Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Widerstand im Nationalsozialismus: Eine fast vergessene Heldin
> Theodora Loewenstein, eine „Hausfrau“ aus Wilmersdorf, versteckte im NS
> Juden. Rekonstruktion eines Lebens anhand von Akten zu ihrem 120.
> Geburtstag.
Bild: Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem: in der Allee der Gerechten unter den …
Berlin taz | Das Haus ist unscheinbar und alt. Die Feuchtigkeit der Mauern
und die stellenweise brüchige, dunkle Fassade zeigen: Die Düsseldorfer
Straße 77 in Wilmersdorf hat ihre prachtvollsten Tage vor langer Zeit
erlebt. Was an dem Haus, wie so oft in ganz Deutschland, undokumentiert
geblieben ist: Hier lebte eine Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime.
Theodora Loewenstein, geborene Grimm, wohnte für mehrere Jahrzehnte und bis
kurz vor ihrem Tod unter der genannten Anschrift.
Sie wurde von der [1][israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem]
posthum als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Die Geschichte
dieser Frau ist auch die Geschichte zweier geretteter Juden und eines
verstorbenen Mädchens. Die Recherche in verschiedenen behördlichen Akten
und standesamtlichen Dokumenten gibt Einblick in Einzelheiten.
Theodora Friederike Pauline Grimm wurde am 17. Oktober 1905 geboren, heute
vor 120 Jahren. Hamburg war ihre Heimat. Zu welchem Zeitpunkt ihr Lebensweg
in die damalige Reichshauptstadt führte, ist nicht mehr exakt zu
rekonstruieren. Sie war erst 18 Jahre alt, als sie im Februar 1924
heiratete, bereits in Berlin. Franz Louis Eugen Conti lautete der Name
ihres Ehemannes, geboren 1883 – mehr als 20 Jahre vor der noch jungen
Braut. Das Paar wurde nicht glücklich: Die Ehe wurde schon im August 1928
wieder geschieden.
Fragmente eines Lebensweges: Theodora Grimm wohnte bei ihrer Heirat in der
Stralauer Straße 52, nahe dem Nikolaiviertel und am nördlichen Spreeufer in
Mitte. Das Standesamt „Charlottenburg I“ vermerkte auf der Trauurkunde
„ohne Beruf“ über sie, doch dies veränderte sich. Theodora Grimm wurde
Krankenschwester, wie aus der Datenbank von Yad Vashem hervorgeht.
## Sie versteckte jüdische Mitmenschen
Die Spuren verlieren sich nach 1928, erst eine Sterbeurkunde von 1945 gibt
weiteren Einblick in den Lebensweg. Das Mädchen Emma Helene Streckfuß,
geboren im Oktober 1931, verstarb mit 13 Jahren in der Schlacht um Berlin.
Das Kind wurde von einem Granatsplitter an der Halsschlagader verletzt und
verblutete am 28. April 1945. Berlin ergab sich am 2. Mai 1945 der Roten
Armee, nur wenige Tage danach. Die Verbindung des Mädchens zu Theodora
Grimm war die denkbar engste: Emma Helene Streckfuß war eine ihrer beiden
Töchter.
Die Sterbeurkunde des Kindes gibt auch Auskunft darüber, dass Theodora
Grimm erneut geheiratet hatte. Karl Streckfuß, Kaufmann und Dolmetscher,
war ihr zweiter Ehemann, dessen Familiennamen sie bei der Trauung annahm.
Mannheim war 1931 der Geburtsort der Tochter Emma Helene. Wohnort von
Familie Streckfuß im Jahr 1945 jedoch war die Düsseldorfer Straße 77 in
Berlin. Das Kind verstarb in einem Reserve-Lazarett am Nikolsburger Platz,
unweit des besagten Hauses und als [2][ziviles Opfer des längst
entschiedenen Zweiten Weltkrieges.]
Der Lebensweg von Theodora Streckfuß liegt weithin im Dunkeln, belegt ist
jedoch vor allem eine weitere Tatsache aus der Zeit von 1933 bis 1945: Sie
zeigte großen [3][Mut im Kampf gegen das NS-Regime.] Sie rettete unter dem
Naziterror zwei jüdischen Mitmenschen das Leben, die sie in ihrer Wohnung
in der Düsseldorfer Straße versteckte und mit Lebensmitteln versorgte: Kurt
Matthias Lindenberg und Gerald Phillips Philipsohn.
Die Männer überlebten mitten in Berlin das Grauen der NS-Zeit. Lindenberg
hatte auf seinem Weg durch den hauptstädtischen Untergrund mehrere treue
Helferinnen und Helfer an seiner Seite. Theodora Streckfuß war entscheidend
daran beteiligt, ihm das Leben zu retten – ebenso wie zwei Ehepaare in
Charlottenburg, die denselben Familiennamen trugen: Lotte und Karl Zabel
sowie Edith und Kurt Zabel. Die Ehemänner waren Brüder, ihre Ehefrauen
entsprechend miteinander verschwägert. Sie führten gemeinsam eine Drogerie
in der Kantstraße 41, in der sie Lindenberg bis zum März 1943 wiederholt
beherbergten. Der Mann lebte untergetaucht und unter dem falschen Namen
Kurt Welsch danach in verschiedenen Verstecken, etwa in der Wohnung von
Edith und Kurt Zabel in der Rönnestraße 20 und von Februar bis November
1943 mehrfach auch bei Theodora Streckfuß in Wilmersdorf.
## Unbesungene Helden
Die Frauen erfuhren viele Jahre danach eine besondere Anerkennung. Der
Senat von Westberlin zeichnete ab 1958 mehr als 750 Berlinerinnen und
Berliner als „Unbesungene Helden“ aus. Sie hatten unter dem NS-Regime
nachweislich jüdische Mitmenschen unterstützt und gerettet. Theodora
Streckfuß, Edith Schober, geschiedene Zabel, und Lotte Zabel waren drei von
ihnen.
Die Ehrungen erfolgten auf Anregung der Jüdischen Gemeinde. Joachim
Lipschitz beförderte sie als damaliger sozialdemokratischer Innensenator.
Das „Unbesungene Helden“-Programm endete 1966, seine Akten sind im
Landesarchiv Berlin einsehbar und geben Auskunft über die Hilfe und die
Adressen der ausgezeichneten Personen.
Theodora Streckfuß lebte nach dem Ende des NS-Regimes weiterhin in der
Düsseldorfer Straße 77. Sie heiratete an ihrem Lebensabend erneut und nahm
wiederum den Familiennamen ihres Ehemannes an: Gerd Max Fritz Loewenstein.
Die Ehe wurde am 13. Januar 1967 geschlossen. Theodora Loewenstein verstarb
acht Jahre später, im Dezember 1975. „Hausfrau“, stand auf ihrer
Sterbeurkunde. Welch ein bewegtes Leben nun mit 70 Jahren endete, war
anhand des standesamtlichen Dokuments natürlich nicht einmal zu erahnen.
Mehr als 40 Jahre vergingen nach ihrem Tod, bis Theodora Loewenstein mit
einer weiteren Ehrung bedacht wurde. Yad Vashem erkannte sie im September
2019 als „Gerechte unter den Völkern“ an, ebenso wie die beiden Ehepaare
Zabel. Die israelische „Gedenkstätte des Holocausts und des Heldenmuts“
vergibt ihren Ehrentitel seit den 1960er Jahren, ausgezeichnet wurden
weltweit seitdem beinahe 28.500 Personen – darunter mehr als 650 Deutsche.
Die Gerechten mit deutscher Staatsangehörigkeit sind in ihrer Heimat
zumeist aber weithin unbekannt geblieben. Emilie und Oskar Schindler sind
eine Ausnahme, wobei es mit „Schindlers Liste“ eines filmischen Denkmals
von Steven Spielberg bedurfte, um 1993 ihre Taten in das Bewusstsein der
breiten Bevölkerung zu bringen.
## Jerusalem erinnert, Berlin nicht
Die Geschichten vieler anderer deutscher Gerechter dagegen finden sich
weder in Schulbüchern noch in Museen. Die Erinnerung an sie wird viele
tausend Kilometer in Jerusalem beständig gepflegt, oft bereits seit
mehreren Jahrzehnten. Die Zahl der Gedenktafeln, Stelen und
Straßenbenennungen zu ihren Ehren steigt zwar nach und nach auch in
Deutschland an. Dennoch gibt es weiterhin sehr zahlreiche Rettungstaten aus
der NS-Zeit, die abseits von Yad Vashem undokumentiert geblieben sind.
Die Geschichte von Theodora Loewenstein ist dafür ein Beispiel. Ihr Name
steht seit 2019 an der „Ehrenmauer“ im „Garten der Gerechten“ von Yad
Vashem. Die posthume Anerkennung aber rief in Deutschland kein Echo hervor
– und in der Düsseldorfer Straße 77 erinnert nach wie vor nichts an jene
mutige Frau, die unter dem Naziterror Mensch blieb und Mut bewies.
15 Oct 2025
## LINKS
[1] /Holocaust-Gedenkstaette-hat-neuen-Chef/!5791112
[2] /Gedenkstaette-Deutscher-Widerstand/!6082420
[3] /Widerstand-im-NS-Regime/!6083556
## AUTOREN
Nicolas Basse
## TAGS
Yad Vashem
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Judenverfolgung
Social-Auswahl
Holocaust
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse
8. Mai 1945
NS-Widerstand
Israel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Widerstand im Nationalsozialismus: Der Retter im Gefangenenlager
Die Gedenkstätte Yad Vashem ehrt den Arzt Hans-Georg Früchte posthum als
„Gerechten unter den Völkern“. Er hatte Juden in der Ukraine vor dem Tod
bewahrt.
Roman zu Belgrad im Zweiten Weltkrieg: Opfer, Feind, Verräter oder Mörder
In „Buch der Gesichter“ zeichnet der österreichisch-serbische
Schriftsteller Marko Dinić ein netzartiges Gebilde um ein vergangenes
Rätsel.
Widerstand im NS-Regime: Schriften der Aufklärung
In winziger Schrift verbreiteten SPD und KPD nach ihrem Verbot durch das
NS-Regime Botschaften – getarnt als Preisausschreiben oder Haarpflegetipps.
Gedenkstätte Deutscher Widerstand: Durchhalteterror in den letzten Kriegstagen
Eine neue Ausstellung befasst sich mit dem Widerstand gegen das NS-Regime
am Weltkriegsende. Vielfach ging es dabei um die Rettung der eigenen
Städte.
Holocaust-Gedenkstätte hat neuen Chef: Der Neue für Yad Vashem
Mit dem rechtsnationalen Finanz- und Wirtschaftsexperten Dani Dayan hat die
Holocaust-Gedenkstätte wieder einen Direktor. Die Suche war schwierig.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.