung zwischen dem Stralsunder Festland und der deutschen Insel – sie
ist noch immer die größte Brücke in der Bundesrepublik. Weitere Bilder
zeigen, wie Merkel ihren Pinguin Alexandra auf dem [1][Ozeaneum] füttert
oder wie sie während eines bilateralen Treffens mit dem französischen
Präsidenten François Hollande in eine Hafenkneipe einkehrt.
Vielen Schülern wird in Erinnerung bleiben, wie sie mit dem Astronauten
Alexander Gerst über dessen Ausflug in den Weltraum philosophierten. Solche
Momente wird es künftig seltener geben. Die Kanzlerin tritt 2021 von der
politische Bühne ab. Damit endet nicht nur ihre Ära in Stralsund, sondern
auch das unbezahlbare Standortmarketing.
Doch noch ist Merkel in ihrem Wahlkreis präsent. Zuletzt war sie Anfang
September in Stralsund. Sie informierte sich über das lokale
Pandemiegeschehen, über die erneute Schieflage des Werftstandortes und
speiste vorab im Hansekeller. „Wir kennen uns seit 1995“, erzählt
Restaurant-Inhaber Lars Strahl. Was auf den Tisch kam, sagt er nicht. Aber:
„Sie ist bodenständig und mag die regionale Küche, etwa sauer eingelegten
Hering.“
Hat Merkel im Hansekeller zu Tisch geladen, steht davor ihre schwarze
Limousine. Menschen gehen vorbei, rätseln, ob Promis in der Stadt ist.
Wenige Schritte weiter, in der Ossenreyerstraße 29, befindet sich ihr
Wahlkreisbüro. Dezente Kameras überwachen diesen Ort und sie haben schon
vieles aufgezeichnet. Ob die Kanzlerin in der Stadt ist oder nicht, hier
setzen Aktivisten gern provokante Zeichen. Zuletzt machten mutmaßliche
Coronagegner ihren Unmut laut. Im Mai inszenierten sie vor dem Haus ein
Grab, mit Kerzen, Rosen und einem Grabsteinimitat. „Pressefreiheit,
Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Demokratie
1990–2020“ war die Aufschrift. Passend dazu war ein Mundschutz angebracht.
Die Hinweistafel zum Büro war zerkratzt. Schaden: 50 Euro.
Es geht ekelhafter: Im Mai 2016 wurde ein halber Schweinekopf mit
beleidigender Aufschrift vor dem Merkel-Büro gefunden. Damals hetzten
Unbekannte gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Trotz umfangreicher
Ermittlungen konnte der Fall nicht aufgeklärt werden. Pikant: Der Tierkopf
entstammte einer „illegalen Hausschlachtung“.
Im Dezember 2010 protestierten Atomkraftgegner vor dem Büro. Sie rollten
Atommüll-Fass-Attrappen vor das Haus. Damals rief das Anti-Atom-Bündnis
Nord-Ost dazu auf, sich an Aktionen gegen einen Castortransport in das
Zwischenlager in Lubmin bei Greifswald zu beteiligen.
Merkel-Verehrung und Kanzlerinnen-Protest, beides ist bei einem Besuch
immer nah beieinander. So geschehen bei einer ihrer Visiten im Stralsunder
Ozeaneum im Sommer 2019. Erst fütterte die Kanzlerin in Ruhe ihren
Patenpinguin, den sie immer wieder besucht und mittlerweile so vertraut
anspricht wie andere nur ihr Haustier. Dann ging es vom Dach des
Naturkundemuseums in die Besuchermenge. Personenschützer bereiteten ihr und
ihrer Entourage den Weg durch die Ausstellung zum Thema Unterwasserlärm.
Zwischen tausenden Besuchern lauerten drinnen vereinzelte Merkel-Gegner,
draußen hatten sich Greenpeace-Aktivisten positioniert. Die Kanzlerin
lächelte den Protest weg.
Während ihres Aufenthalts bildete sich vor dem Eingang eine lange
Menschenschlange. Auch dieses Bild gibt es in Stralsund häufiger. Hat sich
der Besuch erst rumgesprochen, versuchen Menschen ein Selfie mit der
Kanzlerin zu ergattern. In der Hansestadt ist sie dabei äußerst geduldig.
Genervte Gesichter machen eher ihre Personenschützer, die meist rund drei
Meter entfernt stehen. Während sich Merkel in ihrer politischen Heimat
entspannt und die Nähe regelrecht genießt, achten sie darauf, wer genau in
die Nähe der Kanzlerin kommt und wer nicht.
Richtig viel Nähe gibt es traditionell auf ihrem Neujahrsempfang im
Störtebeker Brauquartier. Dort bleibt Merkel auch bis zum Schluss, scherzt
mit den Gästen, hört zu – und lässt auch hier unzählige Fotos über sich
ergehen. Zuletzt war die Lage jedoch angespannt. Ende Februar wurden die
ersten Großveranstaltungen wegen Corona bereits abgesagt, ihr
Neujahrsempfang noch nicht. „Heute gebe ich niemandem die Hand“, stellte
Merkel klar. Ihre Bedenken teilten die Inhaber der malaysischen Genting
Group, zu der die MV Werften, mit Standorten in Stralsund, Wismar und
Rostock gehören. Sie brachten der deutschen Kanzlerin den sanften
Ellenbogenstoß bei, nannten ihn „Corona-Gruß“. Auf dem Empfang wurden die
Genting-Macher noch als Retter des Stralsunder Werftstandorts gefeiert.
Doch Corona hat dem Konzern stark zugesetzt, der Stralsunder Werft droht
das Aus, wieder mal. Bis zum Lockdown wurden hier Teile für die größten
Kreuzfahrtschiffe der Welt gebaut. Derzeit sind die Parkplätze jedoch
leergefegt. Vor der geräumigen Werfthalle parkt die „Crystal Endeavour“ auf
dem Strelasund, unvollendet.
Die Schiffbauer hoffen erneut auf die Kanzlerin, wieder mal. Merkel stand
ihnen in der Vergangenheit schon öfter bei: Nach der Pleite der P+S-Werften
2012 übernahm 2014 der russische Investor Witalij Jussufow den Stralsunder
Standort – die Kanzlerin hatte den Deal vermittelt. Doch unter Nordic Yards
firmierte der Standort nur bis 2016, dann übernahm Genting. Coronabedingt
befindet sich einer der größten Arbeitgeber im Merkelkreis nun wieder in
der Krise. „Bund und Land werden alles tun, um der Werft unter die Arme zu
greifen“, versprach Merkel den Stralsundern jüngst im September 2020.
Ob sie ihr Wort halten kann, ist unklar. Das Ende ihrer politischen
Laufbahn naht und das betrifft auch ihren Wahlkreis. 2021 will sie sich
zurückziehen, ein junger CDU-Mann steht schon in den Startlöchern. Nach 30
Jahren Merkel will Georg Günther (32) die Nachfolge im Stralsund-Wahlkreis
antreten. Günther ist derzeit noch ein No-Name – so wie Merkel bei ihrem
Antritt 1990. Er ist als Vorpommer in der Region jedoch familiär
verwurzelt, führt als Landesvorsitzender bereits die Junge Union in MV an.
Zuletzt war Merkels Wahlkreis eine echte CDU-Hochburg, vermutlich gerade
durch ihre hohe Bekanntheit. Bei der Bundestagswahl 2017 kam die Union hier
auf 32,9 Prozent. Zweitstärkste Partei wurde die AfD (19,6 Prozent),
gefolgt von der Linken mit 18 Prozent. Das Direktmandat gewann Merkel. Sie
holte deutlich mehr Stimmen als ihre Partei und zwar 44 Prozent. Von den
240.887 wahlberechtigten Bewohnern gingen 169.526 tatsächlich zur Urne,
73.745 davon vertrauten Merkel ihre Stimme an. Ähnlich grandios war auch
ihre Wahlperformance 1990, damals holte sie 47,7 Prozent der Stimmen. Ob
einem anderen Kandidaten dieses Kunststück gelingen kann, wird sich zeigen.
2021 werden die Karten in Stralsund jedenfalls neu gemischt – und keiner
der Kandidaten hat mehr Kanzlerbonus.
4 Oct 2020
## LINKS
[1] https://www.ozeaneum.de/
## AUTOREN
Kay Steinke
## TAGS
Deutsche Einheit
Mecklenburg-Vorpommern
Schwerpunkt Angela Merkel
Werften
Schiffbau
Fehmarnbelt
Erdgas
TV-Krimi
Polizei Mecklenburg-Vorpommern
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