| # taz.de -- Wo die Stadt schreit: W wie Warschauer, W wie Wachkoma | |
| > Wenn man mal länger nicht in Berlin war, weiß man mit der hibbeligen | |
| > Warschauer Straße doch gleich wieder, meint unser Kolumnist, was man hat | |
| > an der Stadt. | |
| Bild: Einstiegshilfe oder Fluchtweg: die U-Bahn an der Station Warschauer Stra�… | |
| Es gibt Orte in Berlin, die fühlen sich an wie der späte Sonntagvormittag | |
| vor einem Brunch – wohlig erschöpft, den Kater gezähmt und Appetit auf | |
| etwas Zünftiges. Dann gibt es noch die Warschauer Straße. Und die fühlt | |
| sich an, als wenn einem der Brunch nicht bekommen wäre. | |
| Besonders deutlich spürte ich das gerade erst wieder an einem | |
| Sonntagnachmittag, als ich nach einigen Wochen Berlin-Abstinenz auf dem Weg | |
| vom Flughafen nach Hause war. Am S-Bahnhof Warschauer Straße musste ich in | |
| die U-Bahn umsteigen. Dorthin kommt man über die Warschauer Brücke, das | |
| zwischenmenschliche Sahnehäubchen dieser Straße. | |
| Die Warschauer Brücke ist kein Ort, sie ist eine Raum-Zeit-Anomalie. Wer | |
| hier steht, steht nicht einfach irgendwo, man befindet sich in der | |
| Endlosschleife aus Clubnächten, Dönerresten, billigem Parfüm, Reifenabrieb | |
| und warmem Bier. Zwischen S-Bahn-Schlauch und U-Bahn-Eingang wechselt man | |
| nicht einfach nur den Bahnsteig – es ist der reinste Parkourlauf um Pfützen | |
| von Erbrochenem, Rotz und Urin. Durch menschliche Ausdünstungen und Gruppen | |
| hängengebliebener Touris. Ein nerviges Hin und Her zwischen Gestalten im | |
| Drogenrausch, Wodka-Veteranen und überdrehtem Partyvolk. Hier rollt man | |
| nicht den Koffer, hier ist Tragen Pflicht. Hach, Berlin! Wie hab ick dir | |
| vermisst! | |
| Die ganze Warschauer Straße ist kein Ort, sie ist ein Aggregatzustand. | |
| Feucht, laut, heiß, klebrig. Dieses hibbelige Stück Friedrichshain beginnt | |
| an der Oberbaumbrücke, der gefühlten Brooklyn Bridge Berlins und | |
| Bindestrich im sperrigen Bezirksnamen „Friedrichshain-Kreuzberg“. Sie zieht | |
| sich weit über einen Kilometer hin bis zum Frankfurter Tor, dessen | |
| mehrspurige Fahrbahn und imposante Architektur einst dem Sozialismus | |
| huldigten. | |
| Würde man Berliner Stadtteilen Lebensphasen zuordnen, die Warschauer wäre | |
| eine pickelige Teenagerin auf dem Höhepunkt ihrer Pubertät oder ein | |
| Mittfünfziger im Abgrund seiner Midlife-Crisis. | |
| Die Gegend schreit. Nicht im übertragenen Sinne. Sie schreit wirklich. | |
| Tagsüber kreischen Männergruppen mit den Möwen um die Wette, während sie | |
| sich auf der Spree an den Pedalen eines dieser räudigen Biertretboote | |
| verausgaben. Nachts schreien verlorene Gestalten ihren Frust in den Himmel | |
| – oder ins Gesicht eines anderen, bevor es Kloppe gibt. Dazwischen brüllen | |
| Straßenmusiker mit ihren Verstärkern ihre zerkratzten Seelen in die | |
| Unterführung, während auf dem RAW-Gelände ein Bass dröhnt, den man | |
| vermutlich noch viele Kilometer entfernt am Wannsee spürt. | |
| Die Warschauer ist weder Fisch noch Fleisch – auch wenn sie so riecht. Sie | |
| ist ein Ort des Dazwischen. Hier passiert alles gleichzeitig: die erste | |
| große Liebe und der letzte Absturz, der Beginn eines Trips und das Ende der | |
| Selbstachtung. Hier wird gelebt, als gäbe es kein Morgen. Weil das Heute | |
| schon heftig genug ist. | |
| Heftig ist auch die Gentrifizierung. Beim Anblick [1][des kolossalen | |
| Amazon-Towers] und der klobigen [2][East Side Mall] sehnt man sich schnell | |
| wieder nach dem Parkour auf der Brücke und ahnt die Zusammenhänge zwischen | |
| beiden Welten. Im Kleinen aber lassen sich hier wahre Perlen entdecken. | |
| Kleine Schätze von Streetart, ein tighter Rap am U-Bahn-Eingang, | |
| kulinarische Vielfalt und Anwohner, die einem trotz des Wahnsinns ein | |
| Lächeln schenken. | |
| Man kann die Warschauer nicht hassen, man kann sie aber auch nicht lieben. | |
| Man kann ihr nur immer wieder verfallen. Und so taumelt man wohl weiter | |
| über die Brücke, rein in die nächste Flucht aus der Realität, fern jeder | |
| Verpflichtung, wechselt in den Klassenfahrtmodus und denkt sich: W wie | |
| Warschauer, W wie Warum-bin-ich-schon-wieder-hier?! | |
| 21 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bobby Rafiq | |
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