| # taz.de -- Arbeiter:innen-Arzt Alexander Fürst: „Ein Volksarzt im besten Si… | |
| > Der „Gewerksarzt“ behandelte Ende des 19. Jahrhunderts Arbeiter, Arme und | |
| > Bedürftige, oft ohne Gegenleistung. In Berlin ist er fast vergessen. | |
| Bild: Anonym, ohne Titel | |
| taz | Es ist ein Mittwoch, der 8. Juni 1898, an dem Professor Rudolf | |
| Virchow die regelmäßige Sitzung der renommierten Berliner Medizinischen | |
| Gesellschaft eröffnet. Unter seinem Vorsitz diskutieren Ärzte unter anderem | |
| über die damals aktuellen Entwicklungen in Klinik und Forschung. Doch bevor | |
| zu den Tagesordnungspunkten übergegangen wird, gedenken die Mediziner den | |
| in der Zwischenzeit verstorbenen Mitgliedern der Gesellschaft. So erheben | |
| sich auch alle für ihren Kollegen Doktor Alexander Fürst, der am ersten | |
| Pfingstfeiertag im Alter von nur 54 Jahren gestorben ist. Zwei Tage zuvor | |
| hatte bereits der Verein für Innere Medizin den Tod des Mannes betrauert, | |
| der „einfach und bescheiden“ gewesen sei. | |
| Auch in medizinischen Zeitschriften erinnern Kollegen an den praktischen | |
| Arzt und Spezialist für Augenerkrankungen, von dem bekannt war, dass er | |
| sein eigenes Wohl gegenüber dem seiner Patienten stets zurückstellte. An | |
| Ruhm und Macht war er nie interessiert. Heute – in dieser | |
| profitorientierten Welt – ist der Mediziner und Menschenfreund, der auch | |
| als „Gewerksarzt“ beliebt war, völlig in Vergessenheit geraten. Wer war | |
| dieser stille Menschenfreund? | |
| ## Frühes Leben | |
| Alexander Fürst wird am 15. April 1844 im ostpreußischen Braunsberg als | |
| Sohn des Kaufmanns Jakob Bär Fürst und dessen Ehefrau Rosa geboren. Er ist | |
| das dritte Kind des Paares, sie haben bereits die Söhne Julius und Selmar. | |
| 1846 wird noch Bernhard geboren, 1851 Lina und 1853 Adolf. Die Kleinstadt | |
| Braunsberg hat eine jüdische Gemeinde, die ab 1845 eine eigene Synagoge | |
| betreibt und deren Repräsentantenvorsteher J. B. Fürst ist. Als Nachfolger | |
| seines Materialwarengeschäfts ist Bernhard auserkoren worden. | |
| Alexander ist darüber nicht unglücklich, gilt seine Leidenschaft doch der | |
| Medizin. Er will anderen Menschen helfen und das wird zu seinem Lebensziel, | |
| das er konsequent und unbeirrt bis zum Ende verfolgen wird. Nach dem Besuch | |
| des Braunsberger Gymnasiums, das er 1862 mit dem Abitur in der Tasche | |
| verlässt, studiert er in Königsberg Medizin und legt in Berlin sein | |
| Staatsexamen und die Doktorprüfung mit der Dissertation „De versione foetus | |
| spontanea et artificiali“ ab, die auf den 6. Juni 1866 datiert ist. | |
| Im Rahmen seiner weiteren Ausbildung arbeitet er als Assistent am | |
| Schöneberger „Maison de Santé“, eine ursprünglich 1861 von Eduard L. | |
| Levinstein gegründete Brunnen- und Badeanstalt. Als Fürst dort | |
| Assistenzarzt wird, eröffnet Levinstein auch noch eine Abteilung für | |
| psychisch Kranke und verzichtet dabei als einer der ersten Ärzte in | |
| Deutschland auf Zwangsbehandlung und Fixierung der Patienten. | |
| ## Fachgebiet Augenheilkunde | |
| In Danzig nimmt Fürst die nächste Assistentenstelle an, diesmal an einer | |
| Augenheilanstalt. Dort fällt er eine Entscheidung. Er will sich vor allem | |
| der Ophthalmologie, der Augenheilkunde, widmen und im Besonderen der | |
| Behandlung der granulösen Augenerkrankung in Ostpreußen, bei der sich | |
| entzündliches Gewebe unter anderem im Auge ansammeln kann. 1869 lässt er | |
| sich als praktischer Arzt in Memel nieder. Doch der in den Startlöchern | |
| stehende Deutsch-Französische Krieg verhindert seine ärztliche Tätigkeit, | |
| sodass auch er zu den Waffen eilen muss. | |
| Was er nicht ahnt, ein anderer Gegner ist kurz davor, sich in der Stadt | |
| einzunisten. Unbemerkt haben sich bereits erste Infektionsherde der | |
| gefürchteten Lepra gebildet und diese bakteriell bedingte Krankheit kann | |
| schmerzhafte Hautwucherungen und Nervenschäden hervorrufen, oder tödlich | |
| enden. Vor allem aber, so wird Robert Koch 1896 in seinem Aufsatz über „Die | |
| Lepra-Erkrankungen im Kreis Memel“ schreiben, kann sie über einen langen | |
| Zeitraum unbemerkt bleiben. | |
| Während also die Lepra im Memeler Kreis klammheimlich Krankheitsherde | |
| bildet, kehrt Doktor Fürst unversehrt aus dem Krieg zurück. Seine Berufung | |
| findet er zunächst in der „Heilanstalt für mittellose Kranke“, das dem | |
| Jüdischen Krankenhaus von Memel angeschlossen ist. Dort behandelt er „mit | |
| einer geradezu unvergleichlichen Sorgfalt und Aufopferung“ – so eine | |
| Zeitschrift – unentgeltlich mittellose Kranke, finanziert wird das aus | |
| Spenden der in der Region Handel treibenden russisch-jüdischen Kaufleute. | |
| Eines Tages stellt sich in der Praxis von Doktor. Fürst, der auch eine | |
| eigene Praxis in der Friedrich-Wilhelm-Straße hat, Heinrich Schleppkau vor, | |
| der an einer schweren Augenentzündung leidet. Und der geschulte Blick des | |
| Arztes vermutet einen möglichen Zusammenhang zu einer Lepraerkrankung. Um | |
| das zu verifizieren, stellt sich der junge Mann an der Augenklinik in | |
| Königsberg und dann auch im Verein für wissenschaftliche Heilkunde vor. | |
| Doch das Ganze verläuft offenbar im Sand. Der erkrankte junge Mann wird, | |
| wie auch sein Bruder Karl, an der Lepra sterben. | |
| In Kochs Aufsatz werden die beiden Brüder die Namensliste der an Lepra | |
| Erkrankten einleiten, wobei Koch ihre Nachnamen auf den Anfangsbuchstaben | |
| anonymisieren wird, sie jedoch aus dem entsprechenden Kirchenbuch | |
| hervorgehen. Wann genau sich die Lepra im Memeler Kreis eingenistet hatte, | |
| konnte aber auch er nicht mit Sicherheit sagen, er schätzte die „ersten | |
| Andeutungen“ auf das Jahr 1870. | |
| Hätte Fürst das Drama verhindern können? Als Einzelner im Angesicht eines | |
| schwerfälligen Medizinalsystems wohl kaum. So verhallten auch zahlreiche | |
| Appelle anderer Ärzte an die Organe der öffentlichen Gesundheitspflege, | |
| unerkannte Leprafälle im Kreis Memel zu erkennen und für die Isolierung der | |
| Erkrankten zu sorgen, ungehört. | |
| ## Der Weg nach Berlin | |
| Der unverheiratete Doktor hat Memel in der Zwischenzeit verlassen und ist | |
| 1885 nach Berlin gezogen, wo bereits seine beiden Brüder Selmar und Adolf | |
| leben. Lina ist inzwischen mit dem Kaufmann Ladendorff in Königsberg | |
| verheiratet, wo auch Julius wohnt. Fürst will in Berlin seine ärztliche | |
| Tätigkeit im Rahmen der sozialen Fürsorge an dem großen Heer der Berliner | |
| Arbeiterschaft fortführen. Zu diesem Zweck will er auch „Gewerksarzt“ | |
| werden, wozu er aber erst nach zwei Jahren Arbeit in der Stadt berechtigt | |
| ist. So ist er zunächst als „Dr. med. prakt. Arzt, Wundarzt und | |
| Geburtshelfer“ im Adressbuch zu finden, sein Wissen wird er fortan auch in | |
| medizinischen Fachzeitschriften preisgeben. | |
| Im November 1886 verstirbt in Braunsberg der Vater der Geschwister. Ein | |
| Jahr später findet man Alexander Fürst unter der Adresse „Ackerstraße“ im | |
| Berliner Norden wieder, eine Straße, die als Sitz des Verbrechens und des | |
| Elends bekannt ist. 1888 kann er endlich als „Gewerksarzt“ wirken. Diese | |
| Ärzte waren beim Gewerks-Kranken-Verein angestellt, einer Kassen- und | |
| Ärztegemeinschaft, die der Berliner Magistrat 1846 ins Leben gerufen hatte. | |
| Der ursprüngliche Gedanke war dabei die Ressourcenzusammenlegung zur | |
| Finanzierung einer flächendeckenden kassenärztlichen Versorgung. Die | |
| Krankenkasse gewährte weiterhin ein Krankengeld, die Gewerksärzte wurden | |
| aus Zahlungen der angeschlossenen Unterstützungskassen in die Vereinskasse | |
| bezahlt. | |
| Eine freie Arztwahl hatten die Arbeiter dabei nicht, was zu großen | |
| Spannungen innerhalb des sowieso oft kritisierten Systems führte. Da wurde | |
| zum Beispiel das „Simulantenthum unter den Arbeitern“ von der Tagespresse | |
| bemängelt, aber auch das Phänomen, dass der Gewerksarzt nur dazu diente, | |
| sich den Krankenschein ausstellen zu lassen, der Patient dann aber mit dem | |
| Krankengeld seinen favorisierten Arzt aufsuchte. Diese Konflikte werden | |
| auch das Leben von Doktor Fürst erschwert haben. Medizin als soziale | |
| Wissenschaft, dieses Credo, das er zum Beispiel mit dem Medizinstatistiker | |
| Salomon Neumann gemeinsam hatte, wurde so unterwandert. | |
| Dass Fürst als Arzt äußerst angesehen war, ergibt sich aus vielen | |
| Hinweisen. Fürst vertrat zudem vehement die Ansicht, dass ein Hausarzt, der | |
| während des Studiums auch in allen „Specialfächern“ ausgebildet wurde, | |
| nicht zwingend „nur“ als ebensolcher arbeiten sollten. Das erläuterte er | |
| vor allem in seinem hochgelobten Aufsatz „Hausarzt und Ophthalmologie“, der | |
| ein Jahr vor seinem Tod in der Deutschen Medizinal-Zeitung erschien, | |
| während er auch noch ständiger Mitarbeiter des von Prof. Hirschberg | |
| herausgegebenen Centralblatt für praktische Augenheilkunde war. Darin | |
| plädierte er für eine „Grenzregulierung“ dieser beiden ärztlichen | |
| Richtungen, weil das Auge oft „ein warnender Multiplikator für sonst noch | |
| unerkennbare Anomalien“ sei. Die Hausärzte sollten daher auch die während | |
| des Studiums erworbenen Spezial-Fähigkeiten einsetzen und so Patienten | |
| nicht unnötig abweisen. | |
| ## Früher Tod | |
| „Und wenn ihr euch nur selbst vertraut“, schrieb er am Ende auch und | |
| zitierte dabei aus Goethes „Faust“, „Vertrau’n Euch auch die andern | |
| Seelen!“ „Jeder praktische Arzt thäte nur gut daran, sich die wenigen | |
| Seiten der Fürst’schen Arbeit gründlich einzuprägen“, schrieb ein Medizi… | |
| über den Fürst’schen Aufsatz, in dem er nicht nur über den Missstand | |
| aufklärte, sondern auch ganz präzise Hinweise für die Grenzregulierung gab. | |
| Ein Jahr später ignoriert der Mediziner Fürst jedoch sein eigenes Leiden, | |
| ein schmerzhaftes Karzinom im Unterleib, von dem nur er etwas weiß. Am 25. | |
| Mai 1898 stirbt er in seiner Wohnung am Lützowufer 4 im Beisein seines | |
| Bruders Adolf. Vier Tage später wird er auf dem jüdischen Friedhof | |
| Weißensee bestattet. | |
| Noch im Tod wirkt Alexander Fürst weiter als Wohltäter, belegt sind mehrere | |
| Legate, darunter 5.000 Mark für das Asyl für Obdachlose in der | |
| Fröbelstraße. Der beliebte Kassenarzt, der sich dem Konkurrenzwesen unter | |
| der Berliner Ärzteschaft verweigerte, an Titeln überhaupt nicht | |
| interessiert war, war tot. „Ein Volksarzt im besten Sinne“, nannte ihn eine | |
| medizinische Zeitschrift. Das wäre für ihn wohl das schönste Lob gewesen. | |
| Eine Ausstellung über Dr. Levinsteins „Maison de Santé“ (Zwischen Wellness | |
| und Wahnsinn) zeigt das Museum Schöneberg noch bis zum 12. April 2026. | |
| 28 Oct 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Bettina Müller | |
| ## TAGS | |
| Medizin | |
| Geschichte Berlins | |
| Biografie | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Euthanasie | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Geschichte Berlins | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Arbeitszeiten im Krankenhaus: Halb auf Autopilot | |
| 24-Stunden-Dienste sind in vielen Branchen verboten – in Krankenhäusern | |
| nicht. So behandeln oft müde Ärzt*innen Patient*innen. Warum ist das | |
| erlaubt? | |
| Euthanasie Dokumentationszentrum: Der Kindermord von Lüneburg | |
| In der einstigen „Pflegeanstalt“ Lüneburg ermordeten Ärzte während der | |
| NS-Zeit Hunderte Kinder mit Behinderung. Eine Ausstellung dokumentiert vor | |
| Ort. | |
| Politische Stadtführung in Berlin: Spaziergang in die Vergangenheit | |
| Berlinski Tour macht die deutsch-polnische Geschichte im Berliner | |
| Stadtgebiet begehbar: in Gruppen oder auch allein mit dem Smartphone in der | |
| Hand. | |
| Größtes Sadismusinstitut Berlins: Die Masseuse mit der Hundepeitsche | |
| Vor 115 Jahren wurde in der Friedrichstraße Auguste von Strachwitz | |
| ermordet. Sie dichtete nicht nur. Stadtbekannt war sie vor allem als | |
| Dreschgräfin. |