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# taz.de -- 20 Jahre Nagelbombenanschlag in Köln: Ein Staat entschuldigt sich
> 2004 zündete der NSU in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe. 20 Jahre
> später sind Schmerz und Enttäuschung Teil des Gedenkens.
Bild: Vor ihrem Friseurgeschäft explodierte die Bombe: Hasan und Özcan Yildir…
Köln taz | Deutlich war die Entschuldigung von Bundespräsident Frank-Walter
Steinmeier (SPD) am 20. Jahrestag des mörderischen Nagelbombenanschlags: Er
sei an den Anschlagsort gekommen, um „die Geschichten und den Schmerz
derjenigen zu sehen, die heute vor 20 Jahren hier schwer an Leib und Seele
verletzt und dazu auch noch zu Unrecht verdächtigt wurden“, erklärte das
Staatsoberhaupt in der Kölner Keupstraße, wo die Terroristen des
[1][rechtsextremen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)] 2004 ihre
Bombe zündeten.
Ein Sprengstoff-Fehlalarm hatte Steinmeiers Rede um mehr als eine Stunde
verzögert. Auch Nordrhein-Westfalens CDU-Regierungschef Hendrik Wüst (CDU)
war am Sonntag in der Keupstraße. Er hatte die Betroffenen schon am Samstag
in einem [2][Gastbeitrag im Kölner Stadt-Anzeiger] und in der türkischen
Zeitung Hürriyet um Entschuldigung gebeten. Sie seien „fälschlicherweise
selbst ins Visier der Ermittlungen“ geraten und Opfer von „Vorverurteilung
und Diffamierung“ geworden.
Denn mörderisch war nicht nur die in einem Koffer versteckte, auf einem
Fahrrad befestigte Bombe, die die Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am
9. Juni 2004 in der Keupstraße platzierten. Sie war mit 5,5 Kilo
Sprengstoff und 800 etwa 10 Zentimeter langen Zimmermannsnägeln gefüllt,
die möglichst viele Menschen verletzen sollten. Um 15.56 Uhr, mitten in der
Hauptgeschäftszeit der durch Dutzende türkische Restaurants, Bäckereien,
Juweliere, Friseure, Reisebüros geprägten Straße, betätigten die
Terroristen den ferngesteuerten Zünder. 22 Menschen wurden verletzt, vier
schwer.
Was dem Neonaziattentat folgte, war ein massives Behördenversagen. In
Richtung rechtsextremen Terrors wurde nicht ermittelt. Stattdessen nahm die
Polizei die migrantische Community selbst ins Visier, vermutete etwa einen
Racheakt, Streit unter Drogenhändlern oder Schutzgelderpressung als Motiv.
## Massives Behördenversagen
„Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben,
deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein
kriminelles Milieu“, erklärte der damalige [3][Bundesinnenminister Otto
Schily (SPD)] schon einen Tag nach dem Anschlag. Einen Teil der politischen
Verantwortung für die völlig fehlgeleiteten Ermittlungen übernahm Schily
erst 2013 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags.
Sichtbar wurde [4][dieses Behördenversagen], das auch der NSU-Prozess und
der Untersuchungsausschuss des Bundestags nicht vollständig aufarbeiten
konnten, erst 2011 mit dem spektakulären Ende des NSU: Am Schluss ihrer
Terrorserie, die zehn Menschenleben forderte, begingen Mundlos und
Böhnhardt nach einem gescheiterten Raubüberfall Suizid. [5][Mittäterin
Beate Zschäpe] sprengte die letzte konspirative Wohnung in Zwickau in die
Luft. Im Schutt fanden sich zynische Bekennervideos.
Vorausgegangen waren sieben Jahre der Täter-Opfer-Umkehr: „Wir standen
unter dem Generalverdacht, dass wir alle kriminell sind“, erinnert sich
Meral Sahin, Sprecherin der Interessengemeinschaft Keupstraße. „Als wir
Hilfe brauchten, waren wir allein“, sagt die heute 53-Jährige, die bei der
Explosion der Bombe 100 Meter entfernt war. „Ich selbst habe sofort nach
dem Anschlag gedacht, dass die Täter nur Rechtsradikale sein können.“
20 Jahre nach dem Terror haben nun am Wochenende Tausende mit dem
[6][Gedenkfest Birlikte] an den menschenverachtenden Anschlag erinnert.
„Zusammen“ und „gemeinsam“ bedeutet das. Doch der Schmerz, die Enttäus…
über die Gleichgültigkeit und das Misstrauen, womit die weiße
Mehrheitsgesellschaft auf den Neonaziterror reagierten, spiegelten sich
auch im Birlikte-Programm. Neben Musik von Klezmer bis Rock erinnerten
Theater, Lesungen, Diskussionen immer wieder an Diskriminierung und
Rassismus.
## „Nicht mehr sicher“
Beim Publikumsgespräch „Vergessen ist keine Option“ etwa sprachen Semiya
Şimşek und Gamze Kubaşık, Töchter der vom NSU in Nürnberg und Dortmund
ermordeten [7][Enver Şimşek] und [8][Mehmet Kubaşık], über die Ignoranz und
Faschbeschuldigungen, womit die Ermittelnden die NSU-Opfer in der ganzen
Bundesrepublik überzogen.
„So einen Tag wie den 9. Juni 2004 vergisst man sein Leben lang nicht“,
erklärte in der Talkrunde „Kollektive Traumata und ihre Bewältigung“ der
Psychologe Ali Kemal Gün. Schon die mörderischen Brandanschläge auf
türkischstämmige Familien in Mölln und Solingen 1992 und 1993 hätten die
Community in einen „kollektiven Zustand der Angst“ versetzt. „Es
verbreitete sich das Gefühl: Wir sind in Deutschland nicht mehr sicher“,
sagte Gün, der auch Integrationsbeauftragter des Landschaftsverbands
Rheinland ist.
In Köln habe das Vorgehen der Polizei zusätzlich noch zu einer
Retraumatisierung nicht nur der Anwohner:innen der Keupstraße geführt,
analysierte der Psychologe: „Jeder konnte verdächtig sein“, beschrieb Gün
die Taktik der Ermittler – und klagte: „Teilweise wurden die Menschen
zwischen 2 und 4 Uhr nachts zu Verhören geholt.“
Tatsächlich sind die Kriminalisierung, die Stigmatisierung bis heute
spürbar. „Die Menschen haben jahrelang geschwiegen, weil sie
Repressionen, Verhöre durch die Polizei fürchteten“, sagt der [9][Rapper
Kutlu Yurtseven von der Kölner Microphone Mafia]. Wie viele misstraut der
Rapper, der mit der Holocaustüberlebenden Esther Bejarano durch Deutschland
getourt ist, der offiziellen Erzählung über den NSU.
## Eine weitere Verhöhnung
Yurtseven erinnert an die noch immer nicht vollständig ermittelten
Hintermänner, die rund 40 V-Leute, die sieben Sicherheitsbehörden im Umfeld
der Rechtsextremen platziert hatten, an die vom Verfassungsschutz
geschredderten Akten. Heute kämpft Yurtseven mit der Initiative Herkesin
Meydanı – Platz für alle – für einen Erinnerungsort, der am Eingang der
Keupstraße an den mörderischen Anschlag erinnern soll.
Den Bau eines Mahnmals hat der Stadtrat schon 2014 beschlossen – doch
entstanden ist es bis heute, 20 Jahre nach dem Terror, nicht. Eine weitere
Verhöhnung, eine „nachträgliche Erniedrigung“ der gesamten migrantischen
Community sei das, findet nicht nur Yurtseven.
Lange habe eine erste Investorengruppe den Bau des Mahnmals verhindert,
erklärt der Berliner Künstler Ulf Aminde, dessen Entwurf für einen
interaktiven Gedächtnisort sich schon 2016 durchsetzte. Jetzt solle
ausgerechnet der als Erinnerungsort ausgewählte Platz am Eingang der
Keupstraße, mit direktem Blick auf den Ort des Attentats als Einfahrt einer
Großbaustelle dienen. [10][„Deshalb ist weiter völlig unklar, wann das
Mahnmal gebaut wird“], sagt Aminde ernüchtert. „Das ist definitiv ein
Skandal.“
9 Jun 2024
## LINKS
[1] /Nationalsozialistischer-Untergrund-NSU/!t5020499
[2] https://www.ksta.de/dpa-nrw/wuest-bittet-bewohner-der-koelner-keupstrasse-u…
[3] /Opferanwalt-ueber-NSU-Prozess/!5024152
[4] /Verfassungsschutzchef-ueber-NSU-Terror/!5809818
[5] /Analyse-der-NSU-Urteilsgruende/!5678676
[6] http://keupstrasse-ist-ueberall.de/birlikte-2024-das-programm-von-und-mit-i…
[7] /NSU-Terror-in-Bayern/!5848880
[8] /NSU-Dokumentationszentrum-in-Chemnitz/!6005197
[9] /70-Jahre-nach-dem-Tag-der-Befreiung/!5009478
[10] /Kuenstler-zu-Zoff-ums-Keupstrassen-Mahnmal/!6015756
## AUTOREN
Andreas Wyputta
## TAGS
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