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# taz.de -- Parlamentswahl in Norwegen: Plötzlich wieder ganz vorne dabei
> Die sozialdemokratische Arbeiterpartei, lange im Umfragetief, liegt in
> der Wählergunst jetzt wieder vorn. Premier Støre könnte sogar im Amt
> bleiben.
Bild: Der Grüne Arild Hermstad fährt in Oslo die schweren Wurzelgemüse auf �…
Oslo taz | Arild Hermstad kommt mit einer Schubkarre voller Möhren um die
Ecke, natürlich in Begleitung von Kameras. Es ist Wahlkampf, am 8.
September wird in Norwegen ein neues Parlament gewählt. Ein Team des
Fernsehsenders TV2 dirigiert den Spitzenkandidaten der Osloer Grünen in die
perfekte Position, das Parlamentsgebäude Storting im Hintergrund.
Es seien regionale Biomöhren, erklärt Hermstad. Und zwar genau 1721 Stück –
was schon nicht mehr ganz stimmt, seine Wahlkampf-Requisiten sind
neugierigen Passanten ein willkommener Snack, sie dürfen sich bedienen.
1721 Möhren, sagt Hermstad, die stünden für die 1721 Stimmen, die den
Grünen bei der letzten Parlamentswahl 2021 fehlten, um über die
Vier-Prozent-Hürde zu kommen.
Diese Hürde, sie ist nicht wie in anderen Ländern. Auch mit weniger als
vier Prozent Stimmenanteil sind die Grünen im Parlament vertreten. Diese
Besonderheit des Wahlsystems hat großen Einfluss auf die Politik des
5,6-Millionen-Einwohner-Landes.
150 der 169 Parlamentssitze werden in Norwegen mit Direktmandaten aus 19
Regionen besetzt. Die Grünen, als Beispiel, hatten zuletzt drei Sitze aus
der Metropolregion Oslo/Akershus. Mit zusätzlichen Stimmen im Umfang einer
Schubkarre voller Möhren könnten es aber doppelt so viele sein: Ab vier
Prozent gibt es Anspruch auf einige der 19 Ausgleichsmandate. Die großen
Parteien wären über ihre Direktmandate im Verhältnis zum Wahlergebnis sonst
überrepräsentiert.
## Wichtige grüne Botschaft
Helft uns über die Vier-Prozent-Hürde, dann verhindert ihr Sylvi Listhaug
als Ministerpräsidentin: Das ist eine wichtige Grünen-Botschaft in diesem
Wahlkampf. Listhaug will als erste Politikerin der rechtspopulistischen
Fortschrittspartei (Frp) eine norwegische Regierung anführen. Nicht nur
Parteien des linken Spektrums wollen das verhindern.
Auch auf der sogenannten bürgerlichen Seite, zu der sie gezählt wird, ist
Listhaug umstritten – die konservative Høyre hat mit der früheren
Ministerpräsidentin Erna Solberg eigentlich die beliebtere Kandidatin. Ihr
Problem jedoch ist der rasante Aufstieg der Fortschrittspartei – allein
Høyre hat 100.000 Wähler an sie verloren, Frp ist in der Wählergunst nach
der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Ap) die zweitstärkste Kraft.
Zur Regierungsbildung braucht es keine absolute Mehrheit, der Bruch einer
Koalition hat in Norwegen keine Neuwahlen zur Folge. Gewählt wird hier alle
vier Jahre, Punkt. Minderheitsregierungen und Regierungsumbildungen in der
laufenden Legislaturperiode haben eine lange Tradition. Die amtierende
Regierung von Ap-Ministerpräsident Jonas Gahr Støre hat nur 48 der 169
Sitze im Parlament. Selbst vor [1][dem Aus seiner Koalition mit der
Zentrumspartei] im Januar waren es nur 76.
Mehrheiten für eigene politische Vorhaben müssen immer neu gesucht und
verhandelt werden, auch ohne Ministerien können Parteien mitgestalten.
„Dank euch konnten wir den Grubenbetrieb am Meeresgrund stoppen“, damit
warb etwa die Vorsitzende der Sozialistischen Linkspartei (SV) Kirsti
Bergstø um Stimmen, als sie sich am Dienstag bei der letzten TV-Debatte
direkt an bisherige und potenziell neue Wählende richtete. Die für den
Haushalt nötige Mehrheit hatte die Regierung im Dezember nur unter der
SV-Bedingung zusammenbekommen, dass das umstrittene Projekt Tiefseebergbau
ausgesetzt werde.
## Gewöhnliche Leute
Norwegen starrt also am Wahlabend nicht aufgeregt auf mögliche Koalitionen
mit absoluter Mehrheit. Die entscheidende Frage ist: Welche Seite hat die
meisten Sitze – Mitte-rechts oder Mitte-links? Der Grünen-Kandidat Hermstad
beschrieb es in der TV-Debatte so: „Wir haben die Wahl zwischen einem
graueren, kälteren und polarisierenderen Norwegen unter Sylvi Listhaug und
einem grüneren, wärmeren, smarteren und solidarischeren Kurs unter Jonas
Gahr Støre.“
Listhaug wiederum wandte sich an die „gewöhnlichen Leute“, die seien nun an
der Reihe, das habe doch Støre vor vier Jahren versprochen. „Und, hast du
das Gefühl, dass du an der Reihe bist? Ist der Hauskredit billiger, sind es
die Lebensmittel, der Diesel?“, fragte sie in die Kamera.
Ihre Hauptbotschaft: Die Fortschrittspartei werde Schluss machen mit der
Verschwendung von Steuergeldern für grüne Industrie, Entwicklungshilfe und
Bürokratie. Stattdessen solle es eine bessere Versorgung von Älteren und
Schulen, mehr Polizei und mehr Verteidigung geben.
Die letzte große Umfrage des Norwegischen Rundfunks NRK sieht einen
leichten Vorteil auf der linken Seite mit ihrem Spektrum von Zentrum über
sozialdemokratisch, grün bis zur ganz linken Rødt. Vor einem Jahr galt das
noch als undenkbar. Doch nun könnte Støre möglicherweise im Amt bleiben mit
seiner Ein-Parteien-Minderheitsregierung, unterstützt von einer leichten
links-grünen Mehrheit im Parlament. Dabei waren die Konservativen lange
siegesgewiss gewesen.
## Drei Jahre im Umfragetief
Wie konnte der Wahlkampf nun so spannend werden? Eirik Mosveen von Zeitung
Avisa Oslo verfolgt als Journalist seit Jahrzehnten Wahlkämpfe in seiner
Heimat. Die Art von Trendwende, wie die Arbeiterpartei sie nach drei Jahren
im Umfragetief hinlegte, so etwas habe er noch nicht gesehen, erzählt
Mosveen einer Gruppe deutscher Journalisten im Osloer Verlagshaus Amedia.
Der Bruch der glücklosen Koalition mit der Zentrumspartei (Sp) Anfang des
Jahres und [2][die darauf folgende Rückkehr von Jens Stoltenberg in die
norwegische Politik] gelten als Auslöser des Comebacks. Mosveen meint,
Støre sei wie ausgewechselt im Team mit dem ehemaligen
Nato-Generalsekretär, den er überraschend als Finanzminister holte.
Plötzlich wirke Støre wie ein kompetenter Politiker. Jetzt lächeln die
beiden auf Wahlplakaten gemeinsam und versprechen eine sichere Zukunft für
das Land.
Støres Beliebtheit hatte stark gelitten, als die Menschen in Norwegen sich
plötzlich mit ungewohnt hohen Strompreisen konfrontiert sahen – auf die
Sorgen einzugehen, hatte die damals frisch gewählte Regierung verpasst.
Norwegen ist durch das EWR-Abkommen längst eng an den europäischen
Strommarkt gebunden. Die Folgen für die Strompreisentwicklung zu Hause
bleiben ein heißes Eisen.
Was aus unterschiedlichen Gründen kein heißes Eisen in diesem Wahlkampf
ist, erklärt der norwegische Wahlforscher Johannes Bergh: Der
Ukraine-Krieg, eine mögliche EU-Mitgliedschaft, Klima. In Sachen
Ukraine-Unterstützung etwa herrsche ein grundlegender Konsens, mit Nuancen
in der Ausformung. Gesundheit, Ausbildung, wachsende Jugend-Kriminalität,
teure Lebenshaltungskosten: Es seien Themen, die näher am Alltag der
Menschen sind, die die Wahl entscheiden.
## Unpopuläre Folgen
Eine neue, das Land weitgehend einigende Sorge sei die erlebte Unsicherheit
angesichts eines US-Präsidenten Donald Trump. Nicht zuletzt deshalb hält
Støre an den unpopulären Folgen der engen Bindung an die EU fest: Norwegen
brauche seine Verbündeten gerade jetzt.
Überraschungs-Topthema des Wahlkampfs war die Vermögenssteuer und ihre
mögliche Abschaffung – von der rechten Seite als nötiger Anreiz für
Investoren propagiert und auf Social Media vor allem von jungen
konservativen Männern emotional aufgegriffen. Von der linken Seite wird die
Idee als unnötige Steuererleichterung für Norwegens Superreiche verworfen.
Bis Mittwoch dieser Woche hatten laut der norwegischen Wahlbehörde bereits
gut ein Drittel der Wahlberechtigten, 1,379 Millionen Menschen, ihre Stimme
abgegeben. Sie können das quasi auf dem Weg zum Einkaufen erledigen –
Wahlkabinen stehen seit dem 11. August in Einkaufszentren und an vielen
anderen öffentlichen Plätzen. Wahlforscher Bergh sieht den noch neuen Trend
zur Vorabwahl als schwierig für manche Parteien an, der Wahlkampf werde
dadurch verkürzt.
In einem Café in der ostnorwegischen Stadt Hønefoss äußert sich zehn Tage
vor der Wahl genau darüber eine Gruppe befreundeter älterer Damen
zufrieden: Sie hätten bereits gewählt, jetzt bräuchten sie sich das ganze
Gerede nicht mehr anzuhören. Wie es ausgeht, darauf sind sie genauso
gespannt wie der Rest des Landes.
4 Sep 2025
## LINKS
[1] /Regierungskrise-in-Norwegen/!6066345
[2] /Norwegen-und-der-Krieg-in-Gaza/!6106971
## AUTOREN
Anne Diekhoff
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