| # taz.de -- Aufrüstung als Sackgasse: Militärische Zeitenwende | |
| > Die aktuelle Aufrüstungspolitik führt in eine Sackgasse. Daher sollten | |
| > wir uns dringend vom Mythos der propagierten Wehrhaftigkeit | |
| > verabschieden. | |
| Bild: Kann er uns den Weg weisen? Kommandeur beim feierlichen Gelöbnis der Rek… | |
| Neulich diskutierte ich beim Steirischen Herbst, einem Festival für | |
| zeitgenössische Kunst in Graz, mit einem General über Aufrüstung (mein | |
| Wort) beziehungsweise Nachrüstung (sein Wort). Unsere Positionen waren nur | |
| ein Präfix voneinander entfernt – und doch lagen Welten dazwischen. Einig | |
| waren wir uns nur hierin: Krieg ist die brutalste Form der Inhumanität und | |
| die dümmste Form, Konflikte zu lösen. | |
| Doch leider sei die Welt so und nicht anders, sagte der General, sie zwinge | |
| uns also, immer mehr in Sicherheit zu investieren. Deswegen die regelrechte | |
| Explosion der Ausgaben: Die weltweiten Militärausgaben erreichten 2024 | |
| einen Rekordwert von 2,718 Billionen US-Dollar, ein Anstieg von 9,4 Prozent | |
| gegenüber dem Vorjahr. 2024 markierte das zehnte Jahr in Folge mit | |
| steigenden Militärausgaben. Dabei machen die fünf größten Militärmächte �… | |
| USA (997 Milliarden), China (314 Milliarden), Russland (149 Milliarden), | |
| Deutschland (88,5 Milliarden) und Indien (86 Milliarden) 60 Prozent der | |
| weltweiten Ausgaben aus. Die europäischen Nato-Ausgaben wuchsen von 2014 | |
| bis 2024 um über 70 Prozent. Die Behauptung, „wir“ hätten das Militär | |
| sträflich unterfinanziert, ist schlichtweg falsch. | |
| Nachrüstung sei notwendig, weil Europa wehrhafter werden müsse, sagen die | |
| FürsprecherInnen. Doch schon jetzt sind die europäischen Nato-Staaten | |
| hinsichtlich Wirtschaftsleistung, Verteidigungsausgaben und Waffensystemen | |
| Russland klar überlegen. Wer profitiert also von der neuen Aufrüstung? | |
| Ganz sicher nicht die Mehrheit der Bevölkerung, sondern eine Rüstungslobby | |
| aus Politik, Industrie und Militär, für die der Angstzustand das beste | |
| Geschäftsmodell bleibt. Zentralisierte Verwaltungssysteme neigen dazu, die | |
| Welt um sich herum zu vereinfachen, die eigenen Möglichkeiten zu | |
| überschätzen und andere Sichtweisen nicht zu akzeptieren. So entsteht ein | |
| in sich geschlossenes System von Sonderinteressen, das kaum reformierbar | |
| ist. | |
| ## Militarisierung frisst Debattenkultur | |
| Während Sozialwohnungen, Kitas und Windräder fehlen, blättert die | |
| „Zeitenwende“ Milliarden für Drohnen und Panzer hin – 28 Prozent mehr | |
| Militärausgaben in einem Jahr. Die Militarisierung frisst nicht nur den | |
| eigenen Haushalt, sondern auch Geist und Debattenkultur. Zugleich | |
| verschärft die Militarisierung systematisch die bestehenden Krisen und | |
| Ungleichheiten. Militärausgaben werden immer öfter als alternativlos | |
| dargestellt, die demokratische Kontrolle zerbröselt unter dem Diktat der | |
| Sicherheit. | |
| Intransparente Vergabepraktiken, Kostenexplosionen, Lobbyismus und ein | |
| Drehtüreffekt zwischen Verteidigungsministerium und Konzernetagen sind zum | |
| Alltag geworden. Oder mit den Worten der Rocklegende Frank Zappa: „Die | |
| Regierung ist die Unterhaltungsabteilung des militärisch-industriellen | |
| Komplexes.“ Transparency International beziffert, dass rund 40 Prozent der | |
| Korruption im Welthandel beim Waffenhandel stattfinden – ein Skandal, den | |
| man hierzulande selten in Talkshows verhandelt. | |
| Verdrängt werden auch die ökologischen Kosten dieser Maschinerie. Das | |
| Militär ist für etwa 5,5 Prozent der globalen CO₂-Emissionen | |
| verantwortlich, als Land wäre es weltweit der viertgrößte Klimasünder. Die | |
| aktuellen Nato-Aufrüstungspläne bedeuten schon jetzt jährlich 200 Millionen | |
| Tonnen zusätzliches CO₂ fast ein Drittel der gesamten deutschen Emissionen. | |
| Während die Zivilgesellschaft an vielen Enden sparen muss, wird zur selben | |
| Zeit das Zerstörungspotenzial der Zukunft ausgebaut. Die Pariser Klimaziele | |
| werden dadurch de facto außer Kraft gesetzt. | |
| Der Export „unserer Werte“ spezialisiert sich zunehmend auf den | |
| Waffenexport. Deutsche und österreichische Gewehre, Pistolen, Munition | |
| finden sich in Krisengebieten auf der ganzen Welt. Rüstungsexporte an | |
| autokratische Regime (Saudi-Arabien war 2024 mit 126,4 Millionen Euro der | |
| viertgrößte Empfänger deutscher Rüstungsexporte) zerstören jegliche | |
| Rhetorik von „Wertepolitik“. | |
| ## Perfider Mentalitätswandel | |
| Was hierzulande angeblich der Sicherheit dient, destabilisiert andernorts | |
| ganze Regionen, treibt Menschen in Flucht und Elend – und wir kassieren | |
| mit. Und wie sehr die Militärausgaben „nur“ unserer Selbstverteidigung | |
| dienen, zeigt die Nato-Geschichte der vergangenen Jahrzehnte: Erinnern wir | |
| uns an den globalen „Krieg gegen den Terror“, bei dem angeblich ein Erfolg | |
| den nächsten jagte, am Ende jedoch 8 Billionen US-Dollar verpulvert, eine | |
| ganze Region destabilisiert und 900.000 Menschen getötet worden waren (laut | |
| des „Costs of War Project“ der Brown University). | |
| Besonders perfide ist der Mentalitätswandel, der die gesellschaftliche | |
| Debatte vergiftet. Wer nichtmilitärische Optionen hochhält, gilt inzwischen | |
| als „Lumpenpazifist“ – ein Begriff, der den Sound von „Wehrkraftzersetz… | |
| aus dunklen Zeiten aufgreift. Verschiedene Medien loben die Forderung von | |
| Boris Pistorius nach „Kriegstüchtigkeit“, PolitikerInnen sind dabei, | |
| „Kriegstüchtigkeit“ zur neuen Staatsdoktrin zu stilisieren. Die neue | |
| soziale Norm bedingt, sich „wehrhaft“ zu geben: Die Militarisierung des | |
| Denkens ist so gefährlich wie die materielle Aufrüstung, weil sie Zweifel | |
| und Alternativen systematisch diffamiert. | |
| Was fehlt, ist eine offene Debatte darüber, wie Sicherheit jenseits von | |
| Panzerketten aussehen kann: Investitionen in soziale Gerechtigkeit, | |
| Klimaschutz, Bildung, Gesundheit. Das Beharren auf universellen Werten. Das | |
| Vermitteln von Strategien und Techniken der sozialen Verteidigung. | |
| Die eigentliche Bedrohung für Demokratie, Wohlstand und Friedlichkeit ist | |
| eine Aufrüstung, deren einziges gesichertes Ergebnis darin besteht, ihre | |
| eigenen Voraussetzungen immer wieder selbst zu schaffen – mehr | |
| Unsicherheit, mehr Gewalt, mehr autoritäre Versuchungen. Hinter der vom | |
| Sicherheitsapparat befeuerten Erzählung von der ständigen Gefahr, für die | |
| immer mehr Waffen die einzige Antwort bieten sollen, steckt ein teurer | |
| Trugschluss: Wer Freiheit und Demokratie sichern will, braucht weniger | |
| Rüstung und mehr kritisches Nachdenken über die wahre Natur von Sicherheit | |
| im 21. Jahrhundert. | |
| 29 Oct 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Ilija Trojanow | |
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