| # taz.de -- Vater-Sohn-Beziehung: Auf Silberpapier | |
| > In seinem Debüt „Irgendwann kommt immer ein Meer“ sucht Nils Langhans den | |
| > toten Vater in der Sprache wiederzufinden. | |
| Bild: Ein Meer aus Erinnerungen: Nordseestrand auf Borkum | |
| Zervelatwurst, Saskia-Quelle, Hautschichten, Waschbeton, ein Meer, ein Opel | |
| Astra. Ein Eindruck der Dinge, die den Vater umkreisten. Er steht in | |
| konservierten Bildern, der Sohn steht an seinem Grab. Als „du“ und „ich“ | |
| begegnen sie sich in Erinnerungen: Der Sohn, mal Junge, Bruder, mal | |
| Student, erzählt sich und sein Gegenüber, den toten Vater, den Jungen, den | |
| Kranken, den Sterbenden. | |
| Orte, Fotos, Situationen blitzen auf: Wir sehen den Vater als Sechsjährigen | |
| allein zur Kur auf Borkum, seine von Schuppenflechte verwundete Haut, wie | |
| er in Tabellen das Sparguthaben überwacht, seine Angst, dass die Familie | |
| nicht genug hat, wie er für den Opel Astra gespart hat, wie er seinem Sohn | |
| trotzdem den teuren Anzug kauft, wie er an der Morphiummaschine hängt, wie | |
| er viel zu krank für einen einzigen Menschen ist. Wie die Ungewissheit des | |
| Anfangs, sein „cancer of unknown primary“, sich ein eigenes Ende schreibt. | |
| Aus diesen Erinnerungen konstruiert Nils Langhans eine innige | |
| Vater-Sohn-Beziehung. Mal ist es die Sehnsucht nach einer „schweren, warmen | |
| Hand“, dann die Unmöglichkeit, die „Enge“ des Vaters zu verlassen. Langh… | |
| erkundet den Raum zwischen Anwesenheit und Abwesenheit: Wie trifft man | |
| jemanden in der Sprache, ohne an ihm vorbeizuschreiben? | |
| ## Erinnerungen in Episoden | |
| Dieses Buch ist der Versuch, [1][einen Menschen im Erinnern zu finden.] Es | |
| ist der Versuch, sich als dabei Gewesener, als noch da Seiender zu | |
| begreifen. Langhans erzählt die Erinnerungen, so wie sie erscheinen, in | |
| kurzen Episoden, in Absätze zerstückelt. Da werden Sätze angebrochen, Worte | |
| durch Doppelpunkte, Stichpunkte und Kommata in Beziehung gesetzt. Als wäre | |
| dieses Buch aus Silberpapier. Es ist das Mühsame an der Trauerarbeit, jedes | |
| einzelne Blatt glattzustreichen, bis ein klares Bild entsteht. | |
| Die Erinnerungen werden „unscharf“, „Zerr–“ oder „Standbilder“. E… | |
| einzelne Sinneseindrücke, die ihre Ordnung in einem Ganzen suchen. An einer | |
| Stelle heißt es, erinnern bedeutet „ein Tröpfeln und Quetschen aus dichter | |
| Erde; und viel, was versickert“. | |
| Dieses Buch zielt auf Genauigkeit, auf Treue den Gesetzen der Sprache | |
| gegenüber. Es scheitert unweigerlich daran, weil das Erinnern nicht genau | |
| sein kann. Langhans schreibt sich heran, so sorgsam wie möglich, pflückt | |
| Erinnerungsfetzen wie Blätter, konzentriert sich auf die Auseinandersetzung | |
| mit dem Wort: Jede der Passagen verdichtet sich in sich, wird Stichpunkt | |
| für Stichpunkt intensiver. | |
| Es wird akribisch mit Worten gemalt – sie bilden die Palette eines Gemäldes | |
| ab: „brauner Mutterboden“, „am Horizont knuspriges Rot“, „Wind, der | |
| bläulich flattert“. Die Haut des Vaters wirkt aufgeschichtet wie „kleine | |
| Inseln, teils aufgekratzt, blutig, teils schuppig weiß“. | |
| ## Die kranke Haut ist das Verbindende | |
| „Du wirst wie ein Aussätziger angesehen“, sagt der Sohn, der den gleichen | |
| Gen-Code geerbt hat. Er verbindet die beiden über ihre Haut, führt den | |
| Satzanfang des einen in dem anderen weiter. Leitet das Eigene des Vaters in | |
| das Eigene des Sohnes. Dieses Buch ist der Versuch, ein gemeinsames Bild zu | |
| erschaffen, der unstillbare Wunsch, eines zu teilen. | |
| Mit 19 Jahren zeichnet der Vater mit Pastellkreiden, Kohle, vor allem | |
| Augen. Er hört auf, als der Sohn zur Welt kommt. „Du bist jetzt selbst ein | |
| Vater; du beginnst schon, deine Sprache zu verlieren“, stellt der Sohn | |
| fest, als er die Zeichnungen durchblättert. Der Vater ist kein Künstler, | |
| sondern Finanzbeamter geworden, dem Versprechen von Sicherheit gefolgt. | |
| ## Kampf um Deutungshoheit | |
| Auf die Enge, die sich sprachlich wie inhaltlich spiegelt, folgt so oft die | |
| schmerzhafte Erkenntnis: „Wie ich über dich schreibe, verliere ich dich ein | |
| zweites Mal: das endgültige Mal“. Jemanden zu überschreiben, sich selbst | |
| weiterzuschreiben oder nur Weitergeschriebenes zu sein, ist ein Kampf um | |
| Deutungshoheit. Einer, der nur allein gewonnen, verloren, herumgerissen | |
| werden kann. | |
| So ist dieses Buch auch ein schweigendes, erzählt von einem Sohn, der einem | |
| Tod zusehen musste. Vielleicht kann die Stummheit erst gebrochen werden, | |
| wenn der Sohn aus dem Bild des Vaters tritt. Wenn er sich entscheidet: | |
| verabschieden statt erinnern, verlassen statt verlieren. Wenn etwas aus der | |
| Erde sprießt und nicht versickert. Nils Langhans zeigt, dass Blumen wieder | |
| austreiben können. | |
| 16 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophia Merwald | |
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