Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Selbstversuch im Chor-Projekt: Laut singen ist krass
> Zum One-Day-Chor in Bremen treffen sich fremde Menschen, um miteinander
> zu singen: genau ein Mal und ohne Publikum. Unsere Autorin macht mit.
Bild: Kinder sind da weniger gehemmt: Singen in der Öffentlichkeit
Wie war das nochmal mit Sopran, Alt und Tenor? In der Mail, die wir
bekommen haben, sollten wir uns einer von sechs Stimmen zuordnen. Ich
entscheide mich für den zweiten Sopran und hoffe, dass ich damit halbwegs
richtig liege.
Ich bin auf dem Weg zu einem One-Day-Chor, der von brynja, dem
„Fitnessstudio für die Psyche“ organisiert wird. Das letzte Mal vor
Menschen gesungen habe ich in der 7. Klasse bei einer Schulaufführung von
„Cats“. Jetzt singe ich nur noch vor meinem Kind und selbst das schlägt mir
regelmäßig vor, lieber damit aufzuhören. Laut singen finde ich krass.
Das Gute am Chor ist ja eigentlich, dass man sich an anderen orientieren
kann. Man kann perfekt heimlich in der Masse untergehen. Und das ist auch
mein Plan für heute.
Das Prinzip des One-Day-Chors kommt aus New York. Die Idee dahinter:
Menschen, die einander nicht kennen, kommen für wenige Stunden zusammen und
singen einen Song, den sie vorher nicht geübt haben. Einige Videos von
diesen Chören gingen viral: Sehr unterschiedliche Menschen laufen durch
einen Keller und singen dabei „Creep“ in perfekter Harmonie.
Wir treffen uns nicht in einem Keller, sondern weit im Bremer Osten: im
Veranstaltungsraum des Bremer [1][Krankenhausmuseums Kulturambulanz]. Ich
kenne tatsächlich keine der 50 Personen, was in einem Dorf wie Bremen schon
ungewöhnlich ist. Wir singen „Take me to church“ von dem irischen
Songwriter Hozier. Lene, die Chorleiterin, betont immer wieder, dass es
nicht darauf ankomme, perfekt zu klingen. Wichtig sei nur, dass wir es
fühlen – und ich fühle: Stress. Ich weiß, dass ich nicht gut singe.
Außerdem bemerke ich gerade, dass ich wohl vergessen habe, wie man Noten
liest.
Mir fällt ein, dass ich selbst meine engsten Freund*innen noch nie singen
gehört habe. Wann haben wir eigentlich damit aufgehört? Ich denke an mein
Kind, das in einem vollen Supermarkt ein ungefragtes Konzert von der „Eule
mit der Beule“ gibt, inklusive Choreo. Meinem Kind ist egal, ob es schief
oder den falschen Text singt. Es denkt gar nicht darüber nach. Es singt,
weil es eben Spaß macht. Weil es sich gerade danach fühlt. Wann ist Singen
zu etwas geworden, wofür man sich schämt?
Ich starre auf die Noten und hege den Verdacht, dass es was mit unserer
Leistungsgesellschaft und der Angst vorm Unperfekten – Singen ist nur
erlaubt, wenn man es perfekt beherrscht und damit auch Geld verdient –, zu
tun hat, aber ich habe keine Zeit, diese These auszuformulieren. Es geht
nämlich direkt los: „Wir starten im 16. Takt“, sagt Lene. Ich fühle schon
wieder: Stress. Wie finde ich den 16. Takt?
Wir sollen jetzt wirklich singen. Jan begleitet uns auf einem Klavier. Wir
wiederholen immer wieder einzelne Stellen. Nach zwei Stunden kommt ein
Schlagzeug dazu. Ich merke, dass ich immer lauter werde und aus Versehen
mit den Menschen um mich herum im Takt hin und her wippe. Mir ist noch nie
aufgefallen, [2][wie schön „Take me to church“] ist. Und dann nach fast
drei Stunden die Belohnung: Wir singen den ganzen Song mehrmals
hintereinander am Stück, mit Klavier und Schlagzeug. Ich denke schon lange
nicht mehr darüber nach, dass ich ja eigentlich gar nicht singen kann. Ist
ja auch egal, zusammen klingen wir nämlich fantastisch.
„Es war richtig schön, neben dir zu singen“, sagt eine Person, deren Name
ich nicht kenne. Dafür kenne ich etwas viel Intimeres von ihr: Ich weiß,
wie sie singt. „Braucht ihr eine Mitfahrgelegenheit?“ Ich nicht, ich bin
mit dem Fahrrad gekommen. Auf dem Weg höre ich mir die Aufnahme von eben an
und danach noch mal das Original. Wir klingen viel geiler, finde ich.
Es ist spät und ich fahre durch ein verlassenes Industriegebiet. Seit
Langem hatte ich auf dem Heimweg keine Angst mehr, doch jetzt merke ich,
dass ich mich nicht sicher fühle. Ich fahre schneller. Was macht mein Kind
noch mal, wenn wir durch den dunklen Keller müssen? Ich wage das Verbotene:
Ich singe laut und schief. „I’ll tell you my sins and you can sharpen your
knife!“ Und ich fühle: mich frei.
25 Dec 2025
## LINKS
[1] /Ausstellung-am-Klinikum-Bremen-Ost/!5524435
[2] https://www.youtube.com/watch?v=PVjiKRfKpPI
## AUTOREN
Amanda Böhm
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
Kolumne Großraumdisco
Chor
Alltag
zeitgenössische Fotografie
Psychiatrie
Down-Syndrom
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausstellung „Die Ruhe vor dem Sturm“: Unter Bio-Menschen
Die Bremer Kulturambulanz zeigt eine Porträtausstellung alternder Menschen.
Dabei gelingt es, mit Naturbildern über Gesellschaft nachzudenken.
Ausstellung am Klinikum Bremen-Ost: Kunst statt Diagnosen
Die Kulturambulanz am Klinikum Ost zeigt Outsider-Art aus der Sammlung von
Hartmut Kraft. Dieser stellt diese Woche sein Buch über die Kunst von
Psychiatrisierten vor.
Ausstellung über Trisomie 21: Glotzt nicht so freundlich
Die Galerie im Park setzt sich in der Ausstellung „Touchdown“ mit der
Geschichte und der Ausgrenzung durch das Down-Syndroms auseinander
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.