| # taz.de -- Nachdenken im Herbst: Gründe für Wut, Gründe für Dankbarkeit | |
| > Oft, sagt unsere Kolumnistin, überwältigt sie die Stadt: die Menschen, | |
| > ihr Elend, ihre Gemeinheit. Aber auch ihre Güte und Fröhlichkeit | |
| > überwältigen sie. | |
| Bild: Unzweifelhaft: Herbst | |
| [1][Es ist Herbst] geworden, und ich denke über Dankbarkeit nach, ein | |
| Trendthema, das mich in den vergangenen Jahren oft wütend gemacht hat. Es | |
| kam mir vor, wie ein Mittel zur Besänftigung der – zu Recht – aufgebrachten | |
| Gesellschaft. Gestern war ich dankbar, ernsthaft, dem Edeka-Kassierer, der | |
| so ungewöhnlich freundlich war. Wie kann er nur so freundlich sein, wo er | |
| doch so einen beschissenen Job hat?, dachte ich. | |
| Und seine Freundlichkeit war echt, sie erreichte mich, wie ein unverdientes | |
| Geschenk, klatschte mir direkt ins Herz. So etwas gibt es, dass einen | |
| überraschend so etwas erreicht, das man gar nicht verdient hat. Ich hatte | |
| es nicht verdient, da ich gar kein einziges gutes Gefühl ihm gegenüber | |
| gehabt hatte, bevor er eines in mir ausgelöst hatte. Ich habe, in dieser | |
| aktuellen Welt, wohl genug Grund, wütend zu sein. Ich will das gar nicht | |
| alles aufzählen, was mir ungerecht vorkommt, es ist ja zum Verzweifeln. Und | |
| dennoch gibt es, neben all diesem Mist, Dinge, für die ich anscheinend | |
| dankbar sein kann. | |
| Ich fange noch einmal an: Es ist [2][Herbst] geworden, draußen ist es | |
| windig, sonnig, Wolken ziehen rasch über den Himmel, im Park duftet es nach | |
| feuchtem Gras, nach Kiffen. Und immer noch gibt es riesige, orange Kürbisse | |
| auf dem Markt und immer noch keckernde Elstern im Hof. All das ist noch da, | |
| in seiner ganzen, herzzerreißenden Schönheit und Vertrautheit. Neben | |
| Aggressivität, Rücksichtslosigkeit und Verbitterung gibt es auch noch | |
| Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Liebe. In der Großstadt | |
| wohnt alles nebeneinander. | |
| Überrascht mich das? Immer wieder. Bin ich bereit, auszugehen? Bin ich auf | |
| den Tag, auf die Stadt vorbereitet? Nie. | |
| ## Trauer über das Ende und Freude über die Ankunft | |
| Oft überwältigt mich die Stadt. Menschen, ihr Elend, ihre Verzweiflung, | |
| ihre Gemeinheit und ihre Gewalttätigkeit, aber auch ihre Güte und | |
| Fröhlichkeit überwältigen mich. Ich weiß nie vorher, was davon auf mich | |
| zukommt. Deshalb ist die Großstadt für manche zu viel, und sie sagen, hier | |
| könnte ich nicht leben. | |
| Wenn ich meine Wohnung verlasse und dem Bahnhof Holstenstraße zustrebe, | |
| dann sehe ich viel von dem, was mich überfordert. Samstags steht hier ein | |
| Arztmobil, das obdachlose Menschen versorgt. Wie sie das nur können, denke | |
| ich jedes Mal, wie ich sie dafür gern habe, dass sie es tun. Wie dankbar | |
| ich ihnen bin. Wie mich diese Dankbarkeit aus der Wut herauslöst, für den | |
| Moment. | |
| Ist diese Dankbarkeit nun also hilfreich oder doch nicht eher ein | |
| psychosoziales Konstrukt, das die Wut zurückhält, den berechtigten Zorn | |
| über die Verhältnisse abmildert? Sei den Menschen dankbar, die helfen, und | |
| wütend über die Verhältnisse, die das nötig machen? Geht das? | |
| Wenn man Ende August sagt, ich glaube, jetzt wird es Herbst, dann werden | |
| die Leute – viele – sehr wütend, wirklich! Es ist ein Phänomen. Obwohl es | |
| auf der Hand liegt und sich nicht aufhalten lässt, die ersten Blätter | |
| liegen ja schon auf dem Rasen, werden diese Leute ungehalten. | |
| Ich freue mich auf den Herbst, weil ich den Herbst schön finde, genau wie | |
| auch den Sommer. Und das ist eben das, dass ich beides gleichzeitig und | |
| sich überlappend fühlen kann. Trauer über das Ende des Sommers und Freude | |
| über die Ankunft des Herbstes, Wut und Dankbarkeit. Das ist komplex, | |
| manchmal widersprüchlich und eben auch überfordernd. Es wird jetzt kalt und | |
| dunkel draußen, aber auch gemütlich und warm in den Wohnungen und Cafés. | |
| Für mich, aber nicht für die, die draußen bleiben. | |
| 8 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
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