| # taz.de -- Psychiater über Otrovertierte: „Manche Leute gehen mit einem Ali… | |
| > Oft ist in der Psychologie von Introvertierten und Extrovertierten die | |
| > Rede. Psychiater Rami Kaminski will einen dritten Typus identifiziert | |
| > haben. | |
| Bild: Otrovertierte bemerken früher als andere, wenn gesellschaftlich etwas in… | |
| taz: Herr Kaminski, das Prinzip „Wir gegen die“ greift weltweit um sich. Ob | |
| in der sogenannten Identitätspolitik oder im Nationalismus: Das Denken in | |
| Freund-Feind-Gruppen nimmt zu. Glücklicherweise gibt es Menschen, die | |
| weitgehend immun dagegen sind, sagen Sie, und haben jenen Leuten nun ein | |
| Buch gewidmet. | |
| Rami Kaminski: Man könnte diese Leute als freiwillige Außenseiter | |
| bezeichnen: Sie hegen eine tiefe Skepsis gegen Gruppenbildungen jeglicher | |
| Art und halten sich davon fern. Es ist ein Phänomen, das ich in meiner | |
| Praxis seit Jahrzehnten beobachte: das Fehlen eines Gemeinschaftssinns. Die | |
| Unfähigkeit, sich irgendeiner Gruppe zugehörig zu fühlen, sei es einer | |
| Freizeitclique, dem Bürokollegium oder, in großem Maßstab, einer Nation. | |
| Dieses Merkmal findet sich in allen Altersklassen, Geschlechtern und | |
| Ethnizitäten, egal ob arm oder reich. Die Betroffenen kommen sich in | |
| Gruppen stets wie Beobachter oder Besucher vor. Manche sagen auch, sie | |
| gehen mit einem Alien-Gefühl durchs Leben, immer mit dem Eindruck, nicht | |
| richtig dazuzugehören. Und eigentlich auch gar nicht dazugehören zu wollen. | |
| taz: Sie sprechen von den „Otrovertierten“. | |
| Kaminski: „Otro“ wie „other“ – „anders“. Bislang kennen wir den | |
| Introvertierten und den Extrovertierten, Begriffe des Psychiaters [1][Carl | |
| Gustav Jung]. Die introvertierte Person richtet ihren Blick überwiegend | |
| nach innen, mal um sich vor der Außenwelt zu schützen, mal um sich selbst | |
| zu überprüfen: Mache ich alles richtig in meiner Umgebung? Die | |
| extrovertierte Person hingegen blüht im Außen erst so richtig auf, braucht | |
| die anderen, ein Publikum, um sich selbst zu spüren. Beide sind also stark | |
| auf ihre Gruppenumgebung bezogen. Die otrovertierte Persönlichkeit aber | |
| schaut weder nach innen noch nach außen, sondern in eine andere Richtung – | |
| weit über das Gruppengetriebe hinaus. Das macht den Otrovertierten zu einem | |
| äußerst wertvollen Zeitgenossen, gerade in Zeiten wie diesen. Er kann der | |
| Kanarienvogel im Bergwerksstollen sein. | |
| taz: Sie meinen: Der otrovertierte Mensch kann andere vor einer Katastrophe | |
| warnen? | |
| Kaminski: Vor hasserfüllter Massenhysterie, vor Menschenfeindlichkeit, | |
| religiösem Fanatismus, faschistischen Tendenzen – ja. | |
| taz: Erklären Sie das bitte. | |
| Kaminski: Die gruppenbezogene Persönlichkeit ist empfänglicher für das | |
| Fantasma des nationalistischen [2][Patriotismus] – weil sie über weniger | |
| innere Freiheit verfügt. Sie macht meist kaum einen Unterschied zwischen | |
| der sie umgebenden äußeren und ihrer inneren Welt, bezieht vieles | |
| unmittelbarer auf sich selbst, fühlt sich eher belästigt oder persönlich | |
| angegriffen, regt sich schneller auf, achtet ständig auf die anderen, die | |
| „eigenen“ und die „fremden“ Leute. Eine solch gruppenbezogene Weltsicht… | |
| den Effekt, dass man sich letztlich wohl niemals wirklich unbeobachtet | |
| fühlt. Das begünstigt Unzufriedenheit, Selbstbefangenheit und Aggressionen | |
| gegen andere. Es ist eine Art von Tribalismus – ein sehr viel engeres | |
| Lebensgefühl als bei einem Otrovertierten, dem Gruppenregeln tief in seinem | |
| Innern schnuppe sind. | |
| taz: Können Sie das mit dem Tribalismus noch etwas konkreter erläutern? | |
| Kaminski: „Auf welcher Seite stehst du?“: Das wäre eine typische Frage | |
| eines Tribalisten. Die Tribalisten sind eine Untergruppe der | |
| gruppenorientierten Persönlichkeiten, hochaggressiv und derzeit sehr laut. | |
| „Bist du ein richtiger Amerikaner?“, heißt es etwa bei uns in den USA jetzt | |
| ständig. Aber: Wer bestimmt, was ein richtiger Amerikaner ist? Die | |
| angebliche Mehrheit? Ein autoritärer Herrscher? Ein otrovertierter Mensch | |
| ist für solche Verallgemeinerungen oder Gruppenhysterien kaum anfällig. Er | |
| braucht die Bestätigung durch andere nicht so sehr, deshalb ist sein Blick | |
| auf Gruppendynamiken klarer, schärfer, kühler. | |
| taz: Ursprünglich kommen wir ohnehin alle als Otrovertierte zur Welt, | |
| schreiben Sie. | |
| Kaminski: Richtig. Kein Baby kann sich aussuchen, in welche Familie, welche | |
| Einkommensklasse, welche Glaubenswelt es geboren wird. All diese | |
| Zuordnungen interessieren es auch nicht! Kein Baby hasst irgendwen. Das | |
| wird ihm erst nach und nach beigebracht, im Namen der Kultur, der Religion, | |
| der Nation, von wem auch immer. Der erwachsene Otrovertierte hat sich eine | |
| Spur dieser frühkindlichen Wachheit erhalten. Jede Gruppe, sei es die | |
| Familie, ein Sportclub, eine Partei, unterliegt ja einer geteilten Dynamik: | |
| Einerseits geht es um Zugehörigkeit, andererseits um Ausschluss. Diese | |
| Dynamik von Anbindung und Abgrenzung beruht meist auf willkürlichen oder | |
| rein symbolischen Kriterien, das ist also nie etwas Natürliches, immer | |
| etwas Menschengemachtes – so nimmt es ein otrovertierter Mensch instinktiv | |
| wahr. | |
| taz: Und deshalb will er oder sie sich den Regeln der Gruppe nicht fügen? | |
| Kaminski: Das Gruppengetue gibt der otrovertierten Person nichts. Sie kann | |
| weder daran glauben noch sich damit identifizieren, zweifelt die | |
| Sinnhaftigkeit von Gruppenregeln an, findet sie ärgerlich oder lächerlich. | |
| Dabei sind Otrovertierte durchaus gern mit anderen zusammen. Nur eben nicht | |
| rund um die Uhr. Und tendenziell lieber zu zweit als zu zwölft. Es geht | |
| ihnen im Zusammensein mit anderen eher um Qualität als um Quantität. | |
| taz: Ein Alltagsbeispiel? | |
| Kaminski: Nehmen wir einen beruflichen Empfang oder eine Hochzeitsfeier: | |
| Otrovertierte fühlen sich dort unwohl, sie können mit Small Talk nichts | |
| anfangen. Meist bilden sich bei solchen Anlässen Untergrüppchen, hier | |
| stehen Leute aus Abteilung X, dort die aus der Clique Y – für einen | |
| Otrovertierten ist das anstrengend, er kann sich nicht entscheiden, wem er | |
| sich anschließen soll, und findet das stressig. Aber: Er oder sie kann | |
| stundenlang auf demselben Partysofa sitzen, in ein intensives Gespräch mit | |
| einer Einzelperson vertieft. Ob es um Kunst, Kochen oder Politik geht: Der | |
| otrovertierte Mensch ist in der Lage, sich voll und ganz auf ein Thema | |
| einzulassen und damit auch auf sein individuelles Gegenüber. „Mit dir kann | |
| man sich unheimlich gut unterhalten“: Dieses Kompliment bekommt ein | |
| Otrovertierter oft zu hören. Und daraus ergibt sich auch seine hoch | |
| entwickelte Toleranz- und [3][Empathiefähigkeit]. | |
| taz: Toleranz und Empathie? Inwiefern? | |
| Kaminski: Nun, wenn man anderen von einem persönlichen Problem erzählt, | |
| erhält man oft Ratschläge wie: „Ach, so ähnlich war es bei mir auch mal.“ | |
| Oder: „Ich an deiner Stelle würde einfach dieses oder jenes tun.“ Eine | |
| otrovertierte Person würde so nicht reden. Er verfügt über die Fähigkeit, | |
| seine eigene Perspektive von der des anderen zu unterscheiden. | |
| taz: Das bedeutet? | |
| Kaminski: Statt von sich selbst zu erzählen, würde ein otrovertierter | |
| Mensch eher sagen: „Erzähl mir mehr von deinem Problem, wann genau fing das | |
| an?“ Otrovertierte bewerten andere nicht so schnell, schon gar nicht nach | |
| irgendwelchen angeblich allgemeingültigen Rastern. Sie haben auch selten | |
| das Gefühl, etwas zu verpassen, nur weil sie nicht an dieser oder jener | |
| Kollektivveranstaltung teilnehmen. Das ist eine große Stärke: Wenn man ohne | |
| Wettbewerbsgedanken durchs Leben gehen kann. Was angeblich gerade „in“ ist | |
| und was „passé“, worüber „man“ spricht und worüber nicht, Statussymb… | |
| „Follower“-Zahlen und andere Ranking-Methoden: Das alles lässt | |
| otrovertierte Menschen weitgehend kalt. | |
| taz: Nicht jeder Otrovertierte wird aber zum stolzen Rebellen, viele | |
| entwickeln Anpassungsstrategien, wie Sie schreiben. | |
| Kaminski: Das stimmt. In meine Praxis kam eine Mutter, die sich um ihren | |
| 15-jährigen Sohn sorgte: Er werde oft eingeladen, nehme aber so gut wie nie | |
| an Sportveranstaltungen oder Teenie-Streichen teil. Als der Junge vor mir | |
| saß, zeigte sich: Er war sich der Erwartungen seiner Eltern und seiner | |
| Mitschüler voll bewusst. Otrovertierte sind gern allein. „Mir ist nie | |
| langweilig, ich brauche den Rummel nicht“: Solche Dinge hörte ich auch von | |
| dem Jungen. Da er die anderen nicht brüskieren wollte und auch nicht | |
| wollte, dass man ihn für „unnormal“ hielt, nahm er gelegentlich doch an | |
| Gruppenveranstaltungen teil und tat so, als ob es ihm Spaß machte.Ich nenne | |
| diese Taktik „Pseudo-Extrovertiertheit“: Viele Otrovertierte spielen bis zu | |
| einem gewissen Grad mit, geben vor, engagiert dabei zu sein, und machen | |
| sich dadurch zwar beliebt, leiden aber manchmal ganz schön darunter. | |
| taz: Sie betreiben soziale Schauspielerei – kann man das so sagen? | |
| Kaminski: Innerlich sind sie Außenseiter, äußerlich benehmen sie sich aber | |
| oft wie Insider. Gerade weil sie die sozialen Spielregeln so analytisch | |
| betrachten, können sie sich ihnen scheinbar mühelos anpassen. Doch die | |
| Scharade kostet eine Menge Energie, vor allem in der Pubertät. Ab etwa 25 | |
| Jahren, wenn mehr Selbstbestimmung möglich ist, wird es für die meisten | |
| Otrovertierten besser. | |
| Wobei es wohl auch im Job schwierig sein kann: Sogenannte | |
| Teambuildingmaßnahmen wie „Bowling für die ganze Abteilung“ sind in vielen | |
| Firmen heute Pflicht. | |
| Kaminski: Oh ja, eine Hölle für den Otrovertierten, Gruppen-Feeling auf | |
| Kommando: eine Qual! Auch der Sinn von „Meetings“ erschließt sich ihm nicht | |
| immer. Deutlicher gesagt: Nein, der Otrovertierte ist nicht unbedingt ein | |
| guter Teamplayer – eher ein begnadeter Solist als ein Orchestermusiker. | |
| taz: Und wie sieht es in der Liebe aus? | |
| Kaminski: Die otrovertierte Persönlichkeit ist zu tiefen, verlässlichen | |
| Bindungen fähig, verspürt aber nicht den Drang, mit dem anderen zu | |
| verschmelzen, möchte ihn nicht verändern, gönnt ihm viel Raum und Zeit und | |
| wünscht sich dieselben Freiräume auch umgekehrt. Das Problem: Mitunter | |
| fühlt sich die andere Seite deshalb „nicht richtig geliebt“. Bei | |
| heterosexuellen Paaren kommt hinzu, dass er und sie oft glauben, eine | |
| bestimmte Gruppe, ihr jeweiliges Geschlecht, repräsentieren zu müssen, nach | |
| dem Motto: Dies und das ist „typisches Männerverhalten“, dieses und jenes | |
| ist „typisch Frau“ – alles alberne und lästige Verhaltensregeln, aus Sic… | |
| der otrovertierten Person. Sie kann und will gewisse romantische | |
| Paarerwartungen also nur schwer oder gar nicht erfüllen. Auch deshalb sind | |
| viele über längere Phasen – und nicht ungern – Single. | |
| taz: Woran liegt es, dass manche Menschen so sind und andere nicht? Die | |
| Otrovertiertheit kann man nicht erlernen, schreiben Sie. | |
| Kaminski: Genau. Und man muss sie auch nicht „kurieren“. Es handelt es sich | |
| nicht um eine psychische Störung, sondern um ein angeborenes | |
| Persönlichkeitsmerkmal. Man hat es oder man hat es nicht, so wie manche | |
| Linkshänder sind und andere nicht. Seit vier Jahrzehnten in der Praxis | |
| denke ich nun schon über diese Fragen nach: Warum leben manche Menschen mit | |
| diesem distanzierten Verhältnis zu ihrer Gruppenumgebung? Und warum | |
| empfinden gerade diese Menschen ihr Leben als besonders reich und | |
| erfüllend? Die Forschung steht da im Moment noch ganz am Anfang. | |
| taz: Was schwebt Ihnen im Weiteren vor? | |
| Kaminski: Mit ein paar Kollegen habe ich das [4][Otherness Institute] | |
| gegründet, eine Plattform, auf der wir Material zum Thema sammeln und an | |
| die Menschen sich wenden können, die sich von dem Konzept angesprochen | |
| fühlen. Mittlerweile haben sich mehr 26.000 Menschen bei uns gemeldet. Das | |
| ist in keiner Weise repräsentativ, aber immerhin verfügen wir über eine | |
| erste kleine Datenbasis, die wir nun systematischer auswerten wollen. So | |
| viel zeichnet sich schon ab: Es gibt wohl doch mehr Otrovertierte da | |
| draußen, als ich ursprünglich angenommen hatte. Und das halte ich, wie | |
| gesagt, für eine gute Nachricht – wir können sie gerade wirklich gut | |
| gebrauchen. | |
| taz: Als Kanarienvögel mit antifaschistischer Warnfunktion … | |
| Kaminski: Sagen wir so: Otrovertierte Menschen nehmen sehr fein wahr, wann | |
| eine Gesellschaft – die ja nichts anderes als eine besonders große Gruppe | |
| ist – einen fanatischen Spasmus erlebt. Es kann nicht schaden, ihnen gerade | |
| jetzt aufmerksam zuzuhören. | |
| 1 Nov 2025 | |
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| Katja Kullmann | |
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