| # taz.de -- Spionin in der Redaktion | |
| > Als erste überregionale Tageszeitung stellt die taz den Druck ihrer | |
| > täglichen Ausgabe ein. Es ist nicht das erste Mal, dass sie | |
| > Mediengeschichte schreibt. tazlerInnen haben aus der bewegten | |
| > Vergangenheit der Zeitung einen autofikitonalen Agententhriller | |
| > geschrieben – als Fortsetzungserzählung, weitergereicht über zwei Wochen | |
| > von einem zur anderen | |
| Von Felix Zimmermann, Simone Schmollack, Konstantin Nowotny, Nicole Opitz, | |
| Jasmin Kalarickal, Beate Willms, Svenja Bergt, Anja Mierel, Katrin | |
| Gottschalk, Ulrike Winkelmann, Anja Krüger, Andreas Rüttenauer, Sophie | |
| Jung, Harriet Wolff, Jens Uthoff und Anne Fromm | |
| Sie musste Stefan anrufen, am besten sofort. Der Abend, ach, die ganze | |
| Nacht wäre fast in einem Desaster geendet. Beinahe hatte sie sich verraten. | |
| Stefan hatte sie auf diesen Haufen einfach miserabel vorbereitet. Sie | |
| musste das bereden. Klären, wie es weitergehen würde, besser: ob es | |
| weitergehen kann. Ob sie die Richtige war. | |
| Aber erst musste sie einigermaßen klar reden können. Was würde ihr | |
| Führungsoffizier denken, wenn sie völlig verkatert bei ihm anriefe und | |
| halbwirres Zeug redete? Außerdem lag dieser Michi neben ihr, der war | |
| einfach mitgekommen. Na ja, sie hatten rumgeknutscht und dann hatte sie | |
| nichts dagegen gehabt. Wenn es der Sache diente … War ihr noch nie | |
| passiert, dass sie so schnell Zugang in eine Gruppe bekommen hatte. Naive | |
| linke Westdeutsche. Michi fand sie attraktiv, war ihr den ganzen Abend | |
| nicht mehr von der Seite gewichen bei dieser Party. Was genau der Anlass | |
| für die Feier gewesen war, war ihr nicht ganz klar geworden – wie so vieles | |
| nicht. Manches war aber auch im Dunst permanent kreisender Riesenjoints | |
| untergegangen. Und gesoffen wurde da, es war der Wahnsinn. | |
| Sie musste das sortieren: Eine Zeitung hatten sie gegründet, „täglich links | |
| und radikal“. Das hatten sie ständig gesagt und, je später der Abend wurde, | |
| gelallt, „tällich linggs un ra-addikaal“. Was das aber genau sein sollte, | |
| schien niemand zu wissen. Da liefen Trotzkisten rum und grüne Zauselbärte, | |
| kurzhaarige Frauen mit Strickpullis, einer wollte „die Arbeiter“ erreichen, | |
| in einer Ecke saßen ein paar Typen, die enge Hemden trugen und betont | |
| breitbeinig in abgenutzten Polstermöbeln saßen, „die stehen auf | |
| Minderjährige, die Pädo-Fraktion“, hatte Michi ihr zugeraunt, andere waren | |
| wohl mit einem Bein im Untergrund oder auf dem Absprung. | |
| Einer saß da, der sagte den ganzen Abend nichts, guckte nur leicht | |
| spöttisch durch seine runden Brillengläser, trank nur Wasser. Ob der einen | |
| Plan hatte? Ein einziges Durcheinander war das, anscheinend durfte jeder | |
| mitmachen – und sie sollte sich einen Überblick verschaffen. | |
| „Tazzler“ nannten sie sich, „aber mit zwei Z“, wie Michi sagte, darin | |
| immerhin waren sie sich einig. Dass Stefan offenbar auch ziemlich | |
| orientierungslos war, zeigte ihre Tarnidentität: Carmen, Tochter eines | |
| antifrankistischen Republikaners, der auch in Lateinamerika gekämpft hatte. | |
| Das würde diese westdeutschen Linken bestimmt beeindrucken und ihr die | |
| Arbeit erleichtern, hatte Stefan vermutet. „Die sind viel zu sehr mit sich | |
| selbst beschäftigt, die kennen gerade mal Che Guevara.“ Und genau das war | |
| fatal gewesen! Denn die meisten von denen hatten einen Lateinamerikafimmel. | |
| Die kannten jede Guerillagruppe und sammelten Geld für die Guerilleros in | |
| El Salvador. El Salvador, ausgerechnet, da hatte sie echt Lücken. War das | |
| die Tendencia Revolucionaria, TR, oder das Ejercito Guerrillero del Pueblo? | |
| EZLN? FARC? FMLN? FSLN? Herrje! Sie hatte zu wenig Zeit gehabt, sich | |
| vorzubereiten. Stefans Vorgesetzter im Ministerium für Staatssicherheit | |
| hatte gedrängelt: „Wir brauchen endlich Klarheit, was diese Tageszeitung | |
| vorhat, auf welcher Seite die stehen.“ | |
| Angeblich hatte er sie ausgewählt, weil sie schon in Bonn ziemlich nah an | |
| die Naturschutzpartei „Die Grünen“ gekommen war, deren Protagonisten den | |
| Obersten aber schnell zu unwichtig erschienen waren: „Es reicht, mehr | |
| Müslirezepte brauchen wir nicht“, hatte Stefan ihr übermittelt. Dann war | |
| sie abgezogen worden. | |
| Jetzt also: Berlin-Wedding, ein ehemaliger Industriekomplex, die taz und | |
| das Chaos. Ein stickiger Raum voller Menschen, Carmen mittendrin. „Jetzt | |
| sag schon, wie bewertest du den Einfluss von Ernest Mandel auf die | |
| Nationale Befreiungsfront in El Salvador?“ Zum Glück war Michi genau in dem | |
| Moment dazugekommen, hatte sie mit seinen flackernden Augen fixiert und sie | |
| aus der Gruppe der Sandinisten-Amigos gezogen. „Komm, wir gehen kurz raus“, | |
| hatte er gesagt. | |
| ## Alltag in der Wattstraße | |
| Es war spät geworden gestern, Basisdemokratie halt. Wer am längsten sitzen | |
| bleibt, kriegt seine Sachen durch, das hatte Brigitte schnell gelernt. Also | |
| blieb sie bis zum bitteren Ende in der Redaktion, im Gegensatz zu dieser | |
| Neuen, Carmen. Die schien nur vögeln zu wollen. Brigitte aber durfte nichts | |
| verpassen. Also war sie heute wieder die Erste in der Redaktion und setzte | |
| sich erst einmal eine Sandinodröhnung auf. Ohne den schwarzen Magenkiller | |
| würde aus diesem Tag nix werden. | |
| „Ihr müsst alle zum Heinrichplatz, die Bullen haben gestern …“ Oh Mann, … | |
| hatte gerade noch gefehlt: Christian Specht, dieser besondere Kollege. | |
| Sprang auf jeder Demo rum, lobbyierte ständig für ein Behindertenparlament, | |
| malte Bilder und hängte sie in der Redaktion auf. Seit Neuestem kreuzte | |
| dieser Junge jeden Tag hier auf. „Christian, außer uns ist noch keiner da“, | |
| versuchte es Brigitte, um schnell davon abzulenken, dass sie selbst auch | |
| schreiben könnte. Der junge Mann trug eine hölzerne Kamera um den Hals, die | |
| er offensichtlich selbst gebastelt hatte. „Und der schwarze Block, die | |
| haben mich ausgegrenzt, das geht gar nicht“, beschwerte er sich. | |
| „Na, komm, Spechti, ich nehm dich schon mal mit hoch.“ Brigitte verschwand | |
| mit dem wütenden Christian in die Redaktionsräume. Grüne Ohrringe aus | |
| Plexiglas, Strickpullover, spitze Stiefel – ihre Tarnung war gut. Die | |
| meisten fanden sie ganz nett, aber auch ein bisschen undurchsichtig. Fundi | |
| oder Realo? Bei Brigitte wusste man nicht, woran man war. | |
| Kaum an ihrem Platz, klingelte das Telefon, Durchwahl -212. Puh, Kalle. | |
| Klar, der hatte wie Brigitte gestern nur Wasser getrunken und saß schon | |
| wieder über den Kontoauszügen. Immerhin, der Einzige in diesem Haufen, der | |
| ansatzweise Ahnung von Zahlen hatte. „Ham wir Post von den Anwälten?“, kam | |
| es grußlos aus dem Hörer. Was meinte der? Und apropos Anwalt, wann kam | |
| eigentlich Ströbele mit den Schrippen? | |
| ## Revolution vor der Haustür | |
| Hektisch kramte Carmen in der Tasche. Wo war dieser Kajal? Ohne einen neuen | |
| Lidstrich konnte sie sich in der Redaktion nicht blicken lassen. Wenn ihre | |
| Kollegen sehen würden, dass sie die ganze Nacht geheult hatte, wäre sie | |
| enttarnt. | |
| Es waren jetzt schon fünf Monate, die die taz in der Kochstraße saß, gleich | |
| beim Checkpoint Charlie. Carmen fiel es immer noch schwer, hier zu | |
| arbeiten. In Sichtweite des antifaschistischen Schutzwalls. Aber der war | |
| jetzt eh Geschichte. Letzte Nacht waren sie auf ihm rumgesprungen wie auf | |
| einem Klettergerüst. Diese Idioten. | |
| Klar, es hatte sich abgezeichnet, dass etwas ins Rutschen gerät. Die große | |
| Demo auf dem Alex, das neue Politbüro. Aber der Schutzwall, kaputt? Carmen | |
| konnte nicht fassen, wie man so leichtfertig alles hinter sich lassen | |
| konnte, woran sie geglaubt hatten. | |
| „Guten Morgen, meine Sonne“, rief es hinter ihr. Sie erkannte die Stimme | |
| sofort. Christian. „Die Mauer ist weg, Carmen.“ „Ja.“ Mehr brachte sie | |
| nicht hervor. Mit Christian verband sie eine Hassliebe. Er war es, der ihr | |
| immer widersprach, wenn sie versuchte, Texte über die wahren Verhältnisse | |
| im real existierenden Sozialismus in der Zeitung unterzubringen. „In der | |
| DDR gibt’s ja nicht mal freie Radios“, hatte er ihr an den Kopf geknallt. | |
| Andererseits war er der Einzige unter diesen bürgerlichen West-Linken, der | |
| noch immer von einer echten Revolution träumte. | |
| Denn davon hatten sie hier keine Ahnung. Die taz war ein Haufen | |
| Linksextremisten, ohne klare politische Linie. Ihr Blick auf die DDR? | |
| Kleinbürgerlich-anarchistisch, ohne Verständnis für die Erfordernisse und | |
| Probleme des sozialistischen Aufbaus. So hatte sie es Stefan ins | |
| Ministerium durchgegeben. | |
| Christian schob Carmen in das Treppenhaus. „Los, wir müssen eine Zeitung | |
| machen“, sagte er. Nur wie sollte ihr das heute gelingen? Die DDR war am | |
| Ende. Wenn jetzt auffliegt, dass sie gar nicht Carmen, die Journalistin aus | |
| Marburg war, was würden diese Links-Chaoten dann mit ihr machen? | |
| Carmen drehte um und schwang sich auf ihr Rad. Sie raste durch die | |
| jubelnden Massen am Grenzübergang Checkpoint Charlie. Wahnsinn, was hier | |
| los war. Über den Alex, immer gerade aus. Vor dem Plattenbau in der | |
| Magdalenenstraße parkte sie ihr Rad. Sie nahm drei Treppenstufen auf | |
| einmal, bis sie oben angelangt war. Hauptabteilung XXII, zuständig für | |
| Terrorabwehr. Dort waren ihre letzten zehn Jahre in der taz archiviert. | |
| Einschätzungsberichte, Observationsprotokolle, Charakterstudien der | |
| taz-Mitarbeiter. | |
| Stefans Büro war leer. Carmen riss die Akten aus dem Schrank. | |
| „Registriernummer XV 1268/86“, stand handgeschrieben auf der ersten. Carmen | |
| schmiss den Schredder an und gab das Papier seinen Klingen hin. Als sie | |
| alle 42 Akten vernichtet hatte, ließ sie sich in Stefans Sessel fallen. Im | |
| Spiegel sah sie ihr erleichtertes Gesicht. Noch einmal zog sie ihren | |
| Lidstrich nach. Sie würde nun zurück in die taz fahren und Zeitung machen. | |
| Sie würde die abgeklärte West-Linke geben, aufgekratzt von dieser | |
| historischen Nacht. „Die Mauer tritt zurück – Wann geht Kohl?“, wäre das | |
| nicht eine gute Zeile für die Seite 1 morgen? Und sollte die taz jetzt | |
| nicht schnell ein Büro in Ost-Berlin gründen? Das musste sie gleich Kalle | |
| erzählen. | |
| ## Eine für alle | |
| Rumms! Da war es wieder. Rumms! Carmen zog sich das Kissen über den Kopf. | |
| Sie musste nachdenken. Wieder krachte es, „Ha!“, brüllte jemand. Warum war | |
| sie bloß hier in die Linienstraße gezogen? Und warum mussten sich diese | |
| Hausbesetzerinnen immer Neues einfallen lassen?! Erst wollten die Frauen | |
| eigene Räume. Und jetzt waren sie dabei, die Wände zu durchbrechen, | |
| Privateigentum ist der Beginn alles Bösen, sagten sie. Oder so. Da hatte | |
| sie beim Plenum nicht mehr hingehört. Denn gerade vorher hatte dieser Emil, | |
| wegen dem sie ihre taz-Auszeit hier verbrachte, etwas erzählt, das | |
| vielleicht neue Wege öffnete. | |
| Die Ost-taz war ein Reinfall gewesen. Sie hätte hier alle Zelte abbrechen | |
| sollen. Aber irgendwie hatte sie sich in der taz vertändelt und das große | |
| Ganze aus den Augen verloren. Ein bisschen Abstand war nötig gewesen. Sie | |
| würde ein Buch schreiben, hatte sie erzählt. Die Linienstraße war ihr dafür | |
| als guter Ort erschienen. Hier hatten viele Tarnnamen, alle waren irgendwie | |
| antikapitalistisch, antifaschistisch, feministisch – wie in der taz, nur | |
| linker. Diskutiert wurde leider genauso viel. | |
| Aber nun hatte also Emil, der ab und zu für die taz schrieb, erzählt, dass | |
| die tazzler eine Genossenschaft gegründet hatten, natürlich war es wieder | |
| Ströbele gewesen, der das durchgesetzt hatte, unterstützt von Kalle, dem | |
| Pfennigfuchser. Fast dreitausend Leser hatten insgesamt drei Millionen Mark | |
| dafür aufgebracht – drei Mios! Unfassbar. | |
| Emil hatte erzählt, dass sich noch mehr geändert habe, Michi jetzt | |
| „Chefredakteur“ sei, zusammen mit Elke. Und dass es Ressort- und | |
| Abteilungsleitungen gab. Carmen ruckte hoch. Leitung, das klang doch gut. | |
| Und dieser Typ, der dieses neue, angeblich einzigartige „Öwi-Ressort“ hatte | |
| haben wollen? Genau: Hermann. Der war doch sicher auf der Suche nach guten | |
| Leuten. Mit Emil war sie eh durch. Zeit, um ihre Rückkehr zur taz | |
| vorzubereiten. | |
| ## Die Nachwehen der RAF | |
| Brigitte seufzte, die immer gleichen Diskussionen über das von der RAF in | |
| die Luft gesprengte Gefängnis bei Weiterstadt gingen ihr auf die Nerven. Ob | |
| das eigentlich in Ordnung sei, weil niemand verletzt wurde? Ob das nicht | |
| sogar notwendig sei, weil ein Hochsicherheitsgefängnis sowieso viel zu | |
| unmenschlich sei? Ticken die noch ganz richtig? Sie war ja ganz froh, dass | |
| sie ihr mageres taz-Gehalt mit ihrer Tätigkeit als V-Frau aufstocken | |
| konnte, aber sie war sich nicht sicher, wie lange sie es hier noch | |
| aushalten würde. | |
| Anfangs fand sie die Diskussionen in der Redaktion ja noch drollig: Darf | |
| man noch Haarspray benutzen oder Kühlschränke haben, wenn das das Ozonloch | |
| vergrößert? Ist das überhaupt ethisch vertretbar, so eine gedruckte Zeitung | |
| auf Papier, wenn der Wald doch stirbt? Und sind Produktionen ohne Setzer | |
| politisch korrekt? | |
| Brigitte schüttelte den Kopf, sie war ja eigentlich mal selbst so gewesen – | |
| naiv und links. Die Welt verbessern wollend. Aber irgendwann ist es Zeit, | |
| erwachsen zu werden. Andererseits waren die Typen beim Verfassungsschutz | |
| auch nicht ohne. Mitten in ihre Gedanken platzte Christian Specht. „OKAY“, | |
| rief er. „Die haben Radio 100 abgewickelt, einfach so! Frechheit. Weißt du | |
| was dazu?“ Brigitte wusste es nicht. „Ruf mal den Semler an, der weiß so | |
| was!“ | |
| Brigitte griff zum Hörer, aber Christian Semler ging nicht ran. Glück | |
| gehabt. Ihre neue On-off-Beziehung verunsicherte sie. Jetzt schnell weg. | |
| Auf dem Weg nach draußen stolperte Brigitte noch über Ralph am Empfang. | |
| Sein Schwarzer-Krauser-Tabak stank fürchterlich, aber sein sonores „Tschüs�… | |
| beruhigte sie. | |
| ## Der wahre linke Journalismus im Lokalen | |
| Das kann doch nicht wahr sein, dachte Brigitte. Als Mitglied des | |
| Berlin-Ressorts war sie Auseinandersetzungen zwischen den KollegInnen | |
| für die lokale und denen für die überregionale Politik ja gewohnt. Jetzt | |
| aber war sie zu Besuch beim Lokalteil in Hamburg und konnte es nicht | |
| fassen. Die waren sogar noch mehr davon überzeugt als die Berliner, den | |
| einzig wahren linken Journalismus zu machen! Jeder zweite Satz in der | |
| Konferenz begann mit: „Die Irren in Berlin haben schon wieder …“, und dann | |
| kam eine Ausführung dazu, warum man sich in Gorleben viel besser auskenne | |
| als die Überregionalen, oder warum die Geschäftsführung nicht mehr alle | |
| Tassen im Schrank habe. | |
| Ihre Verfassungsschutzleute in der Kölner Zentrale hatten sie hergeschickt, | |
| weil die dachten, womöglich sei der linksradikale Selbstanspruch der | |
| taz-Lokalen ein Hinweis auf echte Connections in den terroristischen | |
| Untergrund – doch davon konnte sie hier nicht viel feststellen. Vielleicht | |
| würde sie sogar früher als gedacht nach Berlin zurückfahren. Die | |
| interessantere Frage war für sie seit geraumer Zeit ohnehin, was Carmen mit | |
| ihrem „Buchprojekt“ gemeint hatte – war das womöglich ein Tarnbegriff? S… | |
| wurde aus der Frau nicht schlau. | |
| ## Ein weiterer Lokalteil | |
| Carmen saß im Sale und wartete. „Einen Grappa aufs Haus?“, fragte Piero, | |
| aber sie lehnte ab. Ihr war schlecht. Sie war mit einem Ex-Mitbewohner | |
| abends noch durch die Clubs gezogen. Eimer, WMF, Cookies. Jetzt starrte sie | |
| verkatert auf die Tischdecke. | |
| Sie hatte ja eigentlich den Absprung aus der taz schaffen wollen nach der | |
| kurzen Zeit bei den Öwis. Jeden Tag BSE, Braunkohle und Bitterfeld, es | |
| hatte sie einfach deprimiert. Auch Hermann hatte sich schnell | |
| verabschiedet, hatte wohl was Besseres gefunden. Aber die taz ließ sie | |
| nicht los, es war, als wäre sie von einem Kokon umgeben, und langsam | |
| glaubte sie, die Fäden würden sich immer fester um sie zuzurren. Dabei | |
| hatte diese Brigitte sie von Anfang an gewarnt: „Einmal drin, kommst du nie | |
| wieder raus.“ Jetzt kam ihr der Satz vor wie eine Prophezeiung. | |
| Immer wieder meldeten sich irgendwelche Leute aus der Redaktion bei ihr. | |
| Kannst du was zu Genua schreiben? Hast du eine Meinung zum Dosenpfand? Erst | |
| vor ein paar Tagen hatte diese Frauenredakteurin Heide bei ihr angerufen. | |
| Die Breitbeinigkeit von Schröder und Fischer sei unerträglich, Rot-Grün | |
| hätte nichts gelernt aus 16 Jahren Kohl, ob sie nicht eine Kolumne darüber | |
| schreiben wolle. Arbeitstitel: Aufschrei. Sie entschied sich für ihre | |
| Standardausrede: „Ich kann nicht, ich sitze doch an meinem Buch.“ | |
| Endlich kamen sie. Andi stellte das Motorrad ab, Kalle hintendrauf ohne | |
| Helm. „Pass auf, Carmen“, sagte Andi zur Begrüßung, „wir brauchen dich.… | |
| Kein Wort darüber, dass sie eine halbe Stunde hatte warten müssen. „Bei der | |
| taz macht jeder, was er will“, sagte Andi, „so kann das nicht weitergehen.�… | |
| Dann hielt er einen langen Monolog, sprach über die Redaktionszellen an der | |
| Ruhr, in Köln und Münster, er blicke gar nicht mehr durch. „Vielleicht | |
| trifft die Zeitungskrise ja auch uns?“, sagte Kalle, in seinen Vortrag | |
| hineingrätschend.„Jedenfalls: Es muss mal aufgeräumt werden“, sagte Andi. | |
| „Und da kommst du ins Spiel.“ | |
| ## Ein neues Jahrhundert | |
| Ein schriller Schrei. Carmen setzte sich im Bett auf. Sie stand auf und | |
| trat ans Fenster. Die Straße war leer. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie | |
| realisierte, dass der Schrei nicht von dort stammte – sondern von ihr | |
| selbst. | |
| Manchmal kam er noch, dieser Traum. Der Traum, der sie nachts wach werden | |
| ließ, so wach, dass alleine die Idee, sie könne irgendwann wieder | |
| einschlafen, wie ein zynischer Vorschlag klang. Was den Traum so verstörend | |
| machte: Er knüpfte an das an, was passiert war, vor etwas über einem Jahr. | |
| Carmen war damals nach einer langen Nacht morgens in ihre Wohnung | |
| zurückgekehrt, die wie ein einziger Vorwurf war: die Lügen, die | |
| Fake-Beziehungen zu Menschen, von denen ihr manche mittlerweile vertrauter | |
| waren als ihre Familie. | |
| Doch als sie den Fernseher anschaltete, in der Hoffnung auf ein ablenkendes | |
| Musikvideo, am besten von dieser jungen Frau mit den langen blonden Haaren, | |
| wie hieß die noch gleich, Brittany? Mensch, dachte Carmen, sie würde | |
| langsam alt. Da jedenfalls sah sie live, wie ein vollbesetztes | |
| Passagierflugzeug ins World Trade Center flog. Vielleicht waren es | |
| irgendwelche LSD-Reste der letzten Nacht in ihrem Körper, die dazu führten, | |
| dass sie diese Szene immer wieder heimsuchte. Immerhin hatte sie dieses Mal | |
| nicht dringesessen. | |
| Carmen füllte Kaffeepulver in einen Filter. Filter. Sie war nicht nur alt | |
| geworden, sondern auch spießig. Und das war nicht mal das Schlimmste: Nach | |
| gut 20 Jahren in dieser taz wusste sie nicht mehr, wer sie eigentlich war. | |
| Sie konnte sich kaum noch an ihren echten Namen erinnern. All ihre sozialen | |
| Kontakte waren dort. Und nun hatte sie sogar eines der letzten Tabus | |
| gebrochen: Nein, nicht Sex. Don’t fuck the company, das galt vielleicht in | |
| den USA, aber doch nicht in Berlin. Sie war mittlerweile so verstrickt in | |
| das Ganze, dass sie maßgeblich dazu beigetragen hatte, auf Bitten der | |
| Geschäftsführung den NRW-Lokalteil aufzubauen. Und nun stand das 25-jährige | |
| Jubiläum der Zeitung an. Höchste Zeit, den Abgang zu planen. Nur wie? | |
| ## Die Blüte des Lokalteils NRW | |
| Sie stellte das Kölschglas auf den Tisch und blickte in die glasigen blauen | |
| Augen eines Lappenclowns. Kalle hatte Carmen mit einem hübschen Budget ins | |
| Rheinland geschickt, um den Kolleg:innen von der taz-Köln mit der | |
| Einladung auf ein paar Bierchen seine Wertschätzung auszudrücken. Zu blöd, | |
| dass sie ihren Besuch ausgerechnet auf den Donnerstag vor Karneval gelegt | |
| hatte. Der Lappenclown war schon in der taz-Köln-Redaktion über der | |
| Tabledance-Bar, als sie dort eintraf. Kein Mensch kannte ihn. Er schloss | |
| sich der Kneipentour durchs Friesenviertel an, die tazzler:innen nahmen | |
| ihn freundlich auf. | |
| Jetzt waren er und Carmen übriggeblieben. Der Lappenclown behauptete, schon | |
| seit 1975 die taz abonniert zu haben, und wollte partout nicht glauben, | |
| dass das nicht sein konnte. Er würde aber auch den Stadt-Anzeiger lesen, | |
| sagte er. Carmen lachte. Stadt-Anzeiger! Den ganzen Abend hatten sich die | |
| KollegInnen über dessen neuen Chefredakteur amüsiert. Das Blatt hatte | |
| geschrieben, der Mann habe 10 Jahre evangelische Theologie studiert. Dabei | |
| war er in dieser Zeit Chef der Roten Blätter gewesen. Früher Kommunist, | |
| heute Ordoliberalist – oder doch Opportunist? | |
| Irgendwie hatte der Chefredakteur mitbekommen, dass die Redaktion ein | |
| Porträt über ihn plante. Nicht nur Bascha hat einen Anruf von ihm bekommen, | |
| um das Erscheinen zu verhindern. Wie naiv kann man als Chefredakteur sein?, | |
| fragte Carmen sich. Natürlich war das Porträt doppelt so groß erschienen | |
| wie ursprünglich geplant. Und freundlicher fiel es auch nicht aus. | |
| Der Lappenclown hatte den ganzen Abend aufmerksam zugehört. Aus der | |
| Seitentasche seiner mit Stofffetzen übersäten Jacke lugte ein beschriebener | |
| Notizblock. Carmen zog die Augenbrauen hoch. Wer war dieser Mann? Hatte der | |
| Stadt-Anzeiger aus Angst vor weiteren Enthüllungen einen Spitzel | |
| eingeschleust? | |
| ## Ein anderer Sound | |
| Zurück in Berlin stand Christian mal wieder vor Carmens Schreibtisch und | |
| wollte eine Unterschrift von ihr. Hatte sie jetzt gerade für die Rettung | |
| der Berliners Polizeiorchesters unterschrieben? Oder für dessen Auflösung? | |
| Oder war es um einen Behindertenbeauftragten für den Bezirk gegangen? „Das | |
| geht gar nicht“, sagte er und sie gab ihm recht, obwohl sie wirklich nicht | |
| wusste, was er gerade meinte. Doch auch wenn sie oft nicht verstand, was | |
| Christian umtrieb, so schätzte sie ihn doch als Konstante in diesem | |
| merkwürdigen Betrieb. | |
| Neulich hatte sie sich mit einem Kollegen über einen Text gestritten. Es | |
| standen merkwürdige Dinge in der Zeitung: über Jeans aus Neukölln zum | |
| Beispiel und was die Hosen über die deutsche Nachwende-Gesellschaft | |
| aussagen. Oder warum es okay war, in einem schwedischen Möbelhaus zu | |
| frühstücken. Immer mehr Leute, denen man ansah, dass sie wussten, wie man | |
| auszusehen hatte, arbeiteten mittlerweile im Haus. Die Leute, die | |
| ausstrahlten, sie wüssten, was man zu denken hatte, waren zur Minderheit | |
| geworden. | |
| Manchmal fragte sie sich, was sie wohl berichten würde, wenn es den Osten | |
| noch gäbe. Wahrscheinlich würden ihre Führungsoffiziere ebenso dämlich | |
| dreinschauen wie der Geschäftsführer, als sie ihm den Notizblock gab, den | |
| sie dem Lappenclown neulich in Köln aus der Tasche gezogen hatte. | |
| ## Weg vom Lokalen | |
| Carmen rutschte auf dem unförmigen Sitzgymnastikball von Thomas hin und | |
| her. Der ganze Stolz des Mathegenies. Die drei Buchstaben NRW und alles, | |
| was für die taz dort, aber auch in Berlin auf dem Spiel stand, erschienen | |
| ihr plötzlich so fern wie nah. Eine einzige immerwährende | |
| Redaktionskonferenz, das war diese Zeitung. Auch die Männer hörten nie auf | |
| zu reden. „Einmal drin, kommst du nie wieder raus, immer wieder rein und | |
| immer wieder taz …“ Brigittes Manta, nein, Mantra. | |
| Wie stets, wenn es in ihrem Leben richtig zur Sache ging, musste Carmen | |
| schmunzeln. Aber was bloß war hier die Sache? Hinter Kalles karger | |
| Schreibtischhälfte stand an der Wand und in mehr oder weniger großen | |
| Lettern, die er dafür mal per Schere der FAZ entnommen hatte: „Der | |
| Journalismus lebt im Netz weiter.“ | |
| Kalle hielt den Lappen gegen das Licht. Der ominöse Notizblock des | |
| Lappenclowns, ein Wiedergänger des Kölner Urgesteins Willy Millowitsch, war | |
| nur ein Lappen. „Wertlos“, Kalle schnippte das Stück Papier so verächtlich | |
| wie gezielt zum offenen Fenster der taz-Verlagsetage an der | |
| Charlottenstraße hinaus. Mann, war das heiß hier nach Südwesten gelegen! | |
| ## Die neue Onlineredaktion | |
| Zu Hause angekommen schmiss Brigitte den Föhn an und hielt ihn über das | |
| Notizheft, das ihr auf dem Weg heim direkt in die Hände geflattert war. Das | |
| konnte doch kein Zufall sein! War das nicht Kalle oben am Fenster gewesen? | |
| Unter dem Surren des Föhns färbte sich die Schrift braun. Das hier war kein | |
| leeres Papier, nein, das war ein ganzer Block mit verschlüsselter | |
| Geheimschrift. Vielleicht eine Codierungsmethode der Stasi? Ob die im Jahr | |
| 2008 noch geheim operierten? Keine Ahnung. Sie musste die Zentrale | |
| kontaktieren. | |
| Vor zwei Wochen erst hatte sie Paul vom Verfassungsschutz abgefangen und | |
| ihr erklärt, dass sie als V-Frau jetzt langsam mal Infos liefern müsse, zu | |
| ausländischen Geheimdiensten, Linksextremisten, egal was – es gab | |
| Kürzungspläne. Die Zeit drängte. Den Lokalteil in NRW hatte die taz letztes | |
| Jahr plattgemacht. Gut möglich, dass der Berlin-Teil als nächstes dran war. | |
| Dann wäre sie gleich zwei Jobs auf einmal los. Vielleicht könnte sie sich | |
| in der neuen Onlineredaktion bewerben, dachte Brigitte. | |
| Bislang waren all ihre Bemühungen ins Leere gelaufen – dabei hatte sie auch | |
| die Räume der Chefredaktion aufwendig verkabelt und abgehört. Umstürze? | |
| Eher nicht. Ihre heißeste Spur war der neue Redakteur im Berlin-Teil, | |
| Sebastian Heiter oder so, den hatte sie beobachtet, wie er nachts an | |
| verschiedenen Rechnern hantierte. Ansonsten erschien ihr die taz wie ein | |
| Haufen bürokratischer Sesselfurzer-Revolutionäre. | |
| Neulich hatten sie ewig diskutiert, ob sie Redezeiten von Männern und | |
| Frauen in Konferenzen erfassen sollten. Nur als die Kochstraße in | |
| Rudi-Dutschke-Straße umbenannt wurde, an dem Tag hatte Christian Ströbele | |
| „Entmachtet Springer!“ gerufen, und da wurde am Abend mal wieder richtig | |
| gefeiert. Brigitte hatte später mit Carmen unten im taz-Archiv rumgemacht. | |
| „Ick bin in jeheimer Mission unerwegs“, hatte ihr Carmen ins Ohr | |
| geflüstert. | |
| ## Die Transformation beginnt | |
| Die Frau hatte sie nie interessiert, aber nach dieser Nacht konnte sie | |
| nicht aufhören, an sie zu denken. Carmen. Wie konnte sie all die Zeit | |
| übersehen, dass Carmens Männerliebschaften nur ein Spiel waren? | |
| Carmen war das Gegenteil von langweilig. Sie redete kaum über ihre | |
| Vergangenheit, kaum über die Zukunft – sie war immer im Jetzt und völlig | |
| interessiert an allem, was in der taz geschah. Die taz war ihre | |
| Leidenschaft. Als Brigitte ihr einmal sagte, dass das vielleicht ein | |
| bisschen obsessiv sei, antwortete Carmen: „Einmal drin, kommst du nie | |
| wieder raus – das hast du mir mal gesagt.“ | |
| Es fiel Brigitte schwer, Carmen nicht an ihrem Fund teilhaben zu lassen, | |
| zumal dessen Entschlüsselung sie nun schon einige Jahre kostete. Dieser | |
| scheiß Block aus Köln – es war schwer, dessen Nachrichten zu decodieren, | |
| Brigitte saß Jahre daran. Sie konnte die Worte extrahieren, aber nur schwer | |
| deren Bedeutung verstehen. Sie hatte keine Ahnung von html, W3-Servern oder | |
| irgendwelchen daemons. Und sie verstand auch nicht, wie es dieselbe Person | |
| sein könnte, die Tim Berners-Lee im Cern überredete, das World Wide Web für | |
| die Öffentlichkeit freizugeben und nur zwei Jahre später die taz als erste | |
| Tageszeitung in Deutschland komplett jeden Tag ins Netz zu stellen. Wer | |
| sollte das sein? | |
| Die Entwicklung nahm ihren Lauf. Die Gesellschaft veränderte sich, | |
| gedruckte Tageszeitungen wurden immer weniger gelesen. Alles wurde | |
| digitaler, Brigitte kam nicht mit. Und sie verstand nicht, was dieser Block | |
| mit all dem zu tun hatte. Sie musste es Carmen sagen, sie hatte schon immer | |
| mehr von technischen Dingen verstanden. Carmen war es, die der | |
| Geschäftsführung der taz nach dem NRW-Debakel sogar eingeflüstert hatte, | |
| dass der einzige Weg ins Digitale führt – auch wenn Kalle es ihr erst | |
| glaubte, als er es in der FAZ gelesen hatte. | |
| Brigitte erschrak, als sie Carmens Gesicht kreidebleich werden sah. „Wo | |
| hast du das her?“, zischte sie. Die Luft um sie erkaltete. Noch während | |
| Brigitte von ihrem Fund erzählte, rausgeworfen vor Jahren aus Kalles | |
| Fenster, voller Indizien, die auf eine einzelne Frau zuliefen, stapfte | |
| Carmen durch die Wohnung auf sie zu. Brigitte war überrascht, wie | |
| professionell Carmen versuchte, sie niederzuringen. Sie waren beide nicht | |
| mehr die jüngsten, aber Brigitte hatte sich länger fit gehalten. Sie musste | |
| jetzt überleben. Sie schaltete um – und Carmen aus. | |
| ## Sprung in die Gegenwart | |
| Jahre später klopfte es an der Tür. Brigitte öffnete, draußen stand ein Typ | |
| mit zerzausten Haaren und schlabbriger Hose. „Ich weiß, wer du bist“, sagte | |
| er. Diese Stimme, dieser Dialekt, er kam ihr bekannt vor. Dann schoss es | |
| ihr wie ein Blitz ins Gehirn: „Ich weiß auch wer du bist, Stefan.“ | |
| Ja, so hieß er doch, Stefan. Dieser undurchsichtige Typ damals, mit dem sie | |
| Carmen öfter zusammensitzen sah und der schließlich bei der Ost-taz | |
| mitgemacht hatte. Nicht einmal vier Monate, von Ende Februar bis Anfang | |
| Juni 1990, aber alle dachten, die Ost-taz lief jahrelang. Wahrscheinlich, | |
| erinnerte sich Brigitte, weil die so irre Sachen gemacht hatten, über die | |
| noch Jahre später wild diskutiert wurde, Stasi-Listen veröffentlicht zum | |
| Beispiel. Also keine Namen, aber Adressen von Stasi-Wohnungen. | |
| Brigitte machten diese Enttarnungen damals Sorge, aus Eigeninteresse. Immer | |
| musste sie in den Frühkonferenzen sagen, wie super sie die Ost-taz fand, | |
| aber vor allem hatte sie Angst, dass auch ihre konspirative Wohnung in der | |
| Rykestraße in Prenzlauer Berg aufflog. | |
| Sie erinnerte sich an diesen Stefan mit seinem stalinistisch korrekt | |
| sitzenden Hemdkragen, wie er bei den Redaktionssitzungen saß, sein Lächeln | |
| vielleicht listig, vielleicht verschmitzt, um dann aus dem Nichts die | |
| besten Thesen rauszuzischen. Er blieb noch eine Weile in der taz, aber | |
| irgendwann war er einfach wech, verschwunden. Kam auch vor bei der taz. Er | |
| soll in der Medienberatung Karriere gemacht haben. | |
| Als Brigitte neulich mit dem Rad zum Step-Aerobic hetzte, hinter der | |
| bonzigen Leipziger Straße entlang dieser neuen Townhouses, wo die | |
| Kinderschaukeln im Vorgarten und im Schatten des Auswärtigen Amts stehen, | |
| da meinte sie, ihn doch gesehen zu haben. Sein Hemdkragen dann Federal | |
| Style. Aber er strahlte Stasi aus. | |
| Brigitte hatte mitllerweile den Großteil ihrer Redaktionsarbeit an jüngere | |
| KollegInnen verschoben hatte, recherchierte – und behielt Recht. MfS. Seine | |
| Verbindung mit Carmen, alles ergab Sinn. Gut war er durch die Wende | |
| gekommen, hatte in seinem neuen Leben zwischen Doppelgarage und Ledersessel | |
| so eine seltsame Sammelleidenschaft entwickelt. Weil er in seinem alten | |
| Leben so viel Papier geschreddert hatte, musste er jetzt alles Bedruckte | |
| sorgfältig aufheben, archivieren und dokumentieren. Sein liebstes | |
| Sammelstück: Die letzte gedruckte Ausgabe einer Zeitung. | |
| ## Wie alles endet | |
| Genau eine solche hielt Stefan jetzt in der Hand. Die letzte gedruckte | |
| Ausgabe der taz. Hastig faltete er die raschelnden Seiten auseinander, um | |
| dann auf einen Artikel zu deuten. Brigitte neigte sich dem Papier zu. | |
| Die letzte Print-taz sollte ein großes publizistisches Feuerwerk werden, | |
| damit die LeserInnen es ihrer geliebten Tageszeitung nicht allzu krumm | |
| nahmen, dass diese nun aus Kostengründen werktags rein digital erschien. | |
| Die Ausgabe war voller Texte zum Thema Solidarität und Aufbruch. „Spionin | |
| in der Redaktion“ hieß der Artikel, der einem in den vergangenen | |
| Jahrzehnten immer wieder aufkommenden Gerücht nachging, in der taz hätten | |
| sich Geheimdienstler aus Ost- und Westdeutschland installiert. | |
| Brigitte kannte den Text, es war ja ihrer. Zwar hatte sie ihn nicht | |
| vorgeschlagen, sich dann aber schleunigst als Autorin angeboten, damit | |
| nicht wirklich noch einer zu recherchieren begann und vielleicht auf etwas | |
| gestoßen wäre. Sie führte in dem Text verschiedenste Indizien und Details | |
| auf, die nirgendwohin führten, kam sich aber besonders schlau dabei vor, | |
| die potenzielle Spionin ausschließlich im generischen Femininum zu | |
| beschreiben. So würden alle damit beschäftigt sein, sich über das Gendern | |
| Gedanken zu machen und warum sie auch als Linke echte Spionage nur Männern | |
| zutrauten. So würde der Verdacht allzeit weit weg von ihr liegen und dieser | |
| Abschnitt ihres Lebens Geschichte werden, genau wie das Altpapier, auf dem | |
| die Story gedruckt war. | |
| Stefan schien aber etwas bemerkt zu haben. Irgendwie war dieser Artikel | |
| zwar skurril, aber doch recht kenntnisreich dafür, dass am Ende so gar | |
| nichts dran sein soll am Mythos von der V-„Frau“ in einer linken | |
| Tageszeitung. Ein Notizblock mit Geheimschrift, mitgeführt von einem | |
| ominösen Clown? Radio 100? Die Roten Blätter? Kalle? Andi? Riesenjoints, | |
| LSD und das Berliner Polizeiorchester? Die FARC? So was konnte doch nur | |
| eine schreiben, die wirklich alles in der taz schon gesehen hat. Und warum | |
| genau sollte man eigentlich alles Mögliche über so einen Laden so genau | |
| aufschreiben, um dann zu dem Ergebnis zu kommen, dass es alles überhaupt | |
| nicht interessant sei? | |
| Brigitte begann, ein wenig nervös zu werden, entspannte sich aber recht | |
| schnell wieder, als sie ihre eigenen Zeilen las. Das klang doch alles so | |
| irre, so unwahrscheinlich und unglaubwürdig. Und außerdem war es ewig her. | |
| Selbst wenn Stefan nun überall rumerzählen sollte, dass sie die Spionin | |
| war, würde ihm das doch jetzt kein Mensch mehr glauben. | |
| „Du hast Recht“, sagte sie, „aber Papier vergisst.“ Mit einer flinken | |
| Handbewegung schnappte sie sich die Seite mit dem Artikel aus Stefans Hand | |
| und schlug die Tür zu. Soll er erst mal zusehen, wo er jetzt einen weiteren | |
| gedruckten Beweis für seine Verschwörungstheorie herkriegt. Außerdem wollte | |
| sie die Printseite mit dem Artikel gern in ihr Privatarchiv legen, sie | |
| fand ihn immer noch gelungen. „Das muss man erst mal so schreiben, dass es | |
| voller Fakten ist und dann doch zu nichts führt, richtig tazzig“, dachte | |
| sie und kicherte, während sie sich von der Tür entfernte, von der sie | |
| Stefans aufgeregtes Klopfen leiser werden hörte. | |
| Am Abend schaute sie nach, ob der Artikel eigentlich jemals online gegangen | |
| war. Sie fand ihn nicht. Irgendwas musste wohl schiefgegangen sein in den | |
| aufregenden Wochen der Produktionsumstellung. Wie nannten sie es noch mal, | |
| „Seiten-Wandel“, „Blätter-Ende“? | |
| Brigitte ging beruhigt ins Bett. Mag sein, dass das Netz nicht vergisst, | |
| aber nachdenken tut es auch nicht. Kein Mensch würde je auf diese Story | |
| stoßen, vielmehr würde sie in irgendwelchen Sammlerarchiven verstauben. Und | |
| wer blättert schon ein E-Paper durch? Toll, diese Digitalisierung. | |
| Leicht dämmernd dachte sie über ihre Zeit bei der taz nach. Der Mauerfall. | |
| Die Berlin-Redaktion. Die Zeit in Hamburg. Der Umzug in die neuen | |
| Redaktionsräume am Checkpoint Charlie. Carmen. Die vielen Partys. | |
| Seiten und Tastaturen, Bildschirme und Kaffeetassen, Flaschen und | |
| Zigaretten waberten durch einen beginnenden Traum. Hin und wieder glaubte | |
| Brigitte, die durchdringende Stimme von Christian Specht zu hören. | |
| Aber ansonsten: War diese Zeitung noch wiederzuerkennen? War der wahre | |
| Wiedererkennungswert von diesem Laden nicht, dass er gar keinen haben | |
| wollte? | |
| Wie hieß es gleich? Täglich, links und … | |
| „Radikaaaal“ hörte sich Brigitte mit geschlossenen Augen laut auflachen. | |
| 17 Oct 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Felix Zimmermann | |
| Simone Schmollack | |
| Konstantin Nowotny | |
| Nicole Opitz | |
| Jasmin Kalarickal | |
| Beate Willms | |
| Svenja Bergt | |
| Anja Mierel | |
| Katrin Gottschalk | |
| Ulrike Winkelmann | |
| Anja Krüger | |
| Andreas Rüttenauer | |
| Sophie Jung | |
| Harriet Wolff | |
| Jens Uthoff | |
| Anne Fromm | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |