| # taz.de -- Singapur: Nichts als die Wahrheit | |
| > Singapur hat eines der härtesten Anti-Fake-News-Gesetze. Die Regierung | |
| > missbraucht es, um Kritiker:innen der Todesstrafe zum Schweigen zu | |
| > bringen. | |
| Bild: Sauber, ruhig, sicher: Singapurs friedvolles Dasein ist politisch hart he… | |
| Auf den Straßen Singapurs geht es leise zu, beinahe, als sei immer | |
| Feiertag. Zwischen den glasverkleideten Hochhäusern fahren nur wenige, oft | |
| elektrische Autos umher. Die über drei Millionen Menschen, die täglich die | |
| Metro nutzen, verteilen sich entspannt in den großzügigen Gängen der | |
| U-Bahn-Stationen mit ihren glänzend polierten Granitfliesen am Boden. | |
| Geschäfte gibt es hier keine, nur Automaten für frisch gepressten | |
| Orangensaft. Der kommt mit verschweißtem Deckel aus der Klappe. Öffnen, | |
| bevor man in den eigenen vier Wänden ist, ist streng verboten. | |
| Polizisten? Schmutz? Bettler? Verspätungen? | |
| Hier nicht. | |
| Als Besucher gewöhnt man sich an die Ruhe, die Sauberkeit und das Gefühl | |
| von Sicherheit so schnell, dass man es bald für normal hält. Doch all das | |
| ist nicht gottgegeben, sondern politisch aufwendig hergestellt. Die | |
| staatlich limitierten Autozulassungen etwa werden versteigert. Wer einen | |
| Mittelklassewagen auf die Straße bringen will, muss über 100.000 Euro | |
| zahlen. Gleichzeitig investierte Singapurs Regierung bis heute umgerechnet | |
| rund 100 Milliarden Euro in die Metro – Weltrekord. | |
| Mit Geld und strengen Gesetzen werden Gefahr, Schmutz und Unruhe von dieser | |
| Insel (genau genommen sind es 64 Inseln) des Wohlstands ferngehalten. Und | |
| wenn das die Freiheit einschränkt, dann ist das eben so. Für diesen | |
| Gesellschaftsvertrag steht die [1][People's Action Party] (PAP), die | |
| Singapur schon seit 1959, drei Jahre vor der Unabhängigkeit von | |
| Großbritannien, ohne Unterbrechung regiert. | |
| Heute kommt immer mehr vom Schmutz und den Gefahren der Welt aus dem | |
| Internet. Auch da greift die PAP durch. Seit 2019 gibt es den Protection | |
| from Online Falsehoods and Manipulation Act (POFMA). | |
| Er stellt die Verbreitung von „Unwahrheiten“ unter Strafe, wenn sie | |
| Sicherheit, öffentliche Gesundheit, öffentliche Ruhe oder Staatseinnahmen | |
| gefährden, „Hassgefühle“ zwischen den Volksgruppen – gemeint sind Malai… | |
| Chinesen und Inder – schüren oder „das Vertrauen der Öffentlichkeit in die | |
| […] Regierung“ untergraben. In schweren Fällen drohen umgerechnet 335.000 | |
| Euro Geldstrafe und bis zu zehn Jahre Haft. | |
| Die öffentliche Ruhe stören, das hat sich [2][Kokila Annamalai Parvathi] | |
| zweifellos vorgenommen. Alle nennen sie nur Koki, vermutlich sogar die | |
| Menschen im Todestrakt, die Parvathi vor der Hinrichtung zu retten | |
| versucht. In Singapur herrsche ein „barbarisches Todesstrafenregime“, sagt | |
| Parvathi, und sie werde das niemals akzeptieren. | |
| ## Sich selbst der Lüge bezichtigen | |
| Parvathi ist eine der Gründer:innen des [3][Transformative Justice | |
| Collective] (TJC). In der Gruppe haben sich viele Gegner:innen der | |
| Todesstrafe in dem Stadtstaat vereint. Singapurs Regierung warnt vor ihnen, | |
| so wie sie vor Rauchen, ungesundem Essen oder Smog warnt: „Auf dieser | |
| Website wurden mehrere Unwahrheiten verbreitet“, steht heute auf der | |
| TJC-Seite. | |
| Leser:innen sollten „Vorsicht walten“ lassen. Denn wer in den Augen von | |
| Singapurs Regierung Fake News verbreitet, muss sich selbst der Lüge | |
| bezichtigen und die Darstellung der Regierung als die korrekte öffentlich | |
| anerkennen. | |
| Parvathi aber weigert sich, das zu tun. | |
| Sie ist 37 Jahre alt, ihre gelockten schwarzen Haare fallen lose auf die | |
| Schultern, sie trägt oft einen Sari, wie ein Bekenntnis zu ihren indischen | |
| Wurzeln. Ihr Instagram-Profil heißt „[4][learningfromthemargins]“, von den | |
| Marginalisierten, den Ausgegrenzten lernen, soll das heißen. Zu sehen sind | |
| dort viele Fotos von ihr mit erhobener Faust in der ersten Reihe von | |
| Protestveranstaltungen. | |
| Campaignerin ist vielleicht die treffendste Beschreibung für das, was sie | |
| tut: Protestaktionen organisieren. Sie macht das schon, seit sie Anfang 20 | |
| ist. „Ich hab das zu meinem Beruf gemacht“, sagt sie: Kämpfe von | |
| Mieter:innen und migrantischen Arbeitskräften, gegen Wucher oder | |
| Ausbeutung, für Palästina. Vor allem aber kämpft Parvathi gegen die | |
| Todesstrafe. | |
| Im [5][Safest City Index des Economist] landet Singapur 2021 weltweit auf | |
| Platz drei. Die Kriminalitätsrate ist eine der niedrigsten der Welt. 78 | |
| Prozent der Singapurer:innen sind der Meinung, es brauche die | |
| Todesstrafe, damit das so bleibt. | |
| 14 Menschen wurden laut Amnesty International bisher 2025 in dem Stadtstaat | |
| hingerichtet. Im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße sind das etwa 19-mal so | |
| viele wie in den USA. Der hochtechnisierte Staat straft dabei wie im | |
| Mittelalter: Mit dem Galgen, an Freitagen, kurz vor Sonnenaufgang. Meist | |
| trifft es Migrant:innen, Arme, Suchtkranke. Das TJC, Parvathis Gruppe, | |
| protestiert mit Mahnwachen, Veranstaltungen, offiziellen Eingaben in einem | |
| Land, in dem Protest und öffentliche Kritik an der Regierung keinen Platz | |
| haben. | |
| Viele im Land wüssten auch gar nicht, was es zu kritisieren gäbe. Sie sagen | |
| Sätze wie: „Wenn ich so höre, wie es anderswo zugeht, dann muss ich sagen: | |
| Ich kann mich nicht wirklich beschweren“ – so oder ähnlich denken viele | |
| Menschen in Singapur. | |
| Fotos noch aus den letzten Jahren der britischen Herrschaft in dem | |
| Stadtstaat Anfang der 1960er Jahre zeigen einfache Holzhütten zwischen | |
| Palmen. Heute wirkt die Stadt wie eine Architekturausstellung, eine | |
| Manifestation dessen, zu was Baukunst imstande ist, wenn Geld und Ambition | |
| zusammenkommen. Möglichst bald schon sollen die Gebäude voll begrünt sein, | |
| um der Klimakrise besser zu trotzen. Vorbildlich ist die Stadt dabei schon | |
| heute. Das tropische Grün kontert die Sterilität der Straßen. | |
| Singapur ist keine Geheimdienstdiktatur, die mit undurchsichtigen Methoden | |
| und Willkür ihre Gegner kontrolliert. Das staatliche Vorgehen gegen | |
| Aktivist:innen wie Parvathi ist haarklein im Netz dokumentiert, zu | |
| jedem Schritt gibt es eine offizielle Pressemitteilung samt Kontaktdaten | |
| für Nachfragen. Die Repression wird hier mit maximaler Transparenz | |
| vollzogen. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb Aktivist:innen dazu | |
| bereit sind, relativ frei zu reden. | |
| Parvathi kommt zum Treffpunkt in eine Mall am westlichen Ende der | |
| Haupteinkaufsstraße Orchard Road. Nach einem kurzen Gespräch führt sie in | |
| eine benachbarte Mall, läuft durch den Hinterausgang zu einer Wohnstraße | |
| mit zweistöckigen Häusern, eine Rarität angesichts des knappen und | |
| exorbitant teuren Baulands. | |
| Die Häuser sind einfach gebaut, aber ihr Wert geht in die Millionen. So ist | |
| es nur einem wohlhabenden privaten Gönner zu verdanken, dass in einem | |
| dieser Bauten ein knappes Dutzend linker politischer Gruppen ihren | |
| Treffpunkt und ihre Büros haben. Klima, LGBTIQ, Streiks – mit den ganzen | |
| Politplakaten an den Wänden wirkt dieser Ort wie ein Fremdkörper inmitten | |
| des glatten, durchorganisierten Singapurs. | |
| Parvathi setzt sich an einen Tisch und erzählt. Sie spricht druckreif, | |
| alles was sie sagt, hat sie offenkundig lange durchdacht, in Diskussionen | |
| erprobt. Das Anti-Fake-News-Gesetz nennt sie eine „Form der psychologischen | |
| Gewalt gegen die Öffentlichkeit“. Es werde von den „Machthabern | |
| missbraucht, um ihre eigennützigen Meinungen als ‚korrekte Fakten‘ | |
| auszugeben und sie uns in den Hals zu stopfen“, sagt sie. | |
| Die Vorwürfe gegen sie beziehen sich auf Posts vom Oktober 2024. Sie | |
| kritisiert darin die Umstände mehrerer Hinrichtungen, unter anderem jener | |
| von Mohammad Azwan bin Bohari. Er wurde 2017 mit 26,5 Gramm Diamorphin, | |
| synthetischem Heroin, in einer Keksdose von der Polizei aufgegriffen. 15 | |
| Gramm reichen, um in Singapur zum Tode verurteilt zu werden. Sieben Jahre | |
| später, am 4. Oktober 2024, wurde Bohari im Alter von 48 Jahren exekutiert. | |
| Parvathi hatte unter anderem kritisiert, dass das Rechtssystem den | |
| Todeskandidaten eine unerfüllbare Beweislast aufbürdet. Sie verwies auch | |
| darauf, dass die Familie Boharis angesichts noch ausstehender Rechtsmittel | |
| von der Hinrichtung überrascht wurde. [6][Auch Amnesty International hatte | |
| dies scharf gerügt]. Mit Blick auf weitere Fälle hatte Parvathi fehlende | |
| Dolmetscher und die Hinrichtung psychisch kranker Menschen kritisiert. | |
| Ihre Vorwürfe veröffentlichte Parvathi auf den Webseiten des TJC und auf | |
| ihren eigenen Social-Media-Kanälen. Nur Tage später wies das | |
| Innenministerium die beim Informationsministerium angesiedelte | |
| Anti-Fake-News-Behörde an, eine „Korrekturmeldung“ zu verfassen. Diese | |
| Meldungen werden zunächst auf einer Regierungsseite mit dem Namen | |
| „Factually“ – also etwa „tatsächlich“ – veröffentlicht. | |
| Bliebe es dabei, wäre es schlicht eine Gegendarstellung, in der die | |
| Regierung ihre Sicht der Dinge darlegt. | |
| Doch es geht weiter. | |
| Der POFMA sieht keine Löschung vor. Die Verfasser:innen müssen vielmehr | |
| auf der Startseite ihrer Website oder im Header ihres Social-Media-Profils | |
| eine von der Regierung vorformulierte Selbstbezichtigung posten. Das TCJ | |
| als Ganzes gab nach: „Auf dieser Website wurden mehrere Unwahrheiten | |
| verbreitet“, steht dort nun in Englisch ganz oben auf der Startseite, bis | |
| heute. | |
| Zweitens muss ein Warnhinweis dem fraglichen Beitrag vorangestellt werden: | |
| „Dieser Beitrag enthält falsche Tatsachenbehauptungen“, [7][steht dort | |
| nun]. Für die „korrekten Fakten“ möge man dem bereitgestellten Link zur | |
| Darstellung der Regierung folgen. | |
| Drittens schließlich muss der Text des ursprünglichen Beitrags in einer von | |
| der POFMA-Behörde vorformulierten Weise verändert oder ergänzt werden. | |
| Dabei wird das, was dort vorher stand, teils ins Gegenteil verkehrt. Unter | |
| anderem steht dort nun: Die Todeskandidaten um Mohammad Azwan bin Bohari | |
| hätten das Gerichtsverfahren „missbraucht“, indem sie „in letzter Minute | |
| Anträge einreichen, um ihre geplante Hinrichtung zu verhindern“. | |
| Wer die Anweisungen der POFMA-Behörde befolgt und die Regierungsdarstellung | |
| übernimmt, wird nicht weiter bestraft. Für Parvathi kam das nicht infrage. | |
| Sie ließ die Posts auf ihren eigenen Profilen unverändert. „Es gibt keine | |
| Strafe, die hart genug wäre, um mich zu zwingen, diese Ansicht als die | |
| ‚Wahrheit‘ zu wiederholen“, sagt sie. | |
| Todeskandidaten gehören zu den „verletzlichsten, machtlosesten und | |
| stimmlosesten Menschen in unserer Gesellschaft“, sagt Parvathi. „Die | |
| Gerichte hingegen gehören zu den mächtigsten Institutionen in diesem Land.“ | |
| Es sei sehr seltsam, es „Missbrauch“ zu nennen, wenn Gefangene vor einer | |
| Hinrichtung alle zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel ausschöpfen. | |
| „Für mich ist das eine höchst widerwärtige Position“, so Parvathi. „Ich | |
| stehe zu dem, was ich gesagt habe.“ | |
| Das Land verlassen darf Parvathi zum Zeitpunkt des Treffens mit der taz | |
| nicht. Die Justiz hat ihr ihren Pass eingezogen, sie ist auf 5.000 Dollar | |
| Kaution in Freiheit. Denn im Februar 2024 hatte sie einen Protestmarsch | |
| gegen den Krieg in Gaza zum Sitz des Präsidenten angeführt. Gestattet sind | |
| Proteste in Singapur aber nur in einer Ecke des Hong-Lim-Parks in der | |
| Innenstadt. | |
| Wegen der Todesstrafenposts sei sie „mehr als sechs Stunden auf der | |
| Polizeiwache“ verhört worden, „ohne Anwalt“, berichtet sie. Der Prozess … | |
| der Sache steht noch aus. | |
| Nationale und internationale Medien berichteten über Parvathis Fall. In | |
| Singapur selbst muss die Regierung Kritik an ihrem Vorgehen indes kaum | |
| fürchten. Was sie tut, empfinden viele Menschen als legitim. | |
| Praktisch ohne politische Konkurrenz, mit genügend Geld und einer relativ | |
| unkritischen Medienlandschaft vermochte die Regierung über Jahrzehnte | |
| umzusetzen, was sie versprach. Auch ohne eigene Rohstoffe führte sie das | |
| Land ökonomisch an die Weltspitze, freiheitsmäßig aber nur ins Mittelfeld: | |
| 48 von 100 Punkten bekommt Singapur im [8][Freedom-in-the- World-Index]. | |
| Zum Unabhängigkeitstag verschickt die Regierung Gutscheine für Kuchen an | |
| alle Haushalte. Nachdem die Zahl der Online-Betrügereien zugenommen hatte, | |
| kam Anfang August eine viersprachige Postwurfsendung der Polizei mit | |
| Leitfaden in leichter Sprache und den Kontaktdaten zu externen | |
| Beratungsstellen. Singapur ist eine Art asiatischer Nanny State. Und über | |
| die Jahrzehnte hat die Bevölkerung die Mischung aus Wohlstand, Sicherheit | |
| und engen Grenzen akzeptiert. | |
| So kann das „Untergraben des Vertrauens in die Regierung“ heute als | |
| Straftat verfolgt werden. Aus europäischer Sicht erscheint das wie ein | |
| uferloses Instrument der Herrschenden, sich vor Kritik zu schützen. „In | |
| Singapur war das gar kein Thema“, sagt dazu Thum Ping Tjin. Der einst in | |
| Oxford lehrende Historiker ist auf die Verfassung des Stadtstaats | |
| spezialisiert und einer der wenigen wahrnehmbaren Regierungskritiker | |
| Singapurs. | |
| Thum gründete mit Parvathi und anderen das Transformative Justice | |
| Collective. 2018 war er einer der Expert:innen, die im Parlament bei den | |
| Beratungen zum POFMA angehört wurden. | |
| ## Meinung kann Fake News sein | |
| Schon damals warnte er vor dem Gesetz. 2020 dann sagte er in einem | |
| Youtube-Video seiner Reihe „The Show with PJ Thum“, dass der POFMA Kritik | |
| an der Regierung unmöglich mache. Er bekam postwendend einen ministeriellen | |
| Bescheid, dies als „Fake News“ zu kennzeichnen. Die Regierung | |
| veröffentlichte „Korrekturen und Klarstellungen“ zu seinem Video. Thum gab | |
| nach, veröffentlichte eine neu geschnittene Fassung des Clips. | |
| Der Historiker berichtet davon bei einem Zoom-Gespräch aus Kobe in Japan. | |
| Denn die Regierung Singapurs hatte Thum 2023 mit fadenscheiniger Begründung | |
| Wahlmanipulation vorgeworfen. Als der Druck größer wurde, ging der | |
| Wissenschaftler mit seiner Frau aus Singapur ins Exil. | |
| Dass die Regierung Fake News bekämpfen wolle, sei an sich richtig, sagt | |
| Thum. „Das ist ein Problem, wir sehen ja, wie etwa Russland in Europa mit | |
| Desinformation versucht, Wahlergebnisse zu manipulieren oder die Ukraine | |
| als Kriegsschuldige erscheinen zu lassen.“ In Singapur sei „chinesische | |
| Desinformation eines der größten Probleme“, so Thum. | |
| Auch gegen das Anliegen, die Harmonie zwischen verschiedenen ethnischen | |
| Gruppen zu schützen, keine Hetze zuzulassen, sei nichts einzuwenden, ebenso | |
| wenig, wie Fake News von Impfgegnern über Covid einzudämmen. | |
| „Zu Beginn hat die Regierung versprochen, dass sie nur gegen Unwahrheiten | |
| vorgehen werde, die öffentliche Interessen beeinträchtigen“, sagt Thum über | |
| den POFMA. Anfangs sei es auch so gehalten worden. „Aber sehr bald wurde | |
| klar, dass die Regierung den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird.“ Bald | |
| schon habe sie auch Meinungsäußerungen als „Fake News“ angegriffen und sei | |
| dabei mit „sehr zweifelhaften Begründungen gegen Oppositionspolitiker“ | |
| vorgegangen, erzählt er. | |
| Sogar, wenn nur die Interpretation einer Aussage falsch sein kann, könne | |
| sie die Aussage als falsch einstufen. So könne sehr vieles, was der | |
| Regierung nicht gefällt, heute als Fake News verfolgt werden. | |
| Die POFMA-Behörde will dazu kein Interview geben. Auf Anfrage schickt das | |
| Justizministerium nur eine freundliche Mail mit ein paar Links. Darin ist | |
| zu lesen, wie hilfreich sich das Gesetz im Kampf gegen Fake News erwiesen | |
| hat. | |
| In den USA zerstört Trumps Regierung gerade alles, was demokratische | |
| Rechtsstaatlichkeit ausmacht. Möglich wurde dies auch durch eine | |
| unregulierte Medienöffentlichkeit, die der Verbreitung von Hass, Hetzen und | |
| Lügen keinerlei Schranken setzte. Am Ende war das Misstrauen in den Staat, | |
| der Hass auf die Minderheiten so groß, dass Trump durchmarschieren konnte. | |
| In der EU gibt es Kräfte, die Ähnliches vorhaben. Auch sie diskreditieren | |
| die Eliten, die Institutionen, die Demokratie. Sie lügen und hetzen, als | |
| Geschäft und als politisches Projekt. Die Folgen sind bereits sichtbar. | |
| Eine Umfrage der Körber Stiftung von 2024 ergab, dass das „Vertrauen in die | |
| Demokratie“ bei 51 Prozent der Deutschen „weniger groß“ oder „gering�… | |
| Der Bundesregierung brachten nur noch 18 Prozent „großes“ oder „sehr | |
| großes“ Vertrauen entgegen. | |
| Wer hierzulande mit den Landesmedienanstalten oder Politikern darüber | |
| spricht, wie der demokratiezersetzenden Hetze im Netz Einhalt geboten | |
| werden kann, hört immer wieder einen Satz, der auf George Orwells Roman | |
| 1984 verweist: Der Staat dürfe „kein Wahrheitsministerium“ sein, nicht üb… | |
| Wahrheit oder Unwahrheit von Inhalten entscheiden. Die Redefreiheit sei | |
| dann nicht mehr gewahrt. | |
| Eine sehr nachvollziehbare Position. Was aber dann? | |
| Seit April 2021 beobachtet der Verfassungsschutz in Deutschland einen neuen | |
| Phänomenbereich namens „Delegitimierung des Staates“. Viele erinnert schon | |
| die Formulierung an die DDR, in der Regimekritik einen Knastaufenthalt in | |
| Bautzen nach sich zog. | |
| Seit 2024 versucht die EU, mit dem [9][Digital Services Act] (DSA) gegen | |
| Desinformation im Netz vorzugehen. Auch in Deutschland werden dazu seither | |
| von der Bundesnetzagentur sogenannte [10][Trusted Flagger] registriert, die | |
| den Plattformbetreibern bevorzugt kritische Inhalte zur Löschung melden | |
| dürfen. Als dies bekannt wurde, tobten rechte Medien über vermeintliche | |
| Zensur. | |
| Sie störten sich vor allem daran, dass so auch Inhalte unterhalb der | |
| Strafbarkeitsgrenze nach politischen Prämissen von den Plattformen gelöscht | |
| werden müssen. Diese Kritik kam vor allem von solchen Plattformen, deren | |
| Geschäftsmodell es ist, Hass, Hetze und Fake News zu verbreiten. Aber sie | |
| hat einen Punkt. | |
| In Singapur fürchten viele nicht nur Desinformation aus China, sondern auch | |
| den Einfluss dschihadistischer Gruppen aus den islamischen Nachbarländern. | |
| Alles, was als Hetze gegen eine der Bevölkerungsgruppen verstanden werden | |
| kann, versucht man in Singapur zu ahnden – unter anderem mit dem POFMA. | |
| 77 Prozent der Bevölkerung bringen der Regierung Umfragen zufolge großes | |
| oder sehr großes Vertrauen entgegen. Auch wenn es keine wirklich | |
| unabhängigen Institute für diese Umfragen gibt, dürfte dieser Meinungstrend | |
| zutreffend dargestellt sein. Neue Regelungen, etwa zum Klima- oder | |
| Gesundheitsschutz kann die Regierung mit solchem Rückhalt in kürzester Zeit | |
| beschließen und durchsetzen. | |
| Um die Gefahr der Destabilisierung im Netz einzudämmen, setzt Singapur auf | |
| einen rigorosen Kurs und bleibt so politisch handlungsfähig. Immer | |
| deutlicher zeigt sich aber, welche Risiken das birgt. | |
| Am 12. Dezember 2024 veröffentlichte das Portal Bloomberg in Singapur einen | |
| Artikel des Investigativjournalisten Low De Wei. Darin beschrieb er | |
| zweifelhafte Immobiliengeschäfte, in die unter anderem ein amtierender | |
| singapurischer Minister und ein Ex-Minister verstrickt waren. Beide klagten | |
| gegen Bloomberg, gleichzeitig aber behauptete die Regierung, De Weis | |
| Artikel enthalte Unwahrheiten. | |
| Die POFMA-Behörde wies Bloomberg – Platz 23 der größten Medienkonzerne | |
| weltweit, 13 Milliarden Dollar Umsatz – an, eine „Berichtigung“ über dem | |
| Artikel zu platzieren. | |
| Seit dem 23. Dezember steht auch dort nun: „Dieser Beitrag enthält falsche | |
| Tatsachenbehauptungen. Die richtigen Fakten finden Sie unter …“ und dann | |
| der Link zur Darstellung der Regierung. Die läuft darauf hinaus, dass an | |
| den Vorwürfen nichts dran sei und in der Regierung niemand etwas falsch | |
| gemacht habe. Ein Gerichtsurteil zu den Klagen der Minister gibt es bis | |
| heute nicht. | |
| Der Fall von Low De Wei ist umso erstaunlicher, weil es eigentlich zum | |
| Selbstverständnis der PAP gehört, nicht die kleinste Toleranz bei | |
| Korruptionsverdacht zu zeigen. Im „Korruptionswahrnehmungsindex“ von | |
| Transparency International steht das Land weltweit auf Platz 3. | |
| Parvathi sagt, sie habe „Angst vor Geldstrafen, die ich mir nicht leisten | |
| kann, und vor Gefängnisstrafen“. Noch mehr aber fürchte sie, was geschehe, | |
| wenn man „nicht für die Wahrheit“ eintrete. „Ich habe vor allem Angst, d… | |
| ich meinen moralischen Kompass verliere und meine Integrität verrate, wenn | |
| ich das nicht tue.“ | |
| Desinformation ist ihrer Ansicht nach vor allem deshalb ein Problem, weil | |
| traditionelle Medien und Online-Netzwerke „vom Großkapital und den | |
| politischen Eliten kontrolliert“ werden. Singapur sollte eine Warnung für | |
| jede Gesellschaft sein, deren Regierung Gesetze plant, die die | |
| Meinungsfreiheit auf diese Weise beeinträchtigen, sagt sie. Es sei | |
| gefährlich, „eine oberste Autorität für die Wahrheit“ zu akzeptieren und | |
| staatlichen Behörden die Entscheidung darüber zuzugestehen, „was wahr und | |
| was falsch ist“. | |
| 25 Nov 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Machtwechsel-in-Singapur/!6010728 | |
| [2] https://www.theguardian.com/world/2024/nov/06/kokila-annamalai-singapore-ac… | |
| [3] https://transformativejusticecollective.org/ | |
| [4] https://www.instagram.com/learningfromthemargins | |
| [5] https://impact.economist.com/projects/safe-cities/ | |
| [6] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2024/10/singapore-unlawful-execution… | |
| [7] https://transformativejusticecollective.org/2024/10/02/azwan-faces-executio… | |
| [8] https://freedomhouse.org/explore-the-map?type=fiw&year=2025&country… | |
| [9] /Digital-Markets-und-Digital-Services-Act/!5992274 | |
| [10] /Welt-diffamiert-Behoerde/!6042017 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
| ## TAGS | |
| wochentaz | |
| Longread | |
| Singapur | |
| Desinformation | |
| Fake News | |
| GNS | |
| Reden wir darüber | |
| Twitter / X | |
| Investitionsschutz | |
| Singapur | |
| Insekten | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Nach X-Software-Update: Viele rechte X-Profile sitzen im Ausland | |
| Auf X sieht man jetzt, wo ein Account sitzt. Pro-Trump-Accounts finden sich | |
| oft außerhalb der USA. Und es gibt weitere Überraschungen. | |
| Klagerechte für Konzerne gegen Politik: Kritik an Investitionsabkommen mit Sin… | |
| Der Bundestag soll EU-Verträge mit zwei asiatischen Ländern ratifizieren. | |
| Unter Robert Habeck hielt das Wirtschaftsministerium das noch für | |
| „riskant“. | |
| Gemeinsam unabhängiger von Peking: Malaysia und Singapur planen neue Sonderwir… | |
| Eine gemeinsame Sonderwirtschaftszone soll Malaysia und Singapur | |
| unabhängiger von China machen. Die beiden Staaten sind zwei ungleiche | |
| Partner. | |
| 16 Insektenarten als Lebensmittel: Singapur ändert Lebensmittelgesetz | |
| Die meisten Menschen kostet es noch viel Überwindung, Insekten zu | |
| verspeisen. Aber sie gelten als nachhaltige Proteinquelle und | |
| umweltschonend. |