| # taz.de -- DRK-Leiter zu Gaza: „Die Lage bleibt äußerst fragil“ | |
| > Die Menschen in Gaza müssen weiter hungern, sagt Christof Johnen. Er | |
| > erklärt, warum noch immer viele Lkws mit Hilfsgütern an der Grenze | |
| > feststecken. | |
| Bild: Palästinenser in Gaza-Stadt zapfen am Wasser aus einem Tank, Bild vom 16… | |
| taz: Herr Johnen, wie ist gerade die Lage im Gazastreifen? | |
| Christof Johnen: Die Versorgungslage der Bevölkerung ist desaströs. Die | |
| Menschen in Gaza haben nicht genug zum Essen. Die allermeisten Menschen | |
| wissen nicht, wenn sie morgens wach werden,ob sie an diesem Tag etwas zum | |
| Essen bekommen. | |
| taz: Haben Sie in ihrem Feldkrankenhaus in Rafah unterernährte Menschen | |
| behandelt? | |
| Johnen: Ja, wir haben mangel- und unterernährte Menschen behandelt. | |
| taz: Die Ernährungslage ist aber nicht die einzige Dimension der Not in | |
| Gaza. | |
| Johnen: Ja. Bis zur Waffenruhe gab es immer weiter | |
| Evakuierungsaufforderungen. Hunderttausende sind so auf immer engerem Raum | |
| zusammengedrängt worden. Viele leben auf offener Straße oder unter | |
| Plastikplanen. Wem es „gut“ geht, hat zumindest ein Zelt. Viele haben sich | |
| seit der Waffenruhe wieder auf den Weg zurück zu ihrem ursprünglichen | |
| Wohnort gemacht, wo die Menschen heftigste Zerstörung vorfinden. Es gibt | |
| zudem die Gefahr durch nicht explodierte Sprengkörper und Munitionsreste. | |
| Hinzu kommt die Zerstörung der Wasserversorgung und eine mangelhafte | |
| Gesundheitsversorgung. Die Waffenruhe kommt zu einem Zeitpunkt, an dem die | |
| Bevölkerung komplett erschöpft und traumatisiert ist. Vor allem die Kinder | |
| und Jugendlichen, die durch die Kampfhandlungen teils selbst verletzt oder | |
| gar verwaist sind. | |
| taz: Hat sich seit [1][der Waffenruhe] etwas verändert? | |
| Johnen: Die Kampfhandlungen sind derzeit praktisch zum Erliegen gekommen. | |
| Aber in der Versorgung der Zivilbevölkerung hat sich noch nichts | |
| substanziell verändert. Die palästinensischen Kolleg*innen vor Ort | |
| sagen, dass es eine große Erleichterung ist, nicht mehr ständig besorgt zu | |
| sein, bei den Kämpfen selbst getroffen zu werden. Am Montag, als die | |
| israelischen Geiseln und die palästinensischen Gefangenen freikamen, hat | |
| sich dieses Gefühl der Erleichterung noch mal verstärkt. Zwei | |
| Grenzübergänge wurden am Sonntag kurzzeitig geöffnet, dann aber wieder | |
| geschlossen. Die Lage bleibt äußerst fragil. | |
| taz: Die israelische Regierung begründet die nach wie vor bestehende | |
| Schließung des Grenzübergangs Rafah damit, dass die Hamas nicht alle | |
| [2][toten Geiseln] übergeben habe. | |
| Johnen: Ja, aber leidtragend bei solchen Maßnahmen ist die | |
| Zivilbevölkerung. Derzeit stapeln sich Hilfsgüter in Ägypten und in | |
| Jordanien, können aber nicht nach Gaza hereinkommen. Einerseits ist das | |
| eine Frage der Quantität – das heißt, die Versorgung der Bevölkerung mit | |
| grundlegenden Gütern ist nicht gesichert – aber andererseits geht es hier | |
| auch um die Qualität. | |
| taz: Wie meinen Sie das? | |
| Johnen: Wir müssen auch die Wasserinfrastruktur reparieren, wir müssen | |
| unbedingt die noch funktionierenden Gesundheitseinrichtungen mit Geräten, | |
| mit Material und mit Medikamenten versorgen. Wir brauchen Sanitäranlagen | |
| und Unterkünfte. Bald wird es kühl und feucht, die Menschen brauchen | |
| Schutz. | |
| taz: Woran hapert es konkret? Ist es nur die aktuelle Schließung der | |
| Grenze? | |
| Johnen: Es gibt weiterhin keine Klarheit darüber, wie Hilfsgüter eingeführt | |
| werden. Die administrativen Prozesse sind schwierig und zeitaufwendig. Es | |
| muss nach wie vor alles einzeln beantragt werden, und das ist besonders im | |
| Gesundheitsbereich sehr komplex. Da geht es auch um potenzielle | |
| Dual-Use-Güter. | |
| taz: Sie meinen Güter, die sowohl für zivile als auch militärische Zwecke | |
| eingesetzt werden könnten. | |
| Johnen: Ja, dazu gibt es keine verlässlichen Vorgaben und Richtlinien. Die | |
| hat es nie gegeben. Es ist verständlich, dass man sagt: „Wir möchten | |
| Kontrolle darüber haben, was hier wie eingeführt wird“. Aber wir, als | |
| humanitäre Organisation, brauchen Klarheit und zügige Prozesse. Daran | |
| mangelt es noch. | |
| taz: Wie viele Krankenhäuser funktionieren noch im Gazastreifen? | |
| Johnen: Von den etwa 35 Krankenhäusern sind nach unseren Informationen | |
| derzeit 12 bis 14 noch teilweise funktionsfähig, darunter das genannte | |
| Feldkrankenhaus. Der Palästinensische Rote Halbmond selbst betreibt zudem | |
| zwei Kliniken, in Gazastadt und Chan Junis. Beide sind schwer beschädigt, | |
| aber noch in Betrieb. Die Kapazitäten sind durch die Angriffe gesunken, | |
| während der Bedarf gestiegen ist. Wenn viele Menschen auf engem Raum leben, | |
| verbreiten sich Krankheiten viel schneller. | |
| taz: Wie lange wird es dauern, bis das Gesundheitswesen wieder vollständig | |
| funktioniert? | |
| Johnen: Eine vollständige Wiederherstellung wird in vielen Fällen sehr | |
| große bauliche Maßnahmen erfordern. Und das wird lange dauern. Selbst, wenn | |
| die Waffenruhe hält und Hilfe ungehindert in den Gazastreifen kommt, wird | |
| es sicherlich Monate dauern, bis es eine Stabilisierung der | |
| Gesundheitsversorgung gibt. Deshalb ist es so wichtig, jetzt auch | |
| Medikamente und medizinische Ausstattung in den Gazastreifen zu bringen. | |
| taz: Haben Sie seit Beginn der Waffenruhe Waren einführen können? | |
| Johnen: Wir als Deutsches Rotes Kreuz noch nicht. In den letzten zwei | |
| Jahren hatten wir zahlreiche Frachtflugzeuge und Lkws mit Tonnen von | |
| Hilfsgütern nach al-Arisch in Ägypten geschickt, das waren größtenteils | |
| Zelte, Plastikplanen, Kanister, Hygieneartikel und natürlich das Material | |
| für das Feldkrankenhaus. Und der Rote Halbmond hat spezielle Ausstattung | |
| für traumatische Verletzungen erhalten. Vieles davon konnte nach Gaza | |
| gebracht werden, sehr viele Hilfsgüter werden aber weiterhin in al-Arisch | |
| vorgehalten, um schnellstmöglich in den Gazastreifen importiert zu werden, | |
| wenn eine Einfuhrerlaubnis vorliegt. | |
| taz: Woran liegt es, dass viele LKWs noch an der Grenze stehen? | |
| Johnen: Die Grundvoraussetzung sind mehr geöffnete Grenzen. Hinzu kommen | |
| Genehmigungsprozesse, die einfach dauern. Und bisher reichen die | |
| Kapazitäten dafür nicht aus. Denn jedes Fahrzeug, das in den Gazastreifen | |
| einfährt, wird kontrolliert. Und diese Kontrolle ist letztlich eine | |
| manuelle, händische Kontrolle, die natürlich viel Zeit in Anspruch nimmt. | |
| Und deswegen fordern wir, dass eben mehr Grenzübergänge geöffnet werden. | |
| Die Kapazitäten müssen erhöht werden. | |
| taz: Haben Sie keine Sorge, dass [3][die Hamas oder andere Milizen die | |
| Hilfsgüter an sich reißen] und die Lkws plündern? | |
| Johnen: Ich kann nur für die Güter der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung | |
| sprechen. Diese werden vom Roten Halbmond oder dem Internationalen Komitee | |
| vom Roten Kreuz direkt verteilt. Beide sind vor Ort von den Menschen | |
| anerkannt und kennen die Lage sehr gut. Uns liegen keine Hinweise vor, dass | |
| unsere Hilfsgüter zweckentfremdet wurden. Wir gehen davon aus, dass wir | |
| aufgrund unserer Vorgehensweise auch in Zukunft die Hilfsgüter direkt zu | |
| den notleidenden Menschen bekommen. | |
| An der Stelle möchte ich auch einmal etwas Grundsätzliches sagen: In keinem | |
| anderen Konflikt wird diese Diskussion in der Form geführt. Im Sudan nicht. | |
| In der Ukraine nicht. Nur hier. Bedenken sind verständlich und die | |
| größtmögliche Sorgfalt ist erforderlich, das steht außer Frage. Aber man | |
| kann auch nicht zwei Millionen Menschen, viele davon Frauen, Kinder, Kranke | |
| und Verletzte, erforderliche humanitäre Hilfe vorenthalten. Wir können | |
| diese Menschen nach allem, was sie durchgemacht haben, nicht der Würde | |
| berauben, versorgt zu werden oder sich wieder selbst zu versorgen. | |
| taz: Was wäre jetzt auf politischer Ebene notwendig? | |
| Johnen: Ich glaube, man muss wirklich ein besonderes Augenmerk auf Kinder | |
| und Jugendliche richten, um nicht eine ganze Generation von jungen Menschen | |
| zu verlieren. Dass sie möglichst schnell wieder zur Schule gehen oder eine | |
| Betreuung bekommen können. Das ist eine Generation, die jetzt zwei Jahre | |
| jedweder Möglichkeit beraubt wurde. Viele sind mangel- oder unterernährt, | |
| haben ihre Eltern oder Angehörige verloren, sind schwer traumatisiert. Das | |
| ist vor allem eine Frage für den Wiederaufbau, das kann man nicht mit Lkws | |
| richten. | |
| Der Wiederaufbau wird im Augenblick sehr in Form von Gebäuden diskutiert. | |
| Wiederaufbau muss aber auch eine soziale Dimension beinhalten. Und das mit | |
| einem besonderen Fokus auf die Einbindung der palästinensischen | |
| Zivilbevölkerung. Ein Wiederaufbau, der von außen aus europäischen oder | |
| nordamerikanischen Hauptstädten verordnet wird und nicht mit den Menschen | |
| gemeinsam geschieht, wird nicht erfolgreich sein. | |
| 19 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Analyse-zur-Waffenruhe-in-Gaza/!6115099 | |
| [2] /-Nachrichten-im-Nahost-Konflikt-/!6120839 | |
| [3] /Humanitaere-Hilfe-fuer-den-Gazastreifen/!6085972 | |
| ## AUTOREN | |
| Serena Bilanceri | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Gaza | |
| Hunger | |
| Interview | |
| DRK | |
| Hilfslieferung | |
| GNS | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Kolumne Gaza-Tagebuch | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Kolumne Press-Schlag | |
| Johann Wadephul | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Nach neuer Gewalt in Gaza: Hält die Waffenruhe? | |
| Die vereinbarte Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas weckte Hoffnung, | |
| am Sonntag eskalierte die Lage wieder. Wie geht es nun weiter? Ein Q & A. | |
| Gaza-Tagebuch: Warum dürfen wir nicht einfach leben? | |
| Das Wiederaufflammen des Krieges in Gaza am Sonntag erschreckt unseren | |
| Autor. Er fordert: weg mit der israelischen Besatzung. Und raus mit der | |
| Hamas. | |
| +++ Nachrichten im Nahost-Konflikt +++: Israel kündigt Hilfslieferungen für G… | |
| Aus Sicherheitskreisen heißt es, Israel werde wieder Hilfe nach Gaza | |
| lassen. Die Waffenruhe sei weiter in Kraft, sagt US-Präsident Trump. | |
| Ausschluss Israels von Turn-WM: Dreistes Wegducken | |
| Israel bleibt von der Weltmeisterschaft in Indonesien ausgeschlossen. Der | |
| internationale Turnverband trägt eine große Verantwortung dafür. | |
| Wadephul in der Türkei: Gemeinsame Vorhaben | |
| Bei seinem Antrittsbesuch betont der Außenminister die strategische | |
| Zusammenarbeit. Über die innenpolitische Lage in der Türkei spricht er nur | |
| zögerlich. | |
| Nach dem Waffenstillstand in Gaza: Ein Anfang, aber kein Ende | |
| Der Waffenstillstand hält – vorerst. Doch wer den Gazastreifen künftig | |
| kontrollieren soll, bleibt offen. Was es braucht für einen nachhaltigen | |
| Frieden. |