| # taz.de -- Pressefreiheit in Serbien: Die gefährlichen Kameras von N1 | |
| > Seit fast einem Jahr demonstrieren Zehntausende in Serbien gegen die | |
| > Regierung. Doch wer berichtet, wird zur Zielscheibe des Präsidenten. | |
| Bild: 1. September 2025, Belgrad: Blumen für die 16 Opfer des Einsturzes des B… | |
| Wien taz | Die serbische Stadt Užice, spät am Abend Ende August. Die Kamera | |
| schwenkt über eine Menschenmenge, die sich durch die Dunkelheit schiebt. | |
| Hupen dröhnen, Trillerpfeifen schrillen. Gelbe Warnwesten leuchten in der | |
| Dunkelheit. Eine Reporterin mit Mikrofon geht neben den Demonstrierenden | |
| her. | |
| Junge Menschen, Rentner, auch einige Kinder ziehen vorbei. Fast eine Stunde | |
| lang schaltet N1 live in verschiedene serbische Städte – nach Užice im | |
| Westen, nach Novi Sad, nach Aleksinac. Es sind Bilder, die sonst niemand im | |
| serbischen Fernsehen zeigt. Genau das macht den Sender gefährlich. | |
| N1 dokumentiert, was die Regierung am liebsten verschweigen würde: die | |
| größten Proteste seit Jahren. Seit bald einem Jahr, als am 1. November das | |
| Vordach des Bahnhofs in Novi Sad einstürzte und 16 Menschen tötete, | |
| [1][gehen Tausende auf die Straße]. Sie machen die Korruption im Land für | |
| das Unglück verantwortlich – und damit die Regierung. Fast täglich ist N1 | |
| mit Live-Schalten mittendrin. | |
| Das bringt den Sender ins Visier von [2][Präsident Aleksandar Vučić]. Ende | |
| August veröffentlichten Investigativjournalisten des [3][Organized Crime | |
| and Corruption Reporting Project (OCCRP)] und dessen serbischer Partner | |
| KRIK ein brisantes Telefongespräch. Zu hören ist Stan Miller, Chef des | |
| niederländischen Medienkonzerns United Group, zu dem N1 gehört. Am anderen | |
| Ende der Leitung: Vladimir Lučić, Chef der überwiegend staatlichen Telekom | |
| Srbija. | |
| ## N1 soll an Einfluss verlieren | |
| Und eben jener Telekom-Chef erklärt dem Medienkonzern, was der Autokrat | |
| Vučić anordnet: N1 soll an Einfluss verlieren. Dafür soll ein Kopf rollen – | |
| der von Aleksandra Subotić. Die Geschäftsführerin von United Media, einem | |
| Tochterunternehmen der United Group, soll ihren Posten verlieren. Denn sie | |
| hatte immer schützend ihre Hand über N1 gehalten. Miller antwortet am | |
| Telefon, er brauche dafür noch Zeit, er müsse zuerst noch andere | |
| Veränderungen anstoßen. | |
| Subotić zeigt sich gegenüber der taz „enttäuscht“ vom | |
| United-Group-Management, das die Echtheit der Aufnahme sogar bestätigte. | |
| „Ich habe mich unermüdlich dafür eingesetzt, dass alle Medienunternehmen | |
| innerhalb unserer Gruppe völlig frei von politischer oder unternehmerischer | |
| Einflussnahme arbeiten können“, sagt sie. Seit der Veröffentlichung | |
| herrsche in der Redaktion von N1 Unsicherheit, erklärt auch Programmchef | |
| Igor Božić. | |
| „Die Journalisten und anderen Mitarbeiter sorgen sich um ihre Zukunft.“ Er | |
| fürchtet, kritische Journalist:innen könnten nach und nach ersetzt werden, | |
| Themen könnten durch Anweisung von oben anders gesetzt werden. „Heute sind | |
| N1 und Nova S die einzigen TV-Sender, die nicht unter der vollen Kontrolle | |
| des Vučić-Regimes stehen“, sagt Božić. | |
| Auch Nova S gehört zur United Group. Die anderen Sender würden die | |
| Demonstrierenden ignorieren oder sie als „Terroristen“ bezeichnen. „Wir | |
| wollen weiterhin nach professionellen und ethischen Standards berichten, | |
| ohne Einmischung von außen.“ | |
| ## Durst nach Informationen | |
| Der Reuters Digital News Report zeigte im Februar in einer Umfrage: Die | |
| Menschen vertrauen N1 und Nova S. Regierungsnahe Medien erhalten zwar | |
| massiv Steuergelder, Vorteile auf dem Medienmarkt, staatliche | |
| Werbeaufträge. „Aber das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger liegt | |
| manchmal unter 20 Prozent“, sagt Tamara Filipović, Generalsekretärin des | |
| Unabhängigen Journalistenverbands Serbien (NUNS). „Bei N1 liegt das | |
| Vertrauen bei über 40 Prozent.“ Das ist EU-Durchschnitt. In Krisenzeiten | |
| suchten Menschen nach verlässlichen Informationen. | |
| In Deutschland hat sich das vor allem während der Coronapandemie gezeigt. | |
| In Serbien ist es jetzt zu sehen, wo Hunderttausende auf die Straße gehen. | |
| Seit dem Beginn der Demonstrationen hat sich die Einschaltquote von N1 | |
| verdoppelt. | |
| Laut Umfragen schaut der Durchschnitt der Serb:innen über fünf Stunden lang | |
| täglich fern, besonders die ältere Generation informiert sich so. Die | |
| jüngere Generation liest eher auf der Website von N1 mit. Allerdings können | |
| nur 30 Prozent der Serb:innen N1 überhaupt empfangen – ein Antrag auf eine | |
| nationale Frequenz wurde ohne vernünftige Erklärung abgelehnt. Über eine | |
| Kombination aus lokalen Lizenzen, Kabelnetzen und Satellitenverbreitung | |
| erreicht das Programm vor allem urbane Zentren. | |
| Filipović vom Journalistenverband NUNS sagt, unabhängige Medien hätten | |
| keinen fairen Zugang zum Medienmarkt. „Die Regierung erpresst jeden, der | |
| Werbung in unabhängigen Medien schalten will. Unternehmen wollen keine | |
| Inspektionen riskieren.“ Hinzu kommt der Umgang mit Journalist:innen. | |
| ## Pressefreiheit schwindet seit Vučićs Amtseintritt | |
| Seit Vučić – erstmals Informationsminister [4][unter Slobodan Milošević] … | |
| Präsident wurde, ist Serbien im Ranking der Pressefreiheit von Reporter | |
| ohne Grenzen deutlich nach unten gerutscht: Von Platz 59 von 180 im Jahr | |
| 2017 und auf Platz 96 im Jahr 2025. Seit dem Beginn der Proteste nimmt die | |
| Gewalt gegen unabhängige Journalist:innen zu. Mitte August etwa | |
| verprügelten Anhänger:innen der Regierungspartei SNS vor dem Parteibüro in | |
| Novi Sad zwei Journalisten brutal mit Metallstangen. | |
| Zarko Bogosavljević, Chefredakteur der Nachrichtenseite Razglas, und Nikola | |
| Bilić von der Plattform Novi Sad 192 trugen schwere Verletzungen davon. | |
| Bilić landete mit Kopfverletzungen in der Notaufnahme. Vorfälle wie dieser | |
| sind die Konsequenz von Rhetorik: Präsident Vučić und andere | |
| Regierungsmitglieder bezeichnen unabhängige Journalist:innen regelmäßig als | |
| „Verräter“, „ausländische Agentinnen“, „Terroristen“. | |
| Seit Beginn des Jahres hat NUNS mehr als 50 solcher Angriffe gezählt, die | |
| meisten davon im Umfeld der Proteste. „So schlimm war es seit Beginn | |
| unserer Aufzeichnungen 2008 nicht“, sagt Filipović. Die Täter seien meist | |
| regierungsfreundliche Demonstrierende, immer häufiger auch die Polizei. | |
| Auch N1 erhalte beinahe täglich Drohungen, sagt Božić. | |
| Im Sommer landete ein Brief in der Redaktion: „‚Ihr werdet enden wie | |
| Charlie Hebdo‘, stand da drin. Wir haben das natürlich der Polizei | |
| gemeldet, aber sie tut nichts.“ Filipović bestätigt das: NUNS hat rund 50 | |
| Fälle aufgezeichnet, in denen die Polizei untätig blieb. Das | |
| Innenministerium reagierte auf eine taz-Anfrage zu den Vorwürfen nicht. | |
| ## Was der Konzern dazu sagt | |
| Nach den Enthüllungen im August suchen Božić und seine Kolleg:innen noch | |
| immer nach Antworten. Wie geht es weiter mit den serbischen Medien der | |
| United Group, zu denen auch das Wochenmagazin Radar und die Tageszeitung | |
| Danas gehören? Die United Group weist Anschuldigungen, sie wolle den | |
| redaktionellen Kurs des Senders beeinflussen oder diesen an das staatlich | |
| verbundene Unternehmen Telekom Srbija verkaufen, gegenüber der taz zurück. | |
| „Es gibt keine Beweise für eine Einmischung in die redaktionelle Arbeit und | |
| keinen Grund, warum wir mit dem serbischen Staat kooperieren sollten“, | |
| sagte ein Sprecher. Das Unternehmen plane eine Ombudsstelle und arbeite | |
| bereits mit zwei internationalen Berater:innen zusammen. Genau das aber | |
| macht Aleksandra Subotić Sorge: Trotz mehrfacher Nachfrage habe weder sie | |
| noch die Redaktion erfahren, wer diese Personen sind und welche Aufgaben | |
| sie haben. Die United Group betont, dass sich die Berater:innen erst zu | |
| einem späteren Zeitpunkt mit der Redaktion besprechen werden. | |
| Dass Subotić wirklich gehen muss, glaubt Filipović von NUNS indes nicht. | |
| „Das wäre zu offensichtlich.“ Eine Einflussnahme werde langsam geschehen, | |
| unbemerkt. „Wenn N1 nicht mehr unabhängig arbeiten kann, wäre das eine | |
| komplette Katastrophe für die serbische Demokratie“, sagt Božić. Die | |
| Reporter:innen von N1 werden weiterhin auf den Straßen unterwegs sein – | |
| auch am 1. November, wenn sich das Unglück von Novi Sad zum ersten Mal | |
| jährt. | |
| 11 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Proteste-in-Serbien/!6112608 | |
| [2] /Proteste-in-Serbien/!6103298 | |
| [3] /Skandal-um-Rechercheplattform-OCCRP/!6051321 | |
| [4] /Serbien-zehn-Jahre-nach-Milosevic/!5134521 | |
| ## AUTOREN | |
| Jana Lapper | |
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