| # taz.de -- Gesundheitsschutz nach Corona: „Die Pandemie müssen wir nicht me… | |
| > Der Frankfurter Gesundheitsamtsleiter Peter Tinnemann erklärt, was die | |
| > Behörden aus der Coronapandemie gelernt haben und wie sie sich für | |
| > künftige Krisen aufstellen. | |
| Bild: Peter Tinnemann, Leiter des Frankfurter Gesundheitsamts, wird auch als Sa… | |
| taz: Herr Tinnemann, welche Art von Zäsur war die Corona-Pandemie im Leben | |
| eines Bevölkerungsmediziners? | |
| Peter Tinnemann: Ganz viele von uns hatten sich schon auf ein solches | |
| Szenario vorbereitet. In allen Gesundheitsämtern des Landes lagen | |
| Pandemiepläne in der Schublade. | |
| taz: Aber Hand aufs Herz: Die lagen doch in der untersten Schublade ganz | |
| hinten, oder? | |
| Tinnemann: Und wahrscheinlich hat sie auch keiner rausgeholt. SARS-CoV-2 | |
| war dann doch neu: Ein Virus, das niemand kannte und einschätzen konnte. | |
| Und anfangs gab es keine Immunität dagegen in der Bevölkerung. Natürlich | |
| haben wir unsere Standardmaßnahmen zur Eindämmung eines Virus, das über die | |
| Atemwege übertragen wird: Abstand halten, Quarantäne, Isolation. Doch wir | |
| wussten zu Beginn der Pandemie weder, ab wann genau Infizierte ansteckend | |
| sind, noch wie lange, noch wie schwerwiegend die Menschen erkranken. | |
| taz: Das Wort Kontaktpersonennachverfolgung haben wir auch gelernt in der | |
| Pandemie. | |
| Tinnemann: Normalerweise ist bei uns im Amt ein Team von drei oder vier | |
| Leuten verantwortlich, einen Ausbruch zu bearbeiten – bei Noroviren zum | |
| Beispiel. Aber in der Pandemie brauchten wir ganz viele Mitarbeitende, um | |
| ganz viele potenzielle Kontakte anzurufen. Das waren dann nicht nur die | |
| Kolleginnen aus der Abteilung für Infektiologie, sondern alle im Amt waren | |
| eingebunden. | |
| taz: Und als das nicht reichte, kam noch die Bundeswehr dazu. Die | |
| [1][Gesundheitsämter galten als heillos überfordert]. | |
| Tinnemann: Da waren wir aber auch ein bisschen der Sündenbock für die | |
| fehlende Digitalisierung der Behörden, die ja die gesamte Verwaltung in | |
| Deutschland betrifft. Wenn wir da schon bessere Tools gehabt hätten, dann | |
| hätten wir sicher effizienter arbeiten können. Aber es gibt innerhalb einer | |
| Pandemie auch den Punkt, ab dem eine Kontaktnachverfolgung einfach nicht | |
| mehr zielführend ist. In der Omikron-Phase hatten wir bis zu 5.000 | |
| Meldungen am Tag, und es gab immer noch die Erwartung, wir würden alle | |
| Kontakte bearbeiten. Das macht dann doch gar keinen Sinn mehr, da müssen | |
| dann Maßnahmen greifen, die vor allem die Risikogruppen schützen oder die | |
| versuchen, negative Auswirkung auf die Bevölkerung zu verhindern. Die Frage | |
| ist, auch im Nachhinein, wann genau hätten wir in diese anderen Phasen der | |
| Pandemiebekämpfung eintreten müssen. | |
| taz: Für diese und andere Fragen [2][gibt es die Corona-Enquetekommission]. | |
| Aktuell geht es dort darum, wie wir für die nächste Krise aufgestellt sind, | |
| Sie werden als Sachverständiger angehört. Liegen denn jetzt die | |
| Pandemiepläne im Gesundheitsamt in der obersten Schublade und werden | |
| regelmäßig erprobt? | |
| Tinnemann: Also ich glaube, die Pandemie müssen wir nicht mehr üben, da | |
| sind alle in den Gesundheitsämtern für die nächsten 5 bis 10 Jahre fit, was | |
| die grundsätzlichen Maßnahmen betrifft. Aber wir haben auch nicht für alles | |
| Krisenpläne und es kann immer wieder zu einer Überforderung des Systems | |
| kommen. Eine Krise ist letztlich ja immer eine Überforderung des Systems, | |
| sonst wäre es keine Krise. | |
| taz: Wofür brauchen wir dann die Aufarbeitung in der Kommission? | |
| Tinnemann: Meine Erwartung an die Kommission ist, dass sie einen Beitrag | |
| für ein gesellschaftliches Heilen leistet. Es sind noch immer so viele | |
| Menschen von unterschiedlichen Auswirkungen der Pandemie betroffen, deshalb | |
| müssen wir darüber sprechen, was damals passiert ist und auch darüber, was | |
| wir besser machen können. Ob die Enquetekommission das zu diesem Zeitpunkt | |
| gut hinbekommt? Das werden wir erst im Verlauf sehen. | |
| taz: Welche Rolle können Behörden wie die Gesundheitsämter für das | |
| gesellschaftliche Heilen spielen? | |
| Tinnemann: Wie Sie schon sagten, wir waren in der Zeit der Pandemie sehr | |
| präsent, bei vielen Maßnahmen, die das Leben von Menschen massiv betroffen | |
| haben. Sei es, Menschen in Quarantäne oder Isolation zu schicken oder die | |
| Verordnungen der Politik umzusetzen, die dazu geführt haben, Menschen nicht | |
| in Altenpflegeheime reinzulassen oder Schulen zu schließen. Diese Maßnahmen | |
| haben zum Beispiel dazu geführt, dass sich Menschen nicht von sterbenden | |
| Angehörigen verabschieden konnten. Das können wir nicht entschuldigen, aber | |
| wir müssen es noch einmal thematisieren, auf menschlicher Ebene darüber | |
| reden. Als Leiter eines Gesundheitsamtes versuche ich zu erklären, warum | |
| die Gesundheitsämter so gehandelt haben und was wir daraus lernen sollten. | |
| Und als Mensch versuche ich, diese Erklärungen menschlich zu | |
| transportieren. Das ist meine Beteiligung in dem jetzigen Prozess. Außerdem | |
| werde ich Rede und Antwort stehen für die Frage, ob wir es inzwischen | |
| geschafft haben, die Gesundheitsämter so auszustatten, dass sie in der | |
| Zukunft effizienter arbeiten können. | |
| taz: Und wie ist Ihre Antwort? | |
| Tinnemann: Was die Digitalisierung angeht, haben wir uns hier in Frankfurt | |
| neu erfunden, wir haben mit GA-Lotse ein Open-Source-Tool entwickeln | |
| lassen, das alle Ansprüche an eine moderne Software für Gesundheitsämter | |
| erfüllt. Auch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik hat | |
| uns bereits dafür ausgezeichnet. | |
| taz: Das ist ja jetzt schön für Frankfurt, aber Sie sind eines von fast 400 | |
| Gesundheitsämtern in Deutschland. War es nicht eines der Probleme in der | |
| Pandemie, dass überall andere Software verwendet wird? | |
| Tinnemann: Das ist leider immer noch so, aber wir haben mit dem | |
| Open-Source-Tool ja einen Gamechanger ins Spiel gebracht. Der Code ist | |
| bereits seit einem Jahr offen zugänglich auf opencode.de, auch die | |
| Weiterentwicklungen veröffentlichen wir regelmäßig. Eigentlich kann | |
| GA-Lotse von jedem Gesundheitsamt eingesetzt werden. Sie nehmen diesen Code | |
| kostenfrei und betreiben das System selbst. | |
| taz: Aber faktisch entscheiden die Gesundheitsämter relativ autonom, wie | |
| sie arbeiten. Für eine Vereinheitlichung ist das schwierig und für die | |
| Koordinierung in Krisen auch. | |
| Tinnemann: Aus meiner Sicht ist eine Balance zwischen Autonomie und | |
| zentraler Steuerung wichtig. In einer föderalen Republik ist das eine große | |
| Herausforderung. Aber da gibt es inzwischen Beispiele für moderne, | |
| dezentralisierte Führungsstrukturen. Wenn Sie mal an moderne Organisationen | |
| denken: Da sitzen nicht mehr die Vorstände um einen Tisch und entscheiden | |
| alles. Da wird die Richtung von oben bestimmt und die Ausgestaltung | |
| passiert in den kleinen Einheiten vor Ort. Manchmal brauchen wir die | |
| Frankfurter Mundart, die lokale Ansprache vor Ort – aber wir brauchen | |
| übergeordnet auch eine gemeinsame Richtung, in die wir gehen. Aktuell | |
| spiegelt sich das noch nicht wider in der Art und Weise, wie Behörden und | |
| Krisenmanagement funktionieren. | |
| taz: In der Pandemie ist [3][auch die Bundeswehr mit Personal | |
| eingesprungen]. Können wir darauf weiter bauen in Krisensituationen? | |
| Tinnemann: Ich höre aus Richtung der Bundeswehr, dass die vor dem | |
| Hintergrund der geopolitischen Sicherheitslage eher erwarten, dass die | |
| Gesundheitsämter in Zukunft der Bundeswehr helfen. Das ist ein | |
| Paradigmenwechsel, auf den wir uns vorbereiten müssen. Bei der Pandemie | |
| haben Soldaten bei uns mitgearbeitet. Das nächste Mal könnte es andersherum | |
| sein. Ich habe mich bereits auch mit Kollegen aus anderen Ländern | |
| ausgetauscht, wie die in Krisen zivile Führungsstruktur koordinieren. Das | |
| sind wir in den Gesundheitsämtern in Deutschland noch nicht gewohnt. | |
| taz: Sie arbeiten in einem der größten Gesundheitsämter Deutschlands. Sind | |
| die Ausstattung und die Möglichkeiten nicht ganz unterschiedlich? | |
| Tinnemann: Das Gefälle ist tatsächlich groß. Es gibt Gesundheitsämter mit | |
| 15 Mitarbeitern und welche mit über 300. Und deshalb können und müssen | |
| nicht alle Gesundheitsämter alles können – das ist ein falsches Bild, was | |
| wir in den letzten Jahren gehabt haben. Es gibt schon jetzt sogenannte | |
| Kompetenzzentren – hier in Frankfurt zum Beispiel das Kompetenzzentrum für | |
| hochpathogene Infektionserreger wie das Ebola-Virus. Wir müssen aber noch | |
| besser abstimmen, welche Strukturen für welche Arten von Krise wir in | |
| welchem Radius vorhalten müssen. | |
| taz: Die Pandemie rutscht trotz aller Spätfolgen aus dem Gedächtnis, es | |
| gibt auch eine Art Abwehr, sich damit zu beschäftigen. Wie lässt sich der | |
| Druck, für Krisen vorbereitet sein zu müssen, trotzdem aufrechterhalten? | |
| Tinnemann: In Frankfurt führen wir alle zwei Jahre Krankenhausübungen | |
| durch, das macht auch allen Spaß, die Abläufe zu trainieren und für den | |
| Notfall vorbereitet zu sein. Aber eben nur alle zwei Jahre. In Israel | |
| trainieren Krankenhäuser viermal im Jahr, und zwar unangekündigt und im | |
| Live-Betrieb. Das ist eine ganz andere Intensität. | |
| taz: Da ist eine mögliche Krise auch viel gegenwärtiger. | |
| Tinnemann: Ja, aber wollen wir warten, bis die Krise näher an uns | |
| herankommt? Wir müssen uns regelmäßig damit beschäftigen, wie wir unsere | |
| Einsatzbereitschaft in allen möglichen, auch trivialen Situationen | |
| aufrechterhalten: Wenn der Strom weg ist oder bei Blitzeis. Wir kommen | |
| nicht umhin, mehr für den Ernstfall zu üben. | |
| 1 Dec 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Manuela Heim | |
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