| # taz.de -- Berliner Haushalt 2026/27: Protestieren gegen die Atemnot | |
| > Träger kultureller Angebote für Kinder und Jugendliche haben am | |
| > Donnerstag vor dem Abgeordnetenhaus gegen Kürzungen bei ihrem Bereich | |
| > demonstriert. | |
| Bild: Kultur ist ein fragiles Netz: Protestaktion vor dem Abgeordnetenhaus | |
| Berlin taz | Im Jahr 1998 gab der US-Bundesstaat Georgia 100.000 Dollar | |
| aus, um allen Neugeborenen eine CD mit klassischer Musik zu schenken. Ziel | |
| dieser musischen Früherziehung war nicht etwa Entspannung oder das Erleben | |
| von Schönheit. Forschende der Universität von Kalifornien hatten gezeigt, | |
| dass Menschen ein verbessertes räumlich-visuelles Vermögen zeigten, nachdem | |
| sie Mozarts Sonate in D-Dur gehört hatten. Der Staat war sich sicher: Musik | |
| macht schlaue Kinder. Doch wenn aus Kunst Kalkül wird, ist es nicht Kunst, | |
| sondern Propaganda. | |
| Aus Boxen kommt Musik. Grauer Asphalt, Absperrgitter, Berliner | |
| Abgeordnetenhaus am Donnerstag. Drinnen tagt der Ausschuss für Soziales, | |
| danach der für Integration, dann der für Bildung und Familie. Im Herbstgrau | |
| draußen, Schmetterling auf Shirt, Füße in Klettverschlussschuhen. Shakhbat, | |
| Shakhabit, jeder Fuß ein Schritt. Schülerinnen und Schüler der | |
| Gesundbrunnen-Grundschule performen. Efsun, Gna, Zeynep, Maryam, Naemi, | |
| Mert, Khaled, Mohammad, Kinan, Amro, Salsabeel, viele mehr. Finger über dem | |
| Kopf, Beine wie aufgeklappte Scheren, Drehung, Umarmung – fliegen. Kunst | |
| machen? „Man schämt sich ein bisschen“, sagen sie, „aber am Ende ist man | |
| stolz.“ | |
| Mit der Kultur ist es wie mit der reproduktiven Arbeit: Wird sie nicht | |
| gemacht, bricht das System zusammen. Seit zwei Jahren kann die Berliner | |
| Kulturszene nicht einatmen, bevor ihr Hände an den Hals gelegt werden. | |
| Neben der breiten Organisierung, die daraus gewachsen ist, sind Kräfte | |
| geschwunden, Hoffnungen, dass der Privatisierungskurs aufhört, verflogen. | |
| Cornelia Schuster, Leiterin des Landesverbands Kinder und Jugend (LKJ) sagt | |
| in ihrer Rede bei der Protestaktion vor dem Parlament: „Seit Ende 2023 | |
| kämpfen wir gegen die Kürzungen. Auf die Gefahr hin, dass ich mich | |
| wiederhole: Wir sind müde von Protesten, Kämpfen, Kündigungsgesprächen und | |
| Änderungsanträgen. Es strengt einfach unglaublich an.“ | |
| ## Durchschnittene Fäden | |
| Die Künstlerin Rike Nickel hat, um das breite Angebot und die gewachsenen | |
| Verbindungen der letzten Jahre zu zeigen, eine interaktive Karte mit Tape | |
| auf den Boden geklebt. Überall kleine Inseln, Kulturorte und freie Träger, | |
| verbunden durch Strickgarn. Am Ende wird das Garn durchgeschnitten. Der | |
| Bruch, den die Kürzungen verursachen. | |
| Einer schmerzt besonders: [1][der KinderKulturMonat – kurz KKM]. Der KKM | |
| hat in den letzten Jahren kostenlose Angebote in Museen, Theatern, Opern | |
| und Off-Spaces aufgebaut. Ob Probenbesuche an etablierten Häusern, | |
| Experimente mit Leierkästen im Museum, Kiez-Jugendclubs, Kinoführungen, | |
| Druckwerkstätten oder Instrumentenbau. An einem Tag im Oktober kommen bis | |
| zu 40 verschiedene Programmpunkte zusammen. | |
| „Seit 15 Jahren bauen wir gezielt Kooperationen mit Trägern der | |
| Jugendhilfe, sozialen Einrichtungen und Kulturorten auf“, sagt Jule Böttner | |
| vom KKM. „Wir haben lokale Vernetzungsarbeit in den Kiezen gemacht, bei | |
| Familienfesten, in Jugendtreffs, Familienzentren, und sind von 32 auf über | |
| 100 Kulturorte gewachsen.“ Diese stetige, geduldige Arbeit entlastet Solo- | |
| und geflüchtete Eltern, da sie Orte verbindet und die Kinder begleitet. Um | |
| Vertrauen zu schaffen, kommen Künstler:innen in Einrichtungen, machen | |
| Workshops, erst dann folgt ein gemeinsamer Ausflug zu den Kulturorten, | |
| unterstützt von Ehrenamtlichen. | |
| Es ist eine aufsuchende Kulturarbeit, ohne Eintrittpreise oder komplizierte | |
| Anträge, die auf Einzelpersonen lasten. Denn es gibt zwar für | |
| benachteiligte Familien den berlinpass BuT. Wie viele den nutzen, wird | |
| allerdings nicht erfasst. Bundesweit sind es bei solchen Angeboten wenig | |
| mehr als 15 Prozent. Sozialleistungen werden wegen sprachlicher Hürden, | |
| gewachsenen Ungleichheitsstrukturen und Beschämung auf dem Amt nicht so | |
| stark genutzt wie offene Angebote. Das weiß ein neoliberal denkender Staat. | |
| Zeitgleich steigt die Armut: Jede zweite Ein-Eltern-Familie ist | |
| armutsgefährdet. Die ärmsten zehn Prozent der Paarhaushalte mit einem Kind | |
| haben im Durchschnitt nur 44 Euro im Monat für Unterhaltung, Kultur und | |
| außerhäusliche Verpflegung zur Verfügung. Das reicht nicht einmal für eine | |
| Tanzklasse. Und wer chronisch krank ist, kann Kinder nicht zu Angeboten zu | |
| begleiten. | |
| Eigentlich hat der Senat einen Rekordhaushalt für 2026/27 aufgestellt. Es | |
| ist viel Geld da – doch die Kultur geht leer aus. Die Politik der | |
| Privatisierung ist nicht nur in ihrer Wirkung, sondern auch in der | |
| Umsetzung antidemokratisch. Es sind Steuergelder, die erst nicht gerecht | |
| eingenommen und dann nicht gut ausgegeben werden. Es ist ein Akt der | |
| Defragmentierung von Menschen, die miteinander im Austausch sein wollen. | |
| ## Auch Bildungsarbeit ist gefährdet | |
| Doch nicht nur die Kultur wird radikal unterfinanziert. Auch | |
| Bildungsangebote stehen in Berlin vor dem Aus. Dabei scheint dem Senat die | |
| Arbeit gegen rechte Influencer, wachsende Homo- und Transfeindlichkeit – | |
| wohlwollend gesprochen – egal. Wie sonst lässt sich argumentieren, dass es | |
| sich bei den Kürzungen nicht um Kulturkampf handelt? Sie treffen | |
| insbesondere Projekte, die eine plurale Gesellschaft wollen. | |
| „Gerade jetzt, wo Gleichstellungspolitik unter Druck steht – national und | |
| international –, braucht es Institutionen, die gegen Diskriminierung | |
| arbeiten – nicht ihre Abschaffung“, sagt Bernhard Könnecke vom Dissens – | |
| Institut für Bildung und Forschung e. V. | |
| Dissens arbeitet in der geschlechterreflektierten Jungen*arbeit, | |
| Gleichstellungsarbeit und Bildungsarbeit zu sexueller und geschlechtlicher | |
| Vielfalt. Um diskriminierende Inhalte aufzuspüren, prüft bisher die | |
| ehrenamtliche Berliner Jury gegen diskriminierende und sexistische Werbung, | |
| von Dissens koordiniert, Werbung. | |
| Sie wird im kommenden Haushaltsplan auf null gesetzt. Dabei gab in einer | |
| Studie des Deutschen Jugendinstituts fast jede zweite Schülerin und jeder | |
| zweite Schüler der 7. bis 9. Klasse an, sexualisierte Gewalt zu erleben – | |
| von verbalen Grenzüberschreitungen, Beleidigungen mit sexuellem Inhalt bis | |
| zu Berührungen. | |
| „Gerade Jungen sind heute massiv mit frauenfeindlichen Influencern | |
| konfrontiert. Es braucht pädagogische Räume, in denen Auseinandersetzung | |
| möglich wird“, sagt Könnecke. Die Nachfragen der Bildungseinrichtungen nach | |
| diskriminierungssensiblen Angeboten sind hoch. Doch auch QUEERFORMAT – die | |
| Fachstelle Queere Bildung, das Projekt queer@school, i-PÄD – | |
| Kompetenzstelle intersektionale Pädagogik, das Projekt ABqueer sowie viele | |
| weitere standen nach den ersten Planungen vor dem Aus. Zurzeit ist unklar, | |
| ob und wie eine Weiterführung durch die Senatsverwaltung geplant ist. | |
| Mangelndes Empowerment und Gleichstellung, fehlende Präventionsarbeit und | |
| Privatisierung von Kultur werden zu wachsenden Ausgaben führen, zu einer | |
| höheren Belastung des Gesundheitssystems und einer Verschärfung | |
| gesellschaftlicher Ungleichheiten. Solange sich Kultur nicht als nützlich | |
| behauptet, Zahlen liefert, scheint sie irrelevant. Doch das Flüchtige, | |
| Schöne und Dauernde, das sich ohne Weitsicht nicht ganz fassen lässt – das | |
| ist kostbar. So kostbar, dass es natürlich Geld dafür braucht. | |
| 17 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Kücking | |
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