| # taz.de -- „Arbeitspflicht“ für junge Arbeitslose: Wenn um 7 Uhr morgens … | |
| > Der Landkreis Nordhausen will junge Bürgergeld-Empfänger in 1-Euro-Jobs | |
| > zwingen. Er reizt damit eine Option aus, die die Ampel geschaffen hat. | |
| Bild: Landrat Matthias Jendricke im Landratsamt in Nordhausen | |
| „Da habe ich totalen Bock drauf“, sagt René Kübler, als er am Telefon von | |
| den „Klingelpartys“ berichtet, die er in dieser Woche in Nordhausen | |
| (Thüringen) gestartet hat. Der Sozialpädagoge leitet dort den Verein | |
| Horizont. Seit Jahren werden in dessen Werkstätten [1][Langzeitarbeitslose] | |
| beschäftigt, die auf dem regulären Arbeitsmarkt kaum vermittelbar sind. Sie | |
| bauen dort Holzhütten, unter anderem für Weihnachtsmärkte. Seit Montag hat | |
| er 30 neue Klienten: junge Männer, die Bürgergeld beziehen und die das | |
| Jobcenter unter Androhung von Sanktionen zu ihm geschickt hat. | |
| „Ich habe eine klare Haltung: Ohne Konsequenzen geht es in der Pädagogik | |
| nicht“, sagt Kübler. Nur ein kleiner Teil der Neuen habe am ersten Tag | |
| pünktlich in den Werkstätten gestanden, die Fehlenden hätten Besuch | |
| bekommen: Pädagogen seines Vereins und Mitarbeiter des Ordnungsamts haben | |
| früh morgens bei ihnen geklingelt. „Bis Ende nächster Woche gehen wir denen | |
| um 7 Uhr auf den Keks.“ | |
| Am Dienstag seien zumindest schon 10 der Zwangsverpflichteten erschienen, | |
| aber 4 hätten sich krankgemeldet und 16 die Türen nicht geöffnet. „Wir | |
| bleiben dran. Wir klingeln weiter“, kündigt Kübler an. Wer auch bis | |
| nächsten Freitag nicht aufmacht, soll direkt die nächste Ladung ins | |
| Jobcenter bekommen. „[2][Das sind die alles nicht gewohnt. Das ist neu]“, | |
| sagt Kübler. Die Zeit sei reif für solche neue Saiten. Da passe zwischen | |
| ihn und seinen Landrat kein Blatt. | |
| Der Landrat heißt Matthias Jendricke und ist wie Kübler Sozialdemokrat. Das | |
| neue Projekt, das er zusammen mit dem Sozialpädagogen und dem örtlichen | |
| Jobcenter ersonnen hatte, machte er zu Wochenbeginn via Bild und Welt | |
| publik. Von einer „Arbeitspflicht für junge Bürgergeld-Empfänger“ schrie… | |
| die Zeitungen. | |
| Es geht um unter 25-Jährige, die keine Ausbildung machen, führte Jendricke | |
| aus. Sie würden nun in Maßnahmen gesteckt, in denen sie bis zu 40 Stunden | |
| arbeiten und zusätzlich zum Bürgergeld 1,20 Euro pro Stunde erhalten. | |
| ## Eine Idee der Ampel | |
| Der Landrat ließ sich dazu einerseits fürsorglich zitieren: „Wir dürfen die | |
| unter 25-Jährigen nicht aufgeben.“ Andererseits äußerte er sich aber auch | |
| hart: „Wir züchten eine Generation von Faulenzern“, sagte er über junge | |
| Bürgergeld-Empfänger, die bislang nicht hart genug angepackt würden. Steile | |
| Sätze, mit denen man es in der aktuellen Debatte über Verschärfungen bei | |
| der Grundsicherung auch als Landrat aus der Provinz in die Schlagzeilen | |
| schafft. | |
| Absolutes Neuland betreten die beiden SPD-Männer aus [3][Nordhausen] mit | |
| ihrem Projekt nicht, um eine rigorose Arbeitspflicht handelt es sich genau | |
| genommen auch nicht – das würden Verfassung und Gesetze nicht zulassen. In | |
| Nordhausen reizt man eher den Spielraum aus, den die Ampelkoalition kurz | |
| vor ihrem Aus geschaffen hat. | |
| Schon die Koalition aus SPD, Grünen und FDP brachte neue Härte zurück ins | |
| Bürgergeld. Eine letzte geplante Gesetzesänderung kam vor dem Ampelbruch | |
| nicht mehr zustande, aber eine Verschärfung setzte sie im Oktober 2024 noch | |
| durch eine neue Anweisung der Bundesagentur für Arbeit an die Jobcenter | |
| durch. | |
| Sie betraf die sogenannten 1-Euro-Jobs, im Fachjargon Arbeitsgelegenheiten, | |
| um die es nun auch in Nordhausen geht. Vereinfacht gesagt galt sie bis | |
| dahin als reine Fördermaßnahme, eine Art letztes Mittel für Personen, die | |
| zu einem normalen Job nicht imstande sind. Durch einfache Tätigkeiten in | |
| Werkstätten oder anderen Einrichtungen sollten sie ans Arbeitsleben | |
| rangeführt werden, wenn keine anderen Maßnahmen greifen – nach Möglichkeit | |
| freiwillig und ohne harte Sanktionsdrohungen. | |
| ## Strafe durch Arbeit | |
| In der neuen Weisung sind die 1-Euro Jobs aber auch für Personen | |
| vorgesehen, die wiederholt nicht zu Terminen im Jobcenter erscheinen oder | |
| die sich anderen Eingliederungsmaßnahmen verweigern. Salopp gesagt wurde | |
| eine neue Art der Sanktion geschaffen: Strafe durch Arbeit. | |
| Kommen Betroffene auch dem nicht nach, sind wie bei anderen Regelverstößen | |
| Kürzungen des Regelsatzes um zunächst 10 Prozent und im Wiederholungsfall | |
| bis zu 30 Prozent möglich. Das droht jetzt auch den jungen Männern in | |
| Nordhausen. | |
| In den vergangenen zwölf Monaten haben auch andere Jobcenter die neue | |
| Möglichkeit schon genutzt. Zahlen dazu gibt es nicht, direkt im letzten | |
| Herbst [4][kündigte aber unter anderem das Jobcenter Hamburg an], die | |
| Zielgruppe für die Arbeitsgelegenheiten „um die kleine Gruppe von Menschen | |
| zu erweitern, die eben nicht mitarbeiten“. | |
| ## Auch Sozialdemokraten unter den Kritikern | |
| Anderswo entschied man sich bewusst dagegen. Schwerin zum Beispiel geriet | |
| zu Jahresbeginn zwar ebenfalls mit der Nachricht in die Schlagzeilen, eine | |
| Arbeitspflicht für Bürgergeldempfänger einführen zu wollen. Grundlage dafür | |
| war eine entsprechende Aufforderung, die der Stadtrat mit den Stimmen von | |
| AfD und CDU an den Oberbürgermeister gerichtet hatte. Dieser solle ein | |
| Konzept dafür erarbeiten, Bürgergeld-Empfänger in 1-Euro-Jobs zu stecken. | |
| Bürgermeister Rico Badenschier ist ebenfalls Sozialdemokrat, hat zum Thema | |
| aber eine andere Haltung als seine Genossen in Nordhausen. Er ließ die | |
| Angelegenheit prüfen, tauschte sich mit Jobcenter, anderen Kommunen und dem | |
| Bundessozialministerium aus. Am Ende lehnte er den Vorschlag in einem | |
| Bericht ab. | |
| Aus anderen Kommunen werde berichtet, dass die Durchführung von | |
| Arbeitsgelegenheiten Ressourcen in den Jobcentern binde, die dann für | |
| sinnvollere Maßnahmen fehlten, heißt es darin unter anderem. Auch von | |
| Experten der Bundesagentur für Arbeit werde der Nutzen der 1-Euro-Jobs für | |
| die Integration in richtige Jobs als gering einschätzt, hieß es von | |
| Badenschier bei einer Pressekonferenz. Außerdem sei die „permanente | |
| Wiederholung der Forderung nach einer Arbeitspflicht dazu geeignet, | |
| Bürgergeldempfänger pauschal als arbeitsscheu zu stigmatisieren.“ An dieser | |
| Diskussion werde er sich nicht weiter beteiligen. | |
| ## „Fragwürdige“ Entscheidung | |
| Gestützt wird seine Argumentation von Praktikern aus den Jobcentern. In | |
| einer Stellungnahme für eine Bundestagsanhörung schrieb Moritz Duncker, | |
| Vorsitzender der Jobcenter-Personalräte: Zur Förderung „arbeitsmarktferner | |
| Leistungsberechtigter mit Vermittlungshemmnissen“ seien die | |
| Arbeitsgelegenheiten eigentlich ein „sehr wertvolles“ Instrument. Dass die | |
| Ampel dieses Werkzeug aber zur De-Facto-Sanktion umwandelte, sei | |
| „fragwürdig“: Die Mittel für die Maßnahmen seien ohnehin schon knapp. | |
| „Diese nun vorrangig für wenige unkooperative Leistungsberechtigte | |
| vorzusehen und sie damit denjenigen zu entziehen, die darauf dringend | |
| angewiesen sind und sich gerne in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft | |
| integrieren möchten, ist schlicht verantwortungslos“, schrieb Duncker. | |
| Entsprechend stößt jetzt auch das Nordhausener Projekt nicht nur auf | |
| Zustimmung. „Junge Menschen brauchen echte Perspektiven für gute | |
| Ausbildungen und sinnstiftende Tätigkeiten“, sagte auf taz-Anfrage Joachim | |
| Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Sanktionen | |
| und Zwang seien das Gegenteil davon: Sie führten häufig in Resignation und | |
| soziale Ausgrenzung statt in langfristige Beschäftigung. „Wer in politisch | |
| verantwortlicher Position pauschal einer ‚Generation von Faulenzern‘ | |
| spricht, hat jedes vernünftige Maß in der Debatte verloren.“ | |
| Zumindest indirekt ist der Paritätische mit dem Projekt in Nordhausen aber | |
| selbst verbandelt: Der Verein Horizont, bei dem Vorstand René Kübler seit | |
| Montag seine Klingelpartys feiert, ist in dem Wohlfahrtsverband Mitglied. | |
| 4 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Schulze | |
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