| # taz.de -- Sozialstaat vs. Aufrüstung: Wer Zeitenwende sagt, muss auch Mieten… | |
| > Seit der Invasion der Ukraine lebt Deutschland mit einer Lebenslüge: Wenn | |
| > nur genug Geld da ist, dann tut Veränderung niemandem weh. | |
| Bild: Die Bundeswehr bekommt ihr Grundstück zurück: leerstehende Graf-Stauffe… | |
| Vier Zimmer, Küche, Bad. Wer in einer Großstadt ein Zuhause finden will, | |
| weiß, wie schwierig die Suche ist nach etwas, das eigentlich kein Luxus | |
| sein sollte: eine bezahlbare Wohnung. Hunderte Familien bewerben sich auf | |
| dasselbe Angebot, und jetzt kommt eine weitere, mächtige Konkurrenz hinzu. | |
| Die Bundeswehr will ihre Grundstücke zurück. | |
| Vier Stuben, Gulaschkanone, Latrine, heißt es dann. Interesse? Es werden | |
| noch Freiwillige gesucht. | |
| Es geht um 200 über das Land verteilte Grundstücke, viele waren längst | |
| anderweitig verplant. [1][In Heidelberg sollen auf dem Gelände einer | |
| US-Kaserne eigentlich Sozialwohnungen entstehen.] Vor den Toren Münchens | |
| drohen Bauprojekte mit 10.000 Wohnungen zu scheitern. Zehntausend! Und in | |
| Bielefeld fürchten Basketballer um ihren Trainingsplatz in einem alten | |
| Hangar. Denn die Bundeswehr braucht Platz. Für Kasernen, für die Musterung | |
| neuer Soldaten, und nicht zuletzt, um all die schönen neuen Geräte | |
| regensicher unterzustellen. | |
| Seit der ehemalige Bundeskanzler Olaf Scholz [2][die Zeitenwende] | |
| ausgerufen hat, lebt Deutschland mit einer Lebenslüge. Sie lautet: Wenn nur | |
| genug Geld da ist, dann gibt es keinen Konflikt zwischen Sozialstaat und | |
| Aufrüstung. Dann tut Veränderung niemandem weh. | |
| Mit dem Sondervermögen der Ampel nach der [3][russischen Invasion in der | |
| Ukraine] und dem noch größeren Schuldenberg der schwarz-roten Koalition | |
| sollten Verteilungskonflikte einfach zugeschüttet werden wie eine Baugrube. | |
| Doch die Zahl der Grundstücke ist endlich, daran kann kein Geld der Welt | |
| etwas ändern. | |
| ## Eine ehrliche Debatte wurde lange vermieden | |
| Nach einem ähnlichen Muster – politische Konflikte vermeiden, bis es nicht | |
| mehr geht – lief zuletzt die [4][Debatte über die Wehrpflicht]. Die | |
| Bundeswehr braucht mehr Soldaten. Woher sie kommen sollen, ist unklar. | |
| SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius setzt auf Freiwilligkeit, die | |
| Union auf Zwang, und der Kompromiss hieß: Losverfahren. Die Empörung war | |
| groß, die Regierung verkrachte sich einmal mehr. | |
| Dabei hilft es nicht, darauf zu verweisen, dass Länder wie Dänemark oder | |
| Schweden mit einem (etwas anderen) Losverfahren doch gute Erfahrungen | |
| machen. Denn die Deutschen haben ein anderes Verhältnis zu ihrem Staat und | |
| seiner Armee. Und damit ist nicht nur das Erbe der Wehrmacht gemeint. | |
| Wer wie in Skandinavien in einem funktionierenden Sozialstaat lebt, eine | |
| funktionierende öffentliche Infrastruktur genießt und dank eines streng | |
| regulierten Wohnungsmarkts eine bezahlbare Wohnung bekommt, ist womöglich | |
| eher bereit, seinem Land zu dienen. Deutsche dagegen werden bei einem | |
| Zwangsdienst skeptisch: Warum sollte ich Deutschland dienen, was hat | |
| Deutschland je für mich getan? | |
| Eine ehrliche Debatte darüber, was die neue Sicherheitslage bedeutet, was | |
| der Staat von seinen Bürgern verlangen kann – und was die Bürger im | |
| Gegenzug von ihrem Staat –, beginnt gerade erst. Sie wurde lange vermieden, | |
| aus Angst vor der eigenen Bevölkerung. | |
| Ein funktionierender Sozialstaat mit bezahlbaren Wohnungen und eine | |
| funktionierende Bundeswehr, das muss beides möglich sein. Und weil der | |
| Platz für Neubauwohnungen und Kasernen nun einmal begrenzt ist, heißt das: | |
| Wer Zeitenwende sagt, muss auch Mietendeckel sagen, muss sich auch | |
| Umverteilung trauen. | |
| Sonst wird immer die Akzeptanz in der Bevölkerung fehlen, für jede Form der | |
| Transformation. Und genug Soldaten wird man so auch nicht finden. Die | |
| Bundeswehr sollte auf Grundstücke verzichten, auf denen Wohnungen geplant | |
| sind. Das dürften ruhig auch mal der Kanzler und sein Verteidigungsminister | |
| sagen. | |
| 1 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kersten Augustin | |
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