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# taz.de -- Kriminalroman von Susanne Tägder: Dunkle Nächte am Plattenbau
> Susanne Tägder hat mit Arno Groth einen ost-west-deutschen Ermittler mit
> viel Potenzial erschaffen. Nun erscheint der zweite Band.
Bild: Spurensuche im Milieu der Nachwendezeit, Anklam 1992
Mecklenburg nach der Wende, der elfjährige Matti Beck ist verschwunden.
Seine Eltern haben ihn an einem kalten Winterabend Anfang des Jahres 1992
zum „Einholen“ geschickt. Doch im Supermarkt der Plattenbausiedlung auf dem
Mönkeberg ist er nie angekommen.
Was kann dem Jungen auf dem Weg zum Einkaufen passiert sein? Hauptkommissar
Arno Groth und sein Suchtrupp tappen im Dunkeln. Ein rechter Jugendclub,
merkwürdige Runenzeichen auf Kinderhänden, „unter dem Tisch am Fenster ein
Bierkasten“ – inszenierte Normalität, die einem wie Kommissar Groth
auffällt.
„Groth nickt sich selbst zu. Der Mönkeberg ist voller Fassaden mit Fenstern
und Balkonen. Wo Fenster sind, sind auch Augen. Irgendjemand wird Matti
Beck am Abend zuvor gesehen haben.“ Doch der Mönkeberg erweist sich für die
Ermittler als Festung, ein geschlossenes System.
In der einst geschätzten realsozialistischen Plattenbausiedlung stößt Groth
auf verbitterte Erwachsene mit entwerteten DDR-Biografien; auf Jugendliche,
die bereits im Kindesalter desillusioniert sind, mit „diffuser Wut auf
alles“.
## Der renitente Trinker, ein Mörder?
Als der kleine Matti schließlich ermordet aufgefunden wird, richtet sich
der Verdacht bald auf einen Außenseiter. Einen Hilfshauswart, Alkoholiker
wie viele hier, nach der Wende abgerutscht, in einem leer stehenden Gebäude
hausend. Er befindet sich im Clinch mit der rechten Jugendgruppe. Doch der
renitente Trinker, ein Mörder?
Hauptkommissar Groth ist nicht überzeugt. Die anderen schon. Groth
recherchiert auf eigene Faust weiter, zieht Verbindungen zu einem Cold
Case, einem unaufgeklärten Mord aus der DDR. 1986 verschwand am Mönkeberg
schon einmal ein Junge. Und wurde auf ähnliche Weise wie Matti getötet.
Groth reaktiviert einen Ex-Kollegen. Der hatte, da er sein partiell
unrechtmäßiges Handeln in der DDR einräumte, 1991 den Polizeidienst
verlassen müssen. Ehrliche mussten vielfach gehen, Leugner blieben – da mag
etwas dran sein, verallgemeinern sollte man es dennoch besser nicht.
Wie bereits in dem ersten Kriminalroman rund um Ermittler Groth verbindet
die Autorin in „Die Farbe des Schattens“ einen Altfall aus der DDR mit
einem neuen aus der Nachwendezeit. Vorlage ist erneut ein real geschehenes
Verbrechen, das sie frei literarisch interpretiert. Tägders Sprache ist
bildreich, die Beschreibungen der 1968 geborenen gelernten Juristin sind
präzise. Ihre Eltern stammen aus dem mecklenburgischen Neubrandenburg und
emigrierten vor dem Mauerbau 1960 in den Westen.
## Neustart im Osten
Mit Arno Groth hat die Autorin einen Ermittler geschaffen, dem Osten wie
Westen gleichermaßen vertraut und unvertraut scheinen. Ein wenig fremdelt
er mit beiden Welten. Er stammt aus Mecklenburg, verließ die DDR, ging in
den Westen und arbeitete bei der Kripo in Hamburg, bevor ihn ein privates
Unglück aus der Bahn warf. Nach der „Wende“ wird Groth zurück in seine al…
ostdeutsche Heimatstadt geschickt und versucht als leitender Kripobeamter
den Neustart.
Durch die Perspektive ihres ost-westlichen Hybrids gelang Tägder in ihrem
ersten Groth-Roman „Das Schweigen des Wassers“ ein außergewöhnlicher
Nachwende-Kriminalroman. Das Nichtidentische ihres gebrochenen Helden stand
in scharfem Kontrast zur mitunter aufblitzenden Überheblichkeit
westdeutschen Personals, aber auch zu jenem Phänomen, das [1][der
Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk] als „Ostdeutschtümelei“ bezeichnet (etwa
in dem Gesprächsbuch mit Bodo Ramelow „Die neue Mauer“, Verlag C. H. Beck,
2025).
Tägder hatte in ihrem ersten Groth-Roman die Hauptfigur mit
Einfühlungsvermögen, aber auch deutlicher Distanz zur einst heimatlichen
Umgebung ausgestattet. So entwickelte sie ein spannendes
Gesellschaftsszenario und einen differenzierten Blick auf die frühe
Nachwendezeit. In „Die Farbe des Schattens“ nimmt der Mut zu Ambivalenz und
Abgrenzung allerdings etwas ab.
Der Zurückgekehrte passt sich seiner Umgebung, vor der er einmal geflohen
war, habituell doch stärker an. Aber die affirmative Inszenierung eines
Rendezvous bei Erbsensuppe und Rotwein sollte literarisch vielleicht besser
vermieden werden. Bleibt zu hoffen, dass Tägders Hauptkommissar in Band
drei zu alter Schärfe zurückfindet.
15 Oct 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Kriminalroman
Nachwendezeit
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse
Mord
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Krimi
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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