Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Barrierefreiheit in Griechenland: Unsichtbare Barrieren
> 2004 investierte Athen Milliarden in die Olympischen Spiele und
> Barrierefreiheit. Doch noch immer ist die Stadt ein Hindernisparcours.
Bild: Sein Lieblingstheater „Alkmini“ in Athen ist für Nikos Kapiris unerr…
Athen taz | Michael Dittrich flucht leise. Von den meisten wird er Micha
genannt. Die Bürgersteige sind eng, zugeparkt mit Autos und Scootern, die
Stufen zu hoch und Rampen nirgendwo. Gleich hat er ein Interview im Athener
Nobelviertel Kolonaki, und er will pünktlich sein. Dittrich dreht einen
Film – die Olympischen Sommerspiele 2004 stehen bevor, kurz darauf folgen
die Paralympics. „Zurück zur Geburtsstätte von Olympia“, lautet der stolze
Slogan der Gastgeber, 108 Jahre nach den ersten Spielen der Neuzeit.
Für den gebürtigen Dortmunder ist der Dreh in Athen eine Qual. Dabei gilt
er als einer, den so schnell nichts umhaut. Ohne seinen Kameramann, der ihn
über Treppen hievt und durch enge Straßen schiebt, wäre er in dieser Stadt
verloren.
Seit seinem 36. Lebensjahr leidet er an einer chronischen Entzündung des
Zentralnervensystems. Sie führt zu starken Lähmungen. Der Befund: Multiple
Sklerose. Dittrich braucht einen Rollstuhl. Er gibt nicht auf, produziert
weiter Filme und Fernsehfeatures. Für Aufsehen sorgt 2015 sein
autobiografischer Film „Reine Nervensache – Leben mit einer unheilbaren
Krankheit“.
Bis zu seinem Tod im Jahr 2022 arbeitet er vom Krankenbett aus. Was ihn
damals ausbremste, erschwert auch heute noch das Leben vieler
Rollstuhlfahrer in Athen.
## Die leere öffentliche Hand
Zeitsprung in die Gegenwart: Es ist ein heißer Tag Ende August im
südwestlichen Athener Vorort Renti. Eine Vielzahl von Gewerbebetrieben,
große Lagerhallen, der zentrale Athener Gemüsemarkt: Renti gilt nicht als
besonders schöner Wohnort, doch es gibt auch Flecken mit etwas Grün.
Nikos Kapiris, 45, sportlich, mit Pilotenbrille, rollt zu seinem schwarzen
SUV. Seine Wohnung liegt im Erdgeschoss, der Hintereingang führt direkt zum
Parkplatz. Kapiris braucht daher keine Hilfe, wenn er die Wohnung verlässt
oder dorthin zurückkehrt. Das sei ihm sehr wichtig. „Ich will zu einhundert
Prozent unabhängig sein, ohne irgendeine Hilfe.“
Kapiris steigt ein, klappt seinen Rollstuhl zusammen, verstaut ihn hinter
dem Fahrersitz. Alles geht ruck, zuck. Damit alles reibungslos klappt, ist
Kapiris’ Rollstuhl handgefertigt, maßgeschneidert, ultraleicht – und teuer.
Rund 5.000 Euro kostet so ein Modell, sagt er. [1][Die öffentliche Hand]
übernimmt davon nur 2.000 Euro – und das auch nur alle fünf Jahre.
Immerhin: Bis vor Kurzem waren es lediglich 1.050 Euro, erzählt Kapiris.
„Für die Erhöhung haben wir gekämpft“, fügt er hinzu.
Nikos Kapiris gibt Gas. Das tut er, indem er mit der rechten Hand einen
extra eingebauten Hebel in seinem Wagen betätigt. Die Fahrt führt an einer
Bushaltestelle vorbei, Kapiris biegt sportlich in eine Kurve ein. „Ohne
Auto ist es für Rollstuhlfahrer wie mich sehr schwierig, in Athen unterwegs
zu sein.“ Die Busse seien keine Alternative.
Kapiris betont: Nicht die Busse seien das Problem, sondern der Weg zur
Haltestelle. Die Bürgersteige hätten keine Rampen, moniert er. Notgedrungen
müsste er auf die Straße ausweichen. Das berge wegen der Autofahrer mit
ihrem oftmals rüden Fahrstil große Gefahren. Für ihn heißt das: lieber mit
dem Auto fahren – schon aus Sicherheitsgründen.
Fünf Fahrminuten später ist der Supermarkt erreicht. Hier erledigt Nikos
Kapiris stets seine Einkäufe. Kapiris fährt auf einen für Behinderte
markierten extrabreiten Parkplatz. Kapiris steigt bequem aus. Der
Supermarkt hat eine automatische Schiebetür. Alles ist flach. Keine
Barriere, kein Hindernis, ein ausreichend breiter Fahrstuhl führt in die
erste Etage. Freie Bahn! Barrierefreiheit pur. „Das ist der gute Teil der
Tour“, dämpft Kapiris die Erwartungen. Seine Augen funkeln, als er das
sagt.
Kapiris’ Leben änderte sich vor gut zehn Jahren in Sekundenbruchteilen. Der
gelernte Tänzer und Akrobat, ein Profi, will am späten Abend des 15. Mai
2015 in seiner Privatschule einer Besucherin aus England noch schnell einen
Luftakrobatiktrick für ein Video zeigen. Der Sicherungsknoten löst sich.
Kapiris stürzt aus sieben Metern Höhe auf den Boden. Der Aufprall ist zu
heftig. Kapiris stürzt mit dem Kopf voran und zieht im letzten Moment den
Körper in die Embryonalstellung, wie er später erzählt. Zwei Wirbel
brechen.
Von einer Sekunde auf die andere ist er querschnittsgelähmt – unumkehrbar.
Für Nikos Kapiris beginnt mit 35 ein neues Leben. Das intensive
Körpertraining setzt er fort. Er hält sich viermal pro Woche mit
Kallisthenik fit, ein Training mit dem eigenen Körpergewicht mit
Liegestützen, Klimmzügen und Kniebeugen. Der Begriff leitet sich vom
griechischen „kalos“ (schön) und „sthenos“(stärke) ab und bedeutet so…
wie „schöne Kraft“.
Die Tour mit Nikos Kapiris geht weiter. Er fährt zu seinem alten Wohnort,
dem südlichen Athener Stadtteil Petralona. In diesem dicht besiedelten
Viertel der griechischen Hauptstadt ist er aufgewachsen. Doch vor drei
Jahren fasste Kapiris den Entschluss, gemeinsam mit seinen Eltern in die
Wohnung nach Renti umzuziehen. Für ihn war Petralona ein Ort voller
Barrieren. Er dachte sich: „Bloß weg hier!“
Parkplatzsuche in Petralona. „Da geht es. Schön im Schatten. Das passt doch
wunderbar“, freut er sich. Er greift sich den Rollstuhl hinter dem
Fahrersitz, macht die Tür auf und rasch ist er in seinem Rollstuhl auf der
Straße. „Wir wohnten im sechsten Stock eines Mehrfamilienhauses. Bei
Stromausfällen fiel der Aufzug aus. Ich konnte die Wohnung nicht mehr
verlassen“, erklärt Kapiris. Bei Bränden oder Erdbeben, in Griechenland
keine Seltenheit, hätte das hochgefährlich werden können.
Das ist nicht alles. Kapiris befindet sich vor dem staatlichen
Gesundheitszentrum in seinem alten Viertel. Graffiti prangt auf den Wänden.
Kapiris zeigt auf die Rampe, die zum Eingang der Klinik führt. „Alles
falsch!“, ätzt Kapiris. Die Rampe verlaufe in Kurven, sie sei viel zu steil
gebaut. „Überschätze ich meine Kräfte, kann es sein, dass ich auf der Rampe
vom Rollstuhl falle.“
An dieser Stelle der Tour mit Kapiris wird erstmals deutlich: Ausgerechnet
öffentliche Einrichtungen wie Gesundheitszentren sind nicht barrierefrei.
Zwar gibt es Rampen, doch oft sind sie unbrauchbar.
Eine unsägliche Barriereunfreiheit herrsche ebenso in den großen
Krankenhäusern in Athen, wie Kapiris aus eigener Erfahrung wisse. Er wird
konkret: Selbst in der Universitätsklinik Evangelismos in der Athener
Innenstadt, dem größten Krankenhaus in ganz Südosteuropa, gibt es keinen
Parkplatz für Autos von Behinderten, kritisiert Kapiris.
Dabei seien gleich ein halbes Dutzend Parkplätze für die Leitung der Klinik
reserviert, wie er moniert. Er zeigt auf einen Platz: „Ich wollte dort
parken. Mich hat das Sicherheitspersonal verscheucht. Ein Ordnungshüter
sagte mir: Geh woanders parken!'“ Kapiris ist enttäuscht. Er könne sich
nicht ständig mit irgendwelchen Sicherheitsleuten streiten. Also fährt er
seither erst gar nicht mehr hin.
Die Poststelle in Petralona, seinem alten Wohnort, sei ebenso für ihn
unzugänglich, ergänzt Kapiris. Solange er in dem Viertel lebte, blieb er
draußen und ließ sich von einem Postbeamten seine Sendungen abnehmen. Es
geht weiter zu seiner alten Schule, ebenfalls in Petralona. Er könne zwar
hinein – dank der vorhandenen Rampe. Doch dann ist Schluss! Zu den
Klassenzimmern in den oberen Etagen führe kein Fahrstuhl, erklärt Kapiris.
Bei Parlaments-, Regional- und Kommunalwahlen, wenn seine alte Schule als
Wahllokal dient, muss ein Wahlhelfer die Urne zu ihm ins Erdgeschoss
bringen. Nur so kann Kapiris sein Wahlrecht wahrnehmen.
Kapiris sagt, er sei „verrückt nach Theater“. Theaterbegeistert sei er
schon gewesen, bevor der Sturz aus sieben Meter Höhe sein Leben radikal
veränderte. [2][Er nähert sich mit seinem Rollstuhl dem Theater] Alkmini.
Klassiker der US-amerikanischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin
Charlotte Perkins Gilman, moderne Stücke von griechischen Künstlern: Die
Theateraufführungen im Alkimini bieten echte Qualität. Der Haken daran ist
nur, dass gehbehinderte Besucher wie Nikos Kapiris draußen bleiben müssen.
Der simple Grund dafür sind die vier Stufen der Metalltreppe, die zum
Eingang des Theaters führen. Wie bitte soll ein Rollstuhlfahrer diese Hürde
bloß überwinden? Eine Rampe? Fehlanzeige!
Die Theaterleitung hat jedenfalls dafür gesorgt, dass zwei vor besagter
Treppe aufgestellte bunte Fahrbahnteiler aus Kunststoff zweckentfremdet das
ungewünschte Parken von Autos vor dem Eingang des Theaters verhindern.
Fahrbahnteiler statt Rampen! Das kurzerhand auf eigene Faust verhängte
Parkverbot für Autos ist offenbar wichtiger als die Barrierefreiheit für
Behinderte.
Es schmerze ihn, dass er nicht das sehen könne, was er wolle, so Kapiris.
„Ich suche nicht nach Theateraufführungen, die ich gerne besuchen würde,
sondern nach geeigneten Theatern, die barrierefrei sind.“
Im Großraum Athen seien dies gar nicht so viele, so Kapiris. In der Athener
Innenstadt gebe es zwar barrierefreie Theater. Barrierefreiheit herrsche
allerdings nicht in der ganzen Innenstadt. Er müsse sein Auto zunächst in
teuren privaten Parkhäusern parken, so Kapiris. Denn in der ganzen
Innenstadt gebe es nur etwa zwei Dutzend Behindertenparkplätze. Ein Tropfen
auf den heißen Stein.
Sobald er geparkt hat, beginnt für ihn ein Gang nach Canossa. Bis zum
Theater stößt Kapiris wieder auf das gleiche unsägliche Quartett der
Barrieren wie überall in Athen: enge und zugeparkte Bürgersteige, hohe
Stufen, fehlende Rampen. Er habe keine andere Wahl, erklärt Kapiris.
„Ich meide das Zentrum von Athen.“ Es belaste ihn mental, den Weg vorab bis
ins letzte Detail planen zu müssen. Die Ausgehviertel zu Füßen der
Akropolis mit ihren vielen Cafés, Bars, Restaurants, Tavernen, Kinos,
Theatern und Museen sind für Kapiris faktisch ein riesiges Sperrgebiet,
eine weitläufige No-go-Zone. Traurig mache ihn das, sagt er. Früher genoss
er die Abende in Athen, ob allein oder mit Freunden. Das ist vorbei.
Dimitrios Sifakis ist oft unterwegs in die Athener Innenstadt. Sein Ziel:
die Arbeit. Er ist blind. Den ersten Teil seiner Strecke legt er mit dem
Blindenstock zurück: von seiner Wohnung im südlichen Athener Vorort
Kallithea bis zur nahegelegenen Elektrobahnstation Tavros. Schnell wird
klar: der 48-Jährige kennt jeden Zentimeter seines Weges. Mit all seinen
Tücken.
„Da, gucken Sie!“ Die Spitze des Stocks bleibt an der ersten Stufe der
Treppe hängen – die Kante ist abgeschiefert. „Passe ich nicht auf, rutsche
ich aus“, sagt Sifakis. Er geht weiter. Für Blinde wie ihn ist eine
Leitspur unerlässlich. Das ist ein taktiles Bodensystem mit Rillen- und
Noppenstrukturen. Sie hilft blinden und sehbehinderten Menschen, sich im
öffentlichen Raum selbstständig zu orientieren und Hindernissen
auszuweichen – dank ihrem Blindenstock.
Das geht so: Leitstreifen mit Rippen dienen der Führung, Noppenfelder
signalisieren Gefahrenstellen wie Kreuzungen oder Treppen. Hinzu kommen
Aufmerksamkeitsfelder, die den Weg zu Eingängen oder Haltestellen
aufzeigen.
Sifakis befindet sich nun in der Leitspur für Blinde der Elektrobahnstation
Tavros. Routiniert schwenkt er seinen Blindenstock, der stets den Boden
berührt, in einem Radius von 180 Grad. Von rechts nach links, von links
nach rechts. Abermals von rechts nach links. Und so weiter. So will Sifakis
Hindernisse aller Art ausfindig machen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Er
fährt die Rolltreppe hinunter zur Plattform, die Bahn kommt sofort. Bis
jetzt läuft alles prima.
## Die Leitspur ist vollgeparkt
Sobald er die Station Omonia am Platz der Eintracht mitten in Athen
verlässt, warten die Fallen auf ihn. Wo früher ein billiges Hotel stand,
steht jetzt ein großes Einkaufszentrum mit Kosmetikartikeln und
Accessoires. Laster stehen am Seiteneingang zum Entladen der neuen Ware –
direkt auf der Leitspur für Blinde.
Proteste und Interventionen seitens der Blinden fruchten nichts, sagt
Sifakis. Das liege, wie er erklärt, nicht zuletzt an der
Kompetenzverteilung zwischen der Stadtverwaltung Athen und der
Regionalverwaltung Attika im Großraum Athen.
Die Hauptstraßen und deren Bürgersteige in der Athener Innenstadt seien
Sache der Regionalverwaltung, für die Nebenstraßen samt den Bürgersteigen
sei indes die Stadt Athen zuständig, so Sifakis. „Bei Kreuzungen ist
unklar, wer für sie zuständig ist.“ Mache man auf Probleme aufmerksam,
werfe die eine Behörde der Stadt der anderen Behörde der Regionalverwaltung
den Ball zu – und umgekehrt. Das Ergebnis: Alles bleibt beim Alten.
Dimitrios Sifakis wuchs in einem Dorf auf Kreta auf. Er kam schon früh nach
Kallithea, um die dortige Förderschule für Sehbehinderte zu besuchen. So
wurde der Kreter zum Athener. Eine richtige Entscheidung, wie er sagt.
Fünfzehn Jahre lang arbeitete er als Telefonist in einer Athener Klinik, er
lernte Gitarre und spielte in Tavernen. Die Lebensqualität sei in der
Großstadt zwar schlechter, die Dinge teurer, die Gefahren seien größer,
findet Sifakis. Dennoch seien „das Leben und die Chancen besser als im
Dorf“.
Die Tour mit dem blinden Sifakis durch die Athener Innenstadt geht weiter.
An vielen Stellen sind die Leitspuren für Blinde auf den Bürgersteigen von
rechtswidrig abgestellten Motorrädern, Scootern sowie fliegenden
Kleinhändlern mit ihren Ständen blockiert. Hinzu komme eine neue Plage in
Athen, wie Sifakis betont: die E-Roller. Alles veritable Hindernisse. „Der
Bürgersteig ist für die Fußgänger – ob blind oder nicht. Nicht für Autos,
Scooter oder E-Roller!“, ätzt Sifakis.
„Die Stadtpolizei tut nichts“, klagt er. Zudem zeigt sich: Leitspuren für
Blinde sind vielfach abgenutzt, hören plötzlich auf oder vereinen gleich
beide Mängel. In einer Nebenstraße nahe dem Omoniaplatz endet die Leitspur
für Blinde auf dem Bürgersteig abrupt in offenen Baulöchern. Passt er an
dieser Stelle nicht auf, riskiert er, ins Loch zu fallen, ärgert sich
Sifakis.
Schon steht ihm die nächste Herausforderung bevor. Sifakis will eine stark
befahrene Straße am Omoniaplatz, Griechenlands zentralstem Platz,
überqueren. Ohne Blindenampel. Ein Härtetest für seinen Hörsinn. Noch
komplizierter wird es, als just in diesem Moment ein Taxi vor der Ampel
stoppt. Der Taxifahrer steigt aus, öffnet den Kofferraum, den Motor lässt
er weiterlaufen.
## Kaum Blindenampel vorhanden
Die Ampel schaltet für die Autos auf Grün. Das Taxi steht aber weiter an
gleicher Stelle. Blinde hören nur den Motor. Sie könnten fälschlicherweise
glauben, dass die Ampel für die Fußgänger auf Grün geschaltet ist. Sifakis
geht auf Nummer sicher. „Ich höre genau hin, ob heranfahrende Autos
wirklich bremsen, um an der Ampel zu halten.“ Erst dann überquert er die
Straße.
Stichwort Blindenampeln: Athen hat fast keine. Am Verfassungsplatz vor dem
Athener Parlament steht so eine. Schaltet sie auf Grün, zeigen akustische
Signale den Wechsel an. Sifakis sagt, früher seien im Athener Zentrum zwar
„fast an jeder Ecke“ Blindenampeln in Betrieb gewesen. Sie seien aber nicht
gewartet worden – und gingen nach und nach kaputt. In einzelnen
Wohnvierteln hätten sie wiederum aufgebrachte Bewohner zerstört. Sie
wollten nicht ständig die Signale der Ampel hören.
Dimitrios Sifakis biegt in die Athinasstraße ein. Schnell führt sie zum
Monastirakiplatz im Touristenviertel Plaka. Die Straße ist voller Urlauber
aus aller Welt. Sifakis’ Weg führt am zentralen Athener Fleisch- und
Fischmarkt vorbei. E-Roller rasen haarscharf an ihm vorbei.
Inzwischen angekommen in der Ermoustraße, einer anderthalb Kilometer langen
Einkaufsmeile, sieht eine aufgetakelte Frau mittleren Alters Sifakis mit
seinem Blindenstock, bevor sie in einem Kaufhaus verschwindet. Gut hörbar
sagt sie auf Griechisch: „Όχ, ο καημένος“ („Ach, der Arme“).…
er nicht zum ersten Mal, sagt Sifakis.
Zeit für einen leckeren Frappé. Ein schönes Café in einer schattigen
Nebenstraße der Ermou-Einkaufsmeile lädt dazu ein. Dimitrios Sifakis nimmt
einen Schluck und lässt seinem Frust über die Behörden und die real
existierende Barriereunfreiheit freien Lauf. In Griechenland gebe es
durchaus die nötigen Institutionen und Gesetze, aber keine Kontrolle.
Sifakis nennt ein Beispiel. „Ein Platz soll behindertengerecht neugestaltet
werden. Wird er aber nicht. Vielleicht wird nur die halbe Arbeit getan.
Dann wird alles kaputt gemacht und von vorne angefangen, anstatt von Anfang
an alles richtig zu bauen.“
Im Jahr 1997 wurden die Olympischen Sommerspiele 2004 an Athen vergeben,
erinnert sich Sifakis. Mit Blick auf Olympia 2004 habe Hellas sehr viel
Geld für die Athener Infrastruktur ausgegeben. Seither seien jedoch
zweieinhalb Jahrzehnte verstrichen, merkt Sifakis an. Halte man die
Infrastruktur nicht instand, dann verrotte sie. Heute habe Athen zudem mehr
Einwohner als damals, die Stadt habe sich ausgedehnt.
Eine neue, barrierefreie Infrastruktur sei nötig. Der Athener Flughafen sei
zwar völlig barrierefrei, so Sifakis. Doch: „Das ist die Vitrine, das
Schaufenster.“ Entferne man sich vom Airport und erreiche das Betonmeer
Athen, dann stoße man rasch auf viele Barrieren. Es gebe keine einwandfreie
Barrierefreiheit, um sich in Athen fortzubewegen, unterstreicht Sifakis
unverblümt.
## „Oasen“ der Barrierefreiheit
Schätzungen zufolge machen Behinderte etwa 10 Prozent der hiesigen
Bevölkerung in Griechenland aus. Das seien rund 1 Million Menschen, teilt
der Präsident des Griechischen Behindertenverbandes ESAMEA, Jannis
Vardakastanis, auf Anfrage der taz mit. Der Umstand, wonach die
Barrierefreiheit in Athen eingeschränkt ist, steht ebenso für Vardakastanis
außer Frage.
In Athen gebe es zwar „Oasen“ der Barrierefreiheit, so Vardakastanis zur
taz. Einige öffentliche Verkehrsmittel, archäologische Stätten und die
meisten Museen seien barrierefrei, aber nur wenige Restaurants und Cafés.
Vardakastanis bestätigt: „Die Gehwege sind kaputt, die Rampen voll mit
geparkten Autos, Busse und Straßenbahnen nicht immer frei zugänglich,
akustische Signale für Blinde fehlen.“
Doch damit nicht genug: „Hinzu kommt oft ein mangelndes Einfühlungsvermögen
seitens der nichtbehinderten Mitbürger, Politiker inbegriffen, gegenüber
Behinderten“, fügt Vardakastanis hinzu.
Nikos Kapiris, Dimitrios Sifakis und Jannis Vardakastanis sind sich einig:
Eine „Kette“ der Barrierefreiheit im Großraum Athen fehle, ein Konzept, das
in seiner Gesamtheit umgesetzt werde und es so behinderten Menschen
ermögliche, sich ohne Mühe von Punkt A nach B und von dort nach C zu
bewegen.
Gäbe es eine möglichst umfassende Barrierefreiheit, würde dies doch auch
der übrigen Bevölkerung wie Frauen mit Kinderwagen oder Senioren nützen,
hebt Kapiris hervor. „Was gut für uns (Behinderte) ist, ist gut für alle“,
sagt er mit fester Stimme.
Sifakis legt nach. Sein so trauriges wie niederschmetterndes Urteil lautet:
Athen sei in Sachen Barrierefreiheit „sehr weit“ hinter dem ob der großen
nationalen Vision Olympia erreichten Stand von 2004 zurückgefallen, anstatt
seither Fortschritte zu machen.
Wie sagte die mittlerweile verstorbene Irini Papas, eine begnadete
Schauspielerin, Griechenlands wohl großartigste Tragödiendarstellerin, über
ihre Heimat: „Hellas hinkt, täuscht aber vor, dass es tanzt.“ Micha
Dittrichs leise Flüche würden wohl auch heute in Athen zu hören sein.
19 Sep 2025
## LINKS
[1] /Demokratieverfall-in-Griechenland/!6102819
[2] /Barrierefreiheit/!5160223
## AUTOREN
Ferry Batzoglou
## TAGS
Barrierefreiheit
Athen
Kritische Infrastruktur
Griechenland
Inklusion
Gesellschaftliche Teilhabe
Leben mit Behinderung
Menschen mit Behinderung
Behinderung
Rollstuhl
Griechenland
Leben mit Behinderung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Demokratieverfall in Griechenland: Mitsotakis höhlt systematisch den Rechtssta…
Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis hat viel Dreck am
Stecken. Statt die Demokratie zu schützen, höhlt er sie systematisch aus.
 Menschen mit Behinderung: „Als Opfer und Last gesehen“
Auch 15 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention haben in Deutschland wenig
verbessert. Die EU-Abgeordnete Langensiepen fordert mehr Beteiligung.
Barrierefreiheit: Hürdenlauf im Rollstuhl
Wie behindertengerecht ist Kiel? In speziellen Seminaren probieren
Verwaltungsmitarbeiter aus, wie schwierig für Blinde oder Rollstuhlfahrer
die Fortbewegung im öffentlichen Raum sein kann.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.