| # taz.de -- Euthanasie Dokumentationszentrum: Der Kindermord von Lüneburg | |
| > In der einstigen „Pflegeanstalt“ Lüneburg ermordeten Ärzte während der | |
| > NS-Zeit Hunderte Kinder mit Behinderung. Eine Ausstellung dokumentiert | |
| > vor Ort. | |
| Bild: Heinz Schäfer auf dem Arm seines Bruders Rolf, ca. 1941 | |
| Lüneburg Berlin taz | Da ist zum Beispiel Heinz Schäfer. Der pausbäckige | |
| Junge sitzt auf einem Schwarz-Weiß-Foto in einem Kinderwagen, seine Brüder | |
| Rolf und Friedrich stehen links und rechts von ihm. Am 16. August 1937 kam | |
| Heinz in Bovenden bei Göttingen zur Welt. Sein Vater war Arbeiter, die | |
| Mutter Hausfrau. Die drei Söhne besaßen ein gemeinsames Kinderzimmer. Heinz | |
| saß da oft auf einem Sofa, denn er konnte nicht laufen. Er hatte auch | |
| Schwierigkeiten beim Sprechen. Aber er verstand alles. | |
| Das Foto von Heinz ist in der [1][Ende August eröffneten Ausstellung] zu | |
| sehen, die sich mit einem der furchtbarsten Verbrechen der | |
| Nationalsozialisten beschäftigt: [2][dem Mord an Menschen mit körperlichen | |
| oder geistigen Einschränkungen]. Die Umgebung des Orts, an dem das Foto und | |
| die Geschichte von Heinz Schäfer präsentiert werden, ist ein Tatort. Es | |
| handelt sich um die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, heute | |
| Standort einer psychiatrischen Klinik. | |
| Ein Amtsarzt schrieb offenbar am 15. August 1941 über Heinz, der am | |
| nächsten Tag seinen vierten Geburtstag begehen sollte: „Die Unterbringung | |
| in eine geschlossene Anstalt ist notwendig.“ Die Nazis hatten 1939 eine | |
| Meldepflicht für alle behinderten Kinder eingeführt. Den Eltern wurde | |
| erzählt, in der Klinik würde Heinz geheilt. So kam der Junge in die | |
| „Kinderfachabteilung“ Lüneburg – als ein Teil von „T4“, dem Programm… | |
| Mord an behinderten Menschen. | |
| Ein offenes, parkähnliches Gelände, die Wiesen unterbrochen von Gebäuden | |
| und einem Turm. Dieser frühere Wasserturm ist das Wahrzeichen der Klinik. | |
| Dort im Erdgeschoss trifft man auf viele Fotos von Kindern, von Martha, von | |
| Fritz oder von Dieter, auch von Heinz. Die Lüneburger „Kinderfachabteilung“ | |
| wurde als eine von 31 Einrichtungen dieser Art geschaffen, um diese zu | |
| ermorden. Und danach zu sezieren. Etwa 5.000 Mal ist dies in Deutschland | |
| bis 1945 geschehen. | |
| Nicht nur Hunderte Kinder sind in Lüneburg ermordet worden. Dort wurden | |
| auch ausländische Zwangsarbeiter umgebracht, zusammen rund 2.000 Menschen. | |
| 820 weitere Opfer hat man zwangssterilisiert. | |
| Heinz Schäfer wurde am 3. November 1941 von seinem gutgläubigen Vater in | |
| die „Kinderfachabteilung“ gebracht. Die Mutter schrieb bald darauf eine | |
| Postkarte an das „liebe Heinzchen“. „Sei herzlich geküsst von Deiner lie… | |
| Mutter“, ist darauf zu lesen. Weiter unten erkundigte sie sich nach dem | |
| Zustand ihres Sohnes. | |
| Die Gedenkstättenleiterin Carola Rudnick, Jahrgang 1976, führt durch die | |
| Ausstellung. Zu jeder Schublade, zu jedem Bild und zu jedem Objekt erzählt | |
| sie eine Geschichte, atemlos schnell, engagiert bis in die Haarspitzen. | |
| Über Jahre, so berichtet sie, habe sie die ursprüngliche Schau begleitet | |
| und schließlich vom Kopf auf die Füße gestellt. Früher waren dort nicht nur | |
| die Opfer, sondern selbst die Täter anonymisiert. Bloß keinem auf die Füße | |
| treten. Nur nicht die Gefühle von Verwandten verletzen, die sich | |
| möglicherweise ihrer Vorfahren wegen genierten. Rudnick hat das geändert. | |
| „Sollen sie mich doch verklagen“, habe sie damals gedacht, sagt sie. Es kam | |
| keine einzige Klage. | |
| Der ärztliche Direktor Max Bräuner antwortete der Mutter von Heinz am 13. | |
| November 1941. Da war von einer Gesundung nicht mehr die Rede. Das Kind sei | |
| unsauber, schrieb Bräuner, zugleich Kreisbeauftragter für das | |
| „Rassenpolitische Amt“ der NSDAP Lüneburg. Die Mutter reagierte empört. Am | |
| 2. Dezember antwortete Bräuner, dass eine Heilung häufig nicht möglich sei. | |
| Die Ausstellung ist barrierefrei. Das heißt nun nicht nur, dass es am | |
| Eingang keine Stufen gibt. Jede und jeder soll sich zurechtfinden, ob blind | |
| oder sehend, im Rollstuhl oder stehend, hörend oder gehörlos. Deshalb kann | |
| man die Geschichten dort wahlweise lesen, hören oder in Brailleschrift | |
| ertasten und auch in leichter Sprache kennenlernen. Dazu führen Hunderte | |
| NFC-Chips den Benutzer eines Smartphones zu weiteren Geschichten. Es wäre | |
| doch seltsam, wenn ausgerechnet Menschen mit Behinderungen diese Schau, in | |
| der es um genau sie geht, nicht verstehen könnten, sagt Rudnick. | |
| Rudnick kennt sich nicht nur aus beruflichen Grünen mit dem Thema aus. Ihr | |
| 17-jähriger Sohn leidet an einer angeborenen seltenen Krankheit, sagt sie. | |
| Rudnick ist keine Frau, die zu leisen Tönen neigt, wenn es um die Rechte | |
| von behinderten Menschen geht. Sie erzählt, dass sich manche Gäste im | |
| Eiscafé umsetzen, wenn sie mit ihrem Sohn dort auftaucht. Dass Autofahrer | |
| zu hupen beginnen, wenn der Krankentransporter ihn nach Hause bringt. Sie | |
| empört sich. Und dann lächelt sie, als sie berichtet, dass Passanten die | |
| lärmenden Autofahrer zur Rede gestellt hätten. | |
| Die Krankenakte von Heinz Schäfer in der Lüneburger „Kinderfachabteilung“ | |
| stufte den Vierjährigen am 20. Januar 1942 als „tiefstehend“ und | |
| „bildungsunfähig“ ein. Einen Monat später hieß es, es seine „keine | |
| Weiterentwicklung eingetreten“. Der Junge kam somit für die Tötung in | |
| Frage. Aus ärztlicher Sicht, versteht sich. | |
| Wer waren die Verwandten von Jungen und Mädchen wie Heinz Schäfer, wollte | |
| Rudnick wissen. Die Historikerin hat nach Nachfahren gesucht und Hunderte | |
| von ihnen gefunden. Zur Eröffnung der Ausstellung reisten über 50 an. | |
| Mithilfe dieser Angehörigen ist es gelungen, aus bisher unbekannten Opfern | |
| Menschen zu machen: Kinder, die lachten und weinten, Spaß hatten und sich | |
| ängstigten. Nur noch in seltenen Fällen würden sich Angehörige ihrer | |
| behinderten Verwandtschaft schämen, sagt Rudnick. | |
| Und so erzählt Uta Wehde an einem Nachmittag in ihrer Küche in Berlin über | |
| ihren Onkel Fritz. Kennenlernen konnte sie ihn nicht, denn Fritz ist schon | |
| im Januar 1945 als Fünfjähriger in Lüneburg getötet worden, mutmaßlich | |
| aufgrund von Mangelernährung. Wehde erinnert sich daran, dass ihre | |
| Großmutter Wilma ihr einmal ein Bild des Jungen gezeigt habe, als sie | |
| selbst vielleicht vier Jahre alt gewesen ist. „Den haben sie umgebracht“, | |
| habe die Oma gesagt. Der Mord war kein Geheimnis. Im Kreis der | |
| sozialdemokratisch orientierten Familie wusste man Bescheid. | |
| Fritz war geistig eingeschränkt, weil er während seiner Geburt zu wenig | |
| Sauerstoff bekommen hatte. Sein Bruder Heinrich erinnerte sich, dass er den | |
| Älteren, der sich nur schwer ausdrücken konnte, immer beschützen wollte. | |
| Doch gegen ein Mordprogramm hat die familiäre Liebe nicht helfen können. | |
| Uta Wehde hat Angehörige ihrer Familie gefragt. Mehr über das Schicksal von | |
| Fritz herauszufinden, sei für sie „gar keine Frage gewesen“. „Das ist mir | |
| total wichtig“, sagt sie. Deshalb saß sie auch in einem aus Angehörigen von | |
| Opfern und Menschen mit Behinderungen gebildeten Beirat, der mit über die | |
| neue Ausstellung in Lüneburg entschieden hat. Das Foto von Fritz, das einst | |
| Oma Wilma gehört hat, ist jetzt in der Ausstellung zu sehen. Vor ein paar | |
| Monaten hat Wehde dafür gesorgt, dass vor dem Haus in Garbsen bei Hannover, | |
| in dem Fritz aufwuchs, ein Stolperstein für den Jungen verlegt worden ist. | |
| Das ganz Dorf sei gekommen, erinnert sich Wehde. | |
| Der Mord an Heinz Schäfer geschah am 23. Februar 1942. Am Vortag hatte die | |
| Mutter noch die Mitteilung erhalten, dass ihr Sohn erkrankt sei. Am | |
| nächsten Tag war der Junge tot. Heinz Schäfer [3][starb durch ein | |
| Barbiturat, einem starken Beruhigungsmittel]. Seine Mörder kamen ohne | |
| Strafen davon. | |
| 13 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/-euthanasie-gedenkstaette-… | |
| [2] /Euthanasie-und-ihr-Erbe/!6035683 | |
| [3] /Euthanasie-im-Dritten-Reich/!5358234 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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