| # taz.de -- Marko Martin über Europas Osten: „Unser Friedensbegriff ist verw… | |
| > Osteuropa kann uns viel lehren, sagt der Schriftsteller Marko Martin. | |
| > Über echten Frieden und über Resilienz gegenüber totalitären Bedrohungen. | |
| Bild: Schüler:innen protestieren in Berlin gegen die Wiedereinführung der Weh… | |
| taz: Herr Martin, Sie werden mit dem diesjährigen Werner-Schulz-Preis | |
| geehrt, der herausragendes Engagement für Demokratie und Menschenrechte | |
| würdigt. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung? | |
| Marko Martin: Sehr viel. Vor allem in Anerkennung dessen, was Werner Schulz | |
| geleistet hat: Dass er in der DDR in der Opposition war und danach nicht | |
| dabei stehen geblieben ist, um nach 1989 zum Archivar seiner eigenen | |
| Erinnerungen zu werden. Stattdessen hat sich Schulz bei den Bündnisgrünen | |
| für Menschenrechte eingesetzt. Für ihn waren Menschenrechte universell und | |
| Osteuropa und die osteuropäische Vergangenheit keineswegs „exotisch und | |
| peripher“. Auch für das Gegenwartsrelevante des dortigen Geschehens hatte | |
| er immer ein waches Auge. | |
| taz: Haben Sie Werner Schulz persönlich kennen gelernt? | |
| Martin: Leider nicht. Aber ich habe seine Arbeit im Europäischen Parlament | |
| verfolgt. Auch erinnere ich mich an einen Text, eine kluge und gelassene | |
| Entgegnung auf die mitunter arg DDR-nostalgische Journalistin Jana Hensel: | |
| Da beschrieb er DDR-Erfahrungen auf denkbar komplexe Weise und basierend | |
| auf Fakten, ohne jegliches rhetorisches Auftrumpfen. Ich bedauere deshalb | |
| sehr, dass er publizistisch nicht präsenter war. | |
| taz: Die Entwicklungen in Osteuropa lagen Schulz besonders am Herzen. Immer | |
| wieder hat er auch vor Russland gewarnt. Hätten wir ihm besser zuhören | |
| müssen? | |
| Martin: Auf jeden Fall. Es gab ja bei den eher linken Grünen oft die | |
| Tendenz, „die Ostler“ mehr oder minder paternalistisch-[1][verächtlich in | |
| die Nostalgieecke zu stellen] oder ihnen gar zu bescheinigen, sie hätten | |
| einen „Kalter-Krieg-Knacks“. Was diese vermeintlich souveränen Realisten in | |
| der Mental Map ihrer Milieu-Bubble, aber auch des Landes angerichtet haben, | |
| sieht man ja. Man wollte einfach die Kontinuität des Kreml-Expansionismus | |
| nicht wahrhaben. Wenn es jedoch wirklich harte Kritik am | |
| menschenverachtenden System des Wladimir Putin gab, kam diese ebenfalls von | |
| den Grünen. Darüber hinaus haben sie seit 2022 einen ungeheuren Lernprozess | |
| hingelegt. Heute lautet die plausible Schlussforderung: Menschenrechte und | |
| Zivilgesellschaften müssen geschützt werden, was nicht allein mit zivilen | |
| Mitteln möglich ist. Deshalb geht mir auch dieses plumpe Grünen-Bashing von | |
| rechts und links ziemlich auf den Sack. | |
| taz: Auch heute mangelt es nicht an Stimmen, die vor Russland warnen, so | |
| aus Lettland, Estland und Litauen. Warum dringen diese Stimmen kaum durch? | |
| Martin: Bei dem Blick auf den Kommunismus und Stalinismus hat die gesamte | |
| westeuropäische Erinnerungspolitik noch immer einen riesigen blinden Fleck. | |
| Was nach 1917 ins Werk gesetzt wurde, war die Schaffung eines homo | |
| sovieticus, des perfekten gehorsamen Objekts. Das ist eigentlich der | |
| feuchte Traum eines jeden Rechtsradikalen. Wer das weiterhin nicht auf dem | |
| Schirm hat, wird nicht begreifen, aus welchem Loch der Ex-KGBler Wladimir | |
| Putin gekrochen ist. Das ist eine verweigerte Wahrnehmung, denn im 20. | |
| Jahrhundert waren Kommunismus und Nationalsozialismus zwei konkurrierende | |
| totalitäre Bewegungen. Diese Nichtwahrnehmung trägt Früchte: Die | |
| Tiefenschichten dessen, was heute in Putins Russland passiert, werden nach | |
| wie vor unterschätzt. | |
| taz: Birgt diese Argumentation nicht die Gefahr, die Menschheitsverbrechen | |
| des Nationalsozialismus zu relativieren? | |
| Martin: Da würde ich gern an eines erinnern: Diejenigen, die vor dieser | |
| selektiven Wahrnehmung der Menschenrechte lebenslang gewarnt haben, waren | |
| vor allem säkulare jüdische Intellektuelle – Menschen wie Manés Sperber und | |
| Hannah Arendt oder meine alten Freunde André Glucksmann und Ralph Giordano. | |
| Sie alle hatten ein feines Gespür dafür, wie diese beiden Systeme | |
| ineinandergegriffen haben. Nach 1945 hat es eben keinen Nürnberger Prozess | |
| über die Verbrechen des Stalinismus gegeben. Stattdessen konnten sich die | |
| Massenmörder aus der Geschichte herausschleichen, hochdekoriert. Und sie | |
| konnten ihr Gift über Jahrzehnte hinweg weiter verbreiten. Das ist keine | |
| akademische Debatte – es geht um die fortgesetzte Nichtanerkennung solcher | |
| Realitäten. Etwa wenn heute viele meinen, der Kalte Krieg sei vorbei und | |
| Putin wolle keinesfalls die Sowjetunion wieder errichten. Also all das, was | |
| wir von den Chrupallas, Stegners, Mützenichs, Höckes und Prantls hören. Die | |
| Basis dafür ist ein selbstgewähltes, aggressives Nichtwissenwollen. | |
| taz: In diesen Tagen sind Verhandlungen, um [2][den Krieg in der Ukraine zu | |
| beenden], ein zentrales Thema. Der Kreml beharrt auf seinen | |
| Maximalforderungen. Sind diplomatische Bemühungen da überhaupt sinnvoll? | |
| Martin: Unser Friedensbegriff ist derart verwässert, dass wir immer wieder | |
| in die Rhetorikfalle der Täter tappen. Dabei bedeutet dieses Wort für sie | |
| lediglich Friedhofsfrieden sowie die Durchsetzung und Akzeptanz der | |
| Aggressionen, die sie begonnen haben. Weshalb verfallen hier viele in eine | |
| freudige, ja geradezu hysterische Erwartungshaltung, sobald ein Aggressor | |
| das Wort Frieden in den Mund nimmt? Ich halte es für fatal, dass der | |
| Begriff Frieden völlig von den Ideen der Gerechtigkeit, Wehrhaftigkeit und | |
| Nachhaltigkeit entkoppelt worden ist. Wer Frieden als höchstes Gut | |
| betrachtet, müsste sich doch fragen, wie dieser Frieden bewahrt werden | |
| könne. Indem man den Forderungen von Aggressoren nachgibt? Sicher nicht. | |
| taz: Russlands Angriffskrieg geht in das vierte Jahr, jeden Tag sterben | |
| Menschen. Angesichts der massiven Angriffe auf die kritische Infrastruktur | |
| wissen die Ukrainer nicht, wie sie den Winter überstehen sollen. Was wäre | |
| die Alternative zur Diplomatie? | |
| Martin: Die Ukraine militärisch stärker zu unterstützen und die Freigabe | |
| russischer Milliarden. Wahrscheinlich wird die Ukraine territoriale | |
| Kompromisse eingehen müssen. Diese können freilich nie aus einer Position | |
| der Schwäche heraus ausgehandelt werden. Weshalb sollte der Aggressor sich | |
| auf irgendetwas einlassen, wenn er das Gleiche auch ohne eigene | |
| Zugeständnisse erreichen kann? Um solidarisch mit der Ukraine zu sein, | |
| braucht man sich übrigens nicht in ukrainische Kleider zu wanden und | |
| ukrainisch kochen zu lernen. Diesem leichten Hang zum folkloristischem | |
| Verkitschen stehe ich kritisch gegenüber. Man muss die Ukraine keineswegs | |
| idealisieren, um sich dafür einzusetzen, dass sie alle notwendige | |
| militärische Hilfe vom Westen erhält, um nicht zuletzt auch ihre | |
| Zivilgesellschaft zu verteidigen. Aber ehrlich gesagt: Ich bin weder | |
| Militär- noch Osteuropaexperte, sondern lediglich ein Schriftsteller mit | |
| großem Interesse an den Geschehnissen unserer Zeit. | |
| taz: Was beobachten Sie da? | |
| Martin: Ich frage mich, was geht in deutschen Köpfen vor, sobald | |
| Massenmörder das Wort Frieden kapern. Das treibt auch die ukrainische Seite | |
| um, ich denke da an Autoren wie Jurij Andruchowitsch, Serhij Zhadan oder | |
| Andrij Lybka. In meinem jüngsten Buch „Freiheitsaufgaben“ geht es genau | |
| darum: Wie ist es um den Friedensbegriff der deutschen Öffentlichkeit | |
| bestellt, in Ost und West, und was könnten uns osteuropäische Erfahrungen | |
| lehren? | |
| taz: Derzeit scheint es nicht wenige Menschen im Osten Deutschlands zu | |
| geben, die Verständnis für Russland aufbringen und das mit ihrer | |
| DDR-Vergangenheit begründen. | |
| Martin: Mit einer dreist behaupteten „Friedenssensibilität“ lassen sich | |
| naive Menschen in Westdeutschland perfekt ködern. Ich habe mich allerdings | |
| damals in der DDR als Kriegsdiensttotalverweigerer keineswegs von | |
| Pazifisten umzingelt gefühlt, sondern von jenen, die willig mitgemacht | |
| haben. Diejenigen, die in der DDR den Kriegsdienst verweigerten und sich | |
| zum Teil in der Opposition einer Militarisierung an DDR-Schulen | |
| entgegenstellten, waren allein auf weiter Flur. Das sind sie heute wieder, | |
| wenn sie sich für eine starke Unterstützung der angegriffenen Ukraine | |
| einsetzen. Auch die angebliche „Russlandkompetenz des Ostens“ ist eher ein | |
| durchsichtiger Trick, um den Westen zu verblüffen: Wir haben zumindest | |
| etwas, was ihr nicht habt. Aber auch das ist eine Geschichtslüge. Hinzu | |
| kommt noch die Psychokiste: Man freut sich, dass Putin dem Westen „Contra | |
| gibt“, fühlt man sich als angeblich gedemütigter Ostdeutscher doch vom | |
| Westen ebenfalls schlecht behandelt. Also über drei Ecken gedacht: | |
| Unterstützen wir Putin zumindest rhetorisch. Das ist das Gebräu, aus dem | |
| Wählerstimmen werden – für die AfD, das BSW und zu gewissen Teilen auch für | |
| die Linkspartei. | |
| taz: Gerade diskutiert Deutschland darüber die Wehrpflicht wieder | |
| einzuführen. Am vergangenen Freitag haben tausende Schüler landesweit gegen | |
| derartige Pläne demonstriert. Was würden Sie ihnen entgegnen? | |
| Martin: Ich habe den Kriegsdienst in der DDR nicht aus pazifistischen | |
| Gründen verweigert. Mein Impuls war, dass man eine Diktatur nicht | |
| unterstützen sollte, schon gar nicht militärisch. Heute fehlt hierzulande | |
| bei vielen das Bewusstsein, was wir alles zu verteidigen haben: | |
| Zivilgesellschaft, Minderheitenrechte, Klimasensibilität. Absolut | |
| existentiell ist etwa die Frage, ob man dafür demonstrieren kann oder in | |
| einem Lager landet. Letzteres ist russische Realität. Ich würde den | |
| Schülern deshalb raten, sich anzusehen, wie ihre Altersgenossen woanders | |
| behandelt, geschlagen und gefoltert werden. Natürlich wäre es dann an jedem | |
| selbst, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. | |
| taz: Werden wir von Ihnen bald etwas Neues lesen, vielleicht über die | |
| Ukraine? | |
| Martin: Eher nicht. Ich bin ja kein Alles-Erklärer, der Rundum-Kompetenz | |
| beansprucht. Osteuropa ist nicht wirklich meine Seelenlandschaft. Was mich | |
| jedoch am Osten beeindruckt, sind die dortigen ungemein hellwachen | |
| Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die Oppositionsbewegungen und die | |
| Zivilgesellschaft. Vor allem diese ungeheure Renitenz und [3][Resilienz | |
| gegenüber totalitären Bedrohungen] – das hat mich angefixt, dieser Mut und | |
| gleichzeitig diese gedankliche Klarheit. Ich halte es deshalb für einen | |
| fortgesetzten Verrat weiter Teile des Westens, diesen Mut nicht | |
| wahrzunehmen und wertzuschätzen. Was Osteuropa als Spiegel westlicher | |
| Ignoranz und Gedankenbequemlichkeit leistet, ist gar nicht zu überschätzen. | |
| Der wache Teil Osteuropas weiß genau, was auf dem Spiel steht. Das könnte | |
| auch dem Westen helfen, sich gegen gewalttätige Bedrohungen von innen und | |
| außen besser zu wappnen. | |
| 14 Dec 2025 | |
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| Barbara Oertel | |
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