| # taz.de -- Warum wir Geflüchtete aufnehmen sollten: „Scham und Mitleid sind… | |
| > Der Historiker Klaus Neumann plädiert für eine fundierte und unaufgeregte | |
| > Auseinandersetzung darüber, warum Deutschland Flüchtlinge aufnehmen | |
| > sollte. | |
| Bild: Gerettet von der „Sea Eye“: Geflüchtete auf dem Mittelmeer | |
| taz: Herr Neumann, was ist in der Migrationspolitik seit dem | |
| „Wir-schaffen-das“-Sommer 2015 schiefgegangen? | |
| Klaus Neumann: Die [1][panische Reaktion der sogenannten Parteien der Mitte | |
| auf das Erstarken der AfD]. | |
| taz: Es ist ja eine strategische Frage der Mitte-Parteien, ob sie auf die | |
| Forderungen der Rechtsextremisten eingehen sollen, um ihnen das Wasser | |
| abzugraben. | |
| Neumann: Ich kenne keine einzige Studie, die sagt, es habe den etablierten | |
| Parteien genützt, Forderungen der Rechten zu übernehmen. | |
| taz: Warum tun sie es dann trotzdem? | |
| Neumann: Eine Erklärung wäre, weil führende Politiker der anderen Parteien | |
| eigentlich grundlegende Aussagen der rechten Parteien teilen. Wenn Olaf | |
| Scholz im Spiegel sagt, man müsse im großen Stil abschieben, dann meint er | |
| das. | |
| taz: Es gibt ja Leute, von denen man erwarten könnte, sie könnten dem eine | |
| positive Erzählung entgegensetzen, Robert Habeck zum Beispiel. | |
| Neumann: Dem würde ich nicht unterstellen, dass er solche Meinungen teilt. | |
| Sein Zehn-Punkte-Plan zur Migration war wohl ein Versuch, Anschluss an die | |
| nach rechts driftende Mitte zu halten. | |
| taz: Warum ist die positive Stimmung 2015 so schnell verpufft? | |
| Neumann: Das hat damit zu tun, dass der ursprüngliche Impuls ein | |
| emotionaler war: Mitleid mit dem ertrunkenen Jungen Alan Kurdi, Scham über | |
| das, was an einigen Orten in Ostdeutschland passierte. Bei Angela Merkels | |
| Satz „Wir schaffen das“ ging es auch um das, was einige Tage vor ihrer | |
| Sommerpressekonferenz in Heidenau passiert war. Es ging darum, zu zeigen, | |
| dass Deutschland ein gastfreundliches Land ist, wobei so unterschiedliche | |
| Sachen zusammenkamen wie die Erinnerung an den Holocaust oder die | |
| Behandlung Griechenlands in der Eurokrise. Scham und Mitleid sind aber | |
| keine nachhaltigen Gründe, sich für andere einzusetzen. | |
| taz: Wie kommt man aus dieser Falle? | |
| Neumann: Das Problem ist, dass Leute, die sich schon länger für Flüchtlinge | |
| einsetzen, sich an denen orientieren, die eher skeptisch sind, und auf | |
| deren Argumente reagieren. Dabei verstricken sie sich in die Suche nach | |
| einer Lösung, bloß weil die andere Seite behauptet, sie hätte eine. Dabei | |
| müsste man aber sagen: Das ist ein echt schwieriges Problem. Es gibt keine | |
| einfache Lösung. Es gibt allenfalls eine ganz langfristige Lösung – | |
| Auflösung des Nationalstaats – aber das kann man ja nicht von heute auf | |
| morgen machen. | |
| taz: Sie sprechen in Ihrem Vortrag von guten und nicht so guten Gründen, | |
| Schutz zu gewähren … | |
| Neumann: Der schlechteste Grund ist, zu sagen: Wir brauchen die | |
| Flüchtlinge, weil sonst unser Sozialsystem kollabiert. Wir müssen auch | |
| keine Flüchtlinge aufnehmen, weil Gesetze oder das Völkerrecht uns das | |
| vorschrieben. Selbst wenn es so wäre, müsste man begründen, warum das | |
| Völkerrecht sinnvoll wäre. Asyl ist kein im Völkerrecht verankertes | |
| Menschenrecht, und wenn es eins wäre, müsste man begründen, warum es eines | |
| sein sollte. | |
| taz: Was wären denn gute Gründe? | |
| Neumann: Gute Gründe müssten anfangen mit der Forderung nach Aufmerksamkeit | |
| – auch für das, was die Flüchtlinge wollen, was die umtreibt, warum die | |
| hier sind. Zudem müsste man scheinbar verstaubte Prinzipien wie | |
| Solidarität, [2][Gastlichkeit und Menschenwürde wiederbeleben]. Das sind | |
| Prinzipien, die man sich mal erkämpft hat. Es ist wichtig, darüber zu | |
| diskutieren, was diese ausmacht und warum sie verteidigungswürdig sind. Am | |
| wichtigsten wäre aber, dass wir als Bewohner eines sehr reichen | |
| Industrielandes [3][aus Gründen der globalen Gerechtigkeit] Schutzsuchende | |
| aufnehmen. Ich will aber gar nicht bestimmte Argumente vorgeben; mir geht | |
| es vor allem darum, dass wir in eine fundierte und unaufgeregte | |
| Auseinandersetzung eintreten über die Frage, warum [4][Deutschland | |
| Schutzsuchende aufnehmen] sollte. 2015 wäre ein guter Moment gewesen, diese | |
| Auseinandersetzung zu führen, aber zu spät ist es dafür auch jetzt nicht. | |
| 3 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gernot Knödler | |
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