# taz.de -- 25 Jahre Le Monde diplomatique: Mit Dschihadisten verhandeln? | |
> In der Sahelzone definiert der Westen dschihadistische Kämpfer als | |
> totalen Feind. Die Bevölkerung sieht in ihnen oft mehr als blindwütige | |
> Fanatiker. | |
Bild: MINUSMA-Soldat in der Region Timbuktu, Mai 2019 | |
Neutralisieren, unschädlich machen. Für das Töten muslimischer Terroristen | |
werden Worte verwandt, die aus der Insektenvernichtung stammen. Es scheint | |
sich um Täter jenseits aller gemeinhin geltenden Maßstäbe zu handeln, bei | |
deren Bekämpfung folglich das Völkerrecht keine Anwendung zu finden | |
braucht. | |
Der War on Terror, psychologisch und rechtlich derart entgrenzt geführt, | |
ist auf den meisten Schauplätzen militärisch gescheitert. Damit verliert | |
auch die westliche Definition vom totalen Feind an Deutungsmacht. | |
Dschihadisten – oft religiös mehr drapiert als motiviert – sind aus Sicht | |
der Bevölkerungen in Afrika und Asien oft keine blindwütigen Fanatiker, | |
sondern Kämpfer mit Zielen und Interessen. Und wo es die gibt, öffnet sich | |
ein Fenster: um den Dialog zu suchen, womöglich zu verhandeln. | |
Die afghanische Regierung hat den Taliban jüngst ein weitreichendes | |
Gesprächsangebot gemacht: Anerkennung als politische Partei, Freilassung | |
von Gefangenen. Nach 17 Jahren Krieg lebt heute ein Drittel der Afghanen | |
erneut unter der Herrschaft der Taliban, und es gilt als folgenreicher | |
Fehler, sie 2001/02 von den Petersberger Verhandlungen über die Zukunft des | |
Landes ferngehalten zu haben. | |
In den Sahelstaaten setzen Brüssel, Paris und Washington weiterhin allein | |
auf die militärische Option. Als Frankreich 2013 in Mali intervenierte, | |
schien der Vergleich mit Afghanistan („Sahelistan“) noch abwegig, doch nach | |
fünf Jahren internationaler Interventionen ist Mali von einem komplexen | |
Muster der Gewalt gezeichnet. Kaum ein Tag vergeht ohne Anschläge, meist | |
zielen sie auf die ausländischen Truppen (12 000 Blauhelm-Soldaten, davon | |
1000 deutsche sowie 1000 französische Spezialkräfte). | |
## Religiöse Besatzer wurden als Ordnungsmacht begrüßt | |
Der dortige Friedensprozess schließt nur nichtislamistische Milizen ein, | |
insbesondere die Tuareg-Rebellen, einst Auslöser der Krise. Gegenüber ihren | |
zeitweiligen dschihadistischen Verbündeten gilt die Linie: nicht reden, | |
sondern liquidieren. Für Mali war dies immer eine fremdbestimmte | |
Unterscheidung zwischen Feind und Partner. Viele sehen in den | |
Tuareg-Separatisten das größere Übel: Immerhin hatten sie in Nordmali so | |
viel Unheil angerichtet, dass die nachfolgenden religiösen Besatzer | |
zunächst als Ordnungsmacht begrüßt wurden. | |
Ab 2014 warben dann einzelne malische Prominente für einen Dialog mit den | |
Dschihadisten. Die Forderung gewann in jenem Maß an Rückhalt, wie die | |
militärische Bekämpfung des Dschihadismus misslang. Außerdem ist dessen | |
Gesicht heute eindeutiger einheimisch als in früheren Jahren; an der | |
westlichen Liquidierungsstrategie nahm die malische Öffentlichkeit weniger | |
Anstoß, solange es sich bei den Getöteten eher um Ausländer handelte. | |
Nun stechen zwei wohlbekannte Akteure heraus: in Zentralmali der Prediger | |
Amadou Koufa, im Norden der Tuareg-Führer Iyad Ag Ghali – Letzterer die | |
personifizierte fließende Grenze zwischen Rebellion, Terror, Drogenhandel | |
und al-Qaida im Maghreb. Beide Anführer signalisierten verhaltene | |
Dialogbereitschaft. Und für beide empfinden zahlreiche Malier trotz aller | |
Verbrechen einen gewissen Respekt. „Wir können diese Leute nicht in den | |
Fluss werfen. Wir brauchen eine politische Lösung“, sagt der Politiker | |
Tiébilé Dramé. | |
Als im vergangenen Jahr die 900 Teilnehmer einer „Konferenz zur Nationalen | |
Verständigung“ ebenfalls einen Dialogversuch forderten, ließ | |
Staatspräsident Ibrahim Boubacar Keïta seinen Versöhnungsminister | |
verkünden: „Mali ist bereit, mit all seinen Söhnen zu verhandeln.“ Wenige | |
Tage später widerrief er unter französischem Druck. Der damalige | |
Außenminister Jean-Marc Ayrault befand bei einem Mali-Besuch kategorisch, | |
es gebe im Kampf gegen den Terrorismus „nur einen Weg, nicht zwei“, und der | |
malische Präsident versprach Gehorsam. | |
„Es war schockierend zu sehen, wie begrenzt unser Handlungsspielraum ist“, | |
sagt die Oppositionelle und Exaußenministerin Sy Kadiatou Sow. „Mali steht | |
faktisch unter Vormundschaft. Aber wir müssen den Mut haben, zu | |
debattieren, was gut ist für uns selbst, für unser Land.“ Die Politikerin | |
ist als Verfechterin von Frauenrechten bekannt; niemand unterstellt ihr | |
Sympathie für einen radikalisierten Islam. | |
## Die IRA und die PLO galten einst als Ultraterroristen | |
Auch die nordirische IRA und Palästinas PLO galten früher als | |
Ultraterroristen, mit denen Gespräche niemals möglich sein würden. Das | |
Ausmaß begangener Verbrechen sei kein Kriterium, schreibt Jonathan Powell | |
in seinem Buch „Terrorists at the Table“. Der einstige Stabschef von Tony | |
Blair, ein Experte in internationaler Konfliktmediation, schlug bereits vor | |
zehn Jahren Gespräche mit al-Qaida vor. | |
Dennoch hält sich die Vorstellung, mit Dschihadisten könne schon deshalb | |
nicht rational verkehrt werden, weil es sich um religiöse Fanatiker mit | |
wirren Kalifatsfantasien handele, ohne Bezug zum sozialen Geschehen vor | |
Ort. Für Afrika trifft das kaum zu. Leonhard Harding, emeritierter | |
Professor für afrikanische Geschichte an der Universität Hamburg, schreibt | |
über die Sahel-Dschihadisten: „Ein gemeinsames Konzept zur Schaffung eines | |
islamischen Staats oder die Ausrufung eines neuen Kalifats ist nirgendwo in | |
Sicht.“ Die Kämpfer seien primär an lokalen Veränderungen interessiert und | |
wollten die Bevölkerung gewinnen. Über Boko Haram sagt der französische | |
Politologe Jean-François Bayart, es handele sich um „den religiösen | |
Ausdruck eines sozialen Phänomens“. | |
Bereits im Westafrika des 18. und 19. Jahrhunderts kämpften sogenannte | |
Dschihadisten mit religiösen Losungen gegen ungerechte Herrscher. Ähnlich | |
präsentiert sich der heutige Dschihadismus in Zentralmali als Antwort auf | |
staatliche Willkür und soziales Unrecht. Die Region wird von einer Bewegung | |
erschüttert, in der sich Terror mit sozialer Revolte verbindet. | |
Diese rekrutiert sich oftmals aus jungen Fulbe-Hirten; sie vertreiben die | |
Repräsentanten eines Staats, den sie nur als Unterdrücker kennen, richten | |
Steuereintreiber und Bürgermeister hin. Als ein Richter auf offener Straße | |
entführt wurde, habe die örtliche Bevölkerung „zufrieden“ reagiert, | |
berichtet ein Regisseur aus der Region. „Wenn derartiges passiert, höre ich | |
jedes Mal: ‚Das geschieht den Beamten recht!‘ “ | |
## Korruptheit der staatlichen Justiz | |
In dieser Atmosphäre sucht nun der Vorsitzende des Hohen Islamischen Rats | |
von Mali Pfade zum Dialog. Mahmoud Dicko, ein politisch agiler und religiös | |
gemäßigter Wahhabit, hat dafür zunächst die Koranschulleiter und | |
traditionellen Autoritäten der Region zu mehreren großen Versammlungen | |
geladen; 800 folgten dem Ruf. Sie haben dort, wo kein Staat mehr existiert, | |
den größten Einfluss und sollen für Dicko Kontakte zum Kern der | |
Dschihadisten herstellen. „Ich will Wege zum Dialog öffnen, indem ich | |
frage, was wir für die Region tun können.“ Womöglich könne jenseits der | |
staatlichen Justiz, unter deren Korruptheit besonders die Ärmsten leiden, | |
die Einsetzung von traditionellen islamischen Richtern (Kadis) befriedend | |
wirken. | |
„Wir müssen die Bevölkerung dazu bringen, aus dem Sog der Gewalt | |
herauszukommen“, sagt Dicko. „Aber wo ist die rote Linie, über die eine | |
Republik nicht hinausgehen darf? Das muss das Land, das Volk entscheiden.“ | |
Ein offizielles Mandat für seine Bemühungen hat er nicht. | |
Ein malischer General a. D., dem Westen freundlich zugetan, mit schönen | |
Erinnerungen an einen Lehrgang der Hamburger Führungsakademie der | |
Bundeswehr, beschreibt ein mögliches Szenario nach einem Abzug | |
ausländischer Truppen so: „Dann würden wir mit den Dschihadisten | |
verhandeln, und wenn sie islamisches Recht einführen wollen, werden wir | |
sehen, was genau das sein soll. Vielleicht ist es ja nicht schlecht. Die | |
Dschihadisten wollen eine saubere Gerichtsbarkeit und haben in manchen | |
Fragen recht.“ | |
Ob und wie verhandelt werden kann, muss auf jedem Schauplatz gesondert | |
bestimmt werden. Und niemand vermag vorherzusagen, wie groß die Chance auf | |
Erfolg ist. Es aber zumindest zu versuchen, dazu ermuntern zahlreiche | |
Experten. | |
## Keine Alternative zu Verhandlungen | |
„Man kann nicht alle Dschihadisten töten. Es gibt auch in Mali keine | |
Alternative zu Verhandlungen“, sagt die Leiterin des Berliner Zentrums für | |
internationale Friedenseinsätze, Almut Wieland-Karimi. Dass dies | |
zuallererst eine Entscheidung der Malier sei, meint nun immerhin auch das | |
Auswärtige Amt. | |
Zwölf Forscher aus Mali, Senegal, den USA und Frankreich warnten jüngst die | |
französische Regierung, sie drohe mit ihrer Blockade von Dialogversuchen | |
„auf der falschen Seite der Geschichte“ zu stehen. Das militärische | |
Vorgehen sei einem politischen Ziel unterzuordnen, über das die | |
Gesellschaften des Sahel bestimmen müssten. | |
Bei der Bekämpfung des Terrors nationale Souveränität wiederzuerlangen, | |
danach rufen nun auch Intellektuelle der Region, etwa Moussa Tchangari, der | |
im nigrischen Niamey die „Alternative Espaces Citoyens“ leitet. In Mali, | |
Niger und Nigeria seien Verhandlungen mit Dschihadisten immer dann zulässig | |
gewesen, wenn sie der Freilassung westlicher Geiseln dienten. Dies zeige, | |
wie sehr „die Entscheidung über Dialog oder Krieg von den Interessen der | |
großen Mächte des Westens dominiert“ sei. In der Tat: Frankreichs | |
Außenminister Jean-Yves Le Drian antwortete in einer derartigen Situation | |
einmal auf die Frage, ob der berüchtigte Iyad Ag Ghali ein Terrorist sei, | |
ganz behutsam: „Es liegt an ihm selbst zu sagen, als was er sich | |
betrachtet.“ | |
Für die Forderung ihrer Bürger nach mehr nationaler Eigenständigkeit sind | |
die Regierenden in Mali wie in Niger bisher schlechte Bündnispartner: weil | |
ausländische Militärpräsenz ihre Macht stärkt und aufgeblähte | |
Verteidigungsbudgets Einnahmen aus Korruption sichern. Der bitterarme Niger | |
gibt 15 Prozent seines Haushalts für Militärisches aus – und erlaubt nun | |
den USA, von einer neuen Basis aus erstmals Killerdrohnen in die Sahara zu | |
schicken. | |
Dieser Text erschien im April 2018 in LMd | |
30 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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