| # taz.de -- Passwort weg, Schlüssel auch: Im Meer des Vergessens | |
| > Unsere Autorin vergisst immer häufiger Absprachen und Gegenstände. Muss | |
| > man sich Sorgen machen, wenn sich der Gedächtnisschwund schon mit 22 | |
| > einstellt? | |
| Bild: Für Vergessliche wäre es gut, aber leider steckt nicht immer ein Schlü… | |
| Ich habe noch nie in meinem Leben eine Deadline vergessen. Das ist absolut | |
| kein Flex, sondern Ausdruck meines Zwangs, alles sofort zu erledigen. Wenn | |
| ich das nicht tue, sitze ich angespannt beim Abendessen mit Freund*innen | |
| und denke nur an meine anstehenden To-dos. Zumindest war das bis vor ein | |
| paar Monaten so. Aber das Problem ist ja: Es gibt immer etwas zu tun. | |
| Eigentlich würde ich also nie Ruhe finden – weshalb mein Gehirn eine neue | |
| Strategie entwickelt hat: Vergessen. | |
| Und diese Strategie nutzt es in letzter Zeit leider etwas zu oft. Zum | |
| Beispiel bei dieser Kolumne: Ich habe es geschafft, nicht nur die erste | |
| Deadline, sondern gleich auch die zweite Verlängerung souverän gegen die | |
| Wand zu fahren. Oder heute Morgen: Mein Kaffee stand eine halbe Stunde auf | |
| dem Herd, während ich „kurz“ frische Luft auf dem Balkon schnappen wollte. | |
| Am Ende hatte ich keinen Kaffee, sondern eine Rauchbombe im Topf – Glück, | |
| dass ich nicht gleich die Feuerwehr rufen musste. | |
| Aber das war nur der Prolog zum Wochenende des Vergessens. Ich hatte die | |
| Woche zuvor wohl etwas zu laut getönt, dass ich dringend eine Auszeit von | |
| meinem Alltag und meinem Handy brauche. Also flüchtete ich direkt aus | |
| Leipzig. Zelt aufbauen, tief durchatmen – noch ein letztes Mal Nachrichten | |
| checken. Dachte ich zumindest, bis ich meinen Handycode so oft falsch | |
| eingegeben habe – weil, man ahnt es schon, ich ihn vergessen hatte –, dass | |
| ich von da an nicht mehr erreichbar war. | |
| Das wäre ja noch nicht so schlimm gewesen, hätte ich nicht zwei Stunden | |
| später daran gedacht, dass an genau diesem Tag mein neuer Mitbewohner | |
| einziehen wollte und ich vergessen hatte, seinen Schlüssel im Briefkasten | |
| zu hinterlassen. Zum Zeitpunkt seines Umzugs – aus einer anderen Stadt – | |
| war natürlich niemand zu Hause und der Wohnungsschlüssel war bei mir, | |
| dachte ich zumindest. Glücklicherweise hatte ich ein paar Tage zuvor schon | |
| vergessen, unseren Vermieter wegen der kaputten Wohnungstür zu informieren. | |
| Die war nämlich kurz vorher aus dem Rahmen gebrochen, sodass mein | |
| Mitbewohner direkt zum Einzug seine handwerklichen Fähigkeiten testen | |
| konnte, indem er die Tür aus dem Rahmen gehoben hat und doch einziehen | |
| konnte. | |
| ## Der Schlüssel in der Wohnung | |
| Zum Zeitpunkt meiner Rückkehr allerdings war dann niemand zu Hause, die Tür | |
| wieder reingehoben und mein Schlüssel … in der Wohnung. Ja, denn den hatte | |
| ich darin vergessen. | |
| Also: los, durch ganz Leipzig hetzen, um eine Freundin zu finden, die die | |
| Nummer meiner Mitbewohnerin hatte – nur um an den Ersatzschlüssel zu | |
| kommen. Vier Stunden später, verschwitzt, außer Atem und mit dem Gefühl, | |
| gerade einen Hindernislauf überlebt zu haben, hielt ich ihn endlich in der | |
| Hand. | |
| Dass das in letzter Zeit so häufig passiert, ist gruselig. Klar, man wird | |
| älter und damit vergesslich, aber ich bin zweiundzwanzig und nicht siebzig, | |
| mein Gehirn ist noch nicht einmal richtig ausgewachsen. Aber alles, was | |
| nicht in meinem Kalender steht, existiert schlicht nicht. Um dem | |
| entgegenzuwirken, schreibe ich Tagebuch. Unter meiner Hochebene stapeln | |
| sich vierzehn Bücher seit meinem zwölften Lebensjahr. Damals schrieb ich | |
| meist vier Seiten pro Tag; Jugend, Gefühle und ungeduldiges Begehren sind | |
| akribisch dokumentiert. | |
| Aber seit 2022, also all die Jahre, die ich in Leipzig wohne, sind alle | |
| Erinnerungen in einem einzigen Tagebuch versammelt. Meine Erinnerungen aus | |
| dieser Zeit existieren fast nur noch in kurzen, hingekritzelten Sätzen. Das | |
| schmerzt, wenn ich daran denke, wie ich jeden Abend über die | |
| Eisenbahnstraße gehe, manchmal fast weinend, weil ich nirgends so viele | |
| schöne Dinge erlebt habe wie hier. Klar, eine Deadline zu verpassen, ist | |
| ärgerlich – aber am Ende ist das nicht halb so schlimm wie die Vorstellung, | |
| die besten Jahre meines Lebens nur noch als blasse, unscharfe Bilder im | |
| Kopf existieren und sie schneller verschwinden zu sehen, als mir lieb ist. | |
| 14 Sep 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Jona Rausch | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| wochentaz | |
| Kolumne Begehren de luxe | |
| Gedächtnis | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Kolumne Begehren de luxe | |
| wochentaz | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Schlechte Jobs: Wehrt euch! | |
| Manchmal reicht es, nach einer Lohnbescheinigung zu fragen. Und in die | |
| Gewerkschaft einzutreten schadet auch nicht. | |
| Nachdenken im Herbst: Gründe für Wut, Gründe für Dankbarkeit | |
| Oft, sagt unsere Kolumnistin, überwältigt sie die Stadt: die Menschen, ihr | |
| Elend, ihre Gemeinheit. Aber auch ihre Güte und Fröhlichkeit überwältigen | |
| sie. | |
| Gemeinsamkeit aushalten: Wo man singt, da lass dich nieder | |
| Was die einen dürfen, dürfen die anderen noch lange nicht. Gemeinsamkeit | |
| ist nicht einfach. Gerade auch da, wo viele zusammen sind: in der Schule. | |
| Wo die Stadt schreit: W wie Warschauer, W wie Wachkoma | |
| Wenn man mal länger nicht in Berlin war, weiß man mit der hibbeligen | |
| Warschauer Straße doch gleich wieder, meint unser Kolumnist, was man hat an | |
| der Stadt. | |
| Merkwürdiger Reiz des Evangelikalen: Don’t stay, be gay | |
| Die Zeiten sind unsicher, da verspricht Religiöses Halt. Dass unsere | |
| Kolumnistin mit dem Kalender einer Freikirche liebäugelt, hat aber andere | |
| Gründe. | |
| Verstärkte Polizeipräsenz: Sicherheit – für wen? | |
| In der Eisenbahnstraße in Leipzig ist ein neuer Polizeiposten eröffnet | |
| worden. Dagegen regt sich Widerstand. | |
| Über den Stress, sich zu entspannen: Im Kopf tausende offene Tabs | |
| Runter vom Dauerstress. Aber wie? Also ab in die Sauna. Und in den Auwald. | |
| Doch Entspannung auf Teufel komm raus ist ganz schön anstrengend. |