| # taz.de -- Barrierefreiheit in Griechenland: Unsichtbare Barrieren | |
| > 2004 investierte Athen Milliarden in die Olympischen Spiele und | |
| > Barrierefreiheit. Doch noch immer ist die Stadt ein Hindernisparcours. | |
| Bild: Sein Lieblingstheater „Alkmini“ in Athen ist für Nikos Kapiris unerr… | |
| Athen taz | Michael Dittrich flucht leise. Von den meisten wird er Micha | |
| genannt. Die Bürgersteige sind eng, zugeparkt mit Autos und Scootern, die | |
| Stufen zu hoch und Rampen nirgendwo. Gleich hat er ein Interview im Athener | |
| Nobelviertel Kolonaki, und er will pünktlich sein. Dittrich dreht einen | |
| Film – die Olympischen Sommerspiele 2004 stehen bevor, kurz darauf folgen | |
| die Paralympics. „Zurück zur Geburtsstätte von Olympia“, lautet der stolze | |
| Slogan der Gastgeber, 108 Jahre nach den ersten Spielen der Neuzeit. | |
| Für den gebürtigen Dortmunder ist der Dreh in Athen eine Qual. Dabei gilt | |
| er als einer, den so schnell nichts umhaut. Ohne seinen Kameramann, der ihn | |
| über Treppen hievt und durch enge Straßen schiebt, wäre er in dieser Stadt | |
| verloren. | |
| Seit seinem 36. Lebensjahr leidet er an einer chronischen Entzündung des | |
| Zentralnervensystems. Sie führt zu starken Lähmungen. Der Befund: Multiple | |
| Sklerose. Dittrich braucht einen Rollstuhl. Er gibt nicht auf, produziert | |
| weiter Filme und Fernsehfeatures. Für Aufsehen sorgt 2015 sein | |
| autobiografischer Film „Reine Nervensache – Leben mit einer unheilbaren | |
| Krankheit“. | |
| Bis zu seinem Tod im Jahr 2022 arbeitet er vom Krankenbett aus. Was ihn | |
| damals ausbremste, erschwert auch heute noch das Leben vieler | |
| Rollstuhlfahrer in Athen. | |
| ## Die leere öffentliche Hand | |
| Zeitsprung in die Gegenwart: Es ist ein heißer Tag Ende August im | |
| südwestlichen Athener Vorort Renti. Eine Vielzahl von Gewerbebetrieben, | |
| große Lagerhallen, der zentrale Athener Gemüsemarkt: Renti gilt nicht als | |
| besonders schöner Wohnort, doch es gibt auch Flecken mit etwas Grün. | |
| Nikos Kapiris, 45, sportlich, mit Pilotenbrille, rollt zu seinem schwarzen | |
| SUV. Seine Wohnung liegt im Erdgeschoss, der Hintereingang führt direkt zum | |
| Parkplatz. Kapiris braucht daher keine Hilfe, wenn er die Wohnung verlässt | |
| oder dorthin zurückkehrt. Das sei ihm sehr wichtig. „Ich will zu einhundert | |
| Prozent unabhängig sein, ohne irgendeine Hilfe.“ | |
| Kapiris steigt ein, klappt seinen Rollstuhl zusammen, verstaut ihn hinter | |
| dem Fahrersitz. Alles geht ruck, zuck. Damit alles reibungslos klappt, ist | |
| Kapiris’ Rollstuhl handgefertigt, maßgeschneidert, ultraleicht – und teuer. | |
| Rund 5.000 Euro kostet so ein Modell, sagt er. [1][Die öffentliche Hand] | |
| übernimmt davon nur 2.000 Euro – und das auch nur alle fünf Jahre. | |
| Immerhin: Bis vor Kurzem waren es lediglich 1.050 Euro, erzählt Kapiris. | |
| „Für die Erhöhung haben wir gekämpft“, fügt er hinzu. | |
| Nikos Kapiris gibt Gas. Das tut er, indem er mit der rechten Hand einen | |
| extra eingebauten Hebel in seinem Wagen betätigt. Die Fahrt führt an einer | |
| Bushaltestelle vorbei, Kapiris biegt sportlich in eine Kurve ein. „Ohne | |
| Auto ist es für Rollstuhlfahrer wie mich sehr schwierig, in Athen unterwegs | |
| zu sein.“ Die Busse seien keine Alternative. | |
| Kapiris betont: Nicht die Busse seien das Problem, sondern der Weg zur | |
| Haltestelle. Die Bürgersteige hätten keine Rampen, moniert er. Notgedrungen | |
| müsste er auf die Straße ausweichen. Das berge wegen der Autofahrer mit | |
| ihrem oftmals rüden Fahrstil große Gefahren. Für ihn heißt das: lieber mit | |
| dem Auto fahren – schon aus Sicherheitsgründen. | |
| Fünf Fahrminuten später ist der Supermarkt erreicht. Hier erledigt Nikos | |
| Kapiris stets seine Einkäufe. Kapiris fährt auf einen für Behinderte | |
| markierten extrabreiten Parkplatz. Kapiris steigt bequem aus. Der | |
| Supermarkt hat eine automatische Schiebetür. Alles ist flach. Keine | |
| Barriere, kein Hindernis, ein ausreichend breiter Fahrstuhl führt in die | |
| erste Etage. Freie Bahn! Barrierefreiheit pur. „Das ist der gute Teil der | |
| Tour“, dämpft Kapiris die Erwartungen. Seine Augen funkeln, als er das | |
| sagt. | |
| Kapiris’ Leben änderte sich vor gut zehn Jahren in Sekundenbruchteilen. Der | |
| gelernte Tänzer und Akrobat, ein Profi, will am späten Abend des 15. Mai | |
| 2015 in seiner Privatschule einer Besucherin aus England noch schnell einen | |
| Luftakrobatiktrick für ein Video zeigen. Der Sicherungsknoten löst sich. | |
| Kapiris stürzt aus sieben Metern Höhe auf den Boden. Der Aufprall ist zu | |
| heftig. Kapiris stürzt mit dem Kopf voran und zieht im letzten Moment den | |
| Körper in die Embryonalstellung, wie er später erzählt. Zwei Wirbel | |
| brechen. | |
| Von einer Sekunde auf die andere ist er querschnittsgelähmt – unumkehrbar. | |
| Für Nikos Kapiris beginnt mit 35 ein neues Leben. Das intensive | |
| Körpertraining setzt er fort. Er hält sich viermal pro Woche mit | |
| Kallisthenik fit, ein Training mit dem eigenen Körpergewicht mit | |
| Liegestützen, Klimmzügen und Kniebeugen. Der Begriff leitet sich vom | |
| griechischen „kalos“ (schön) und „sthenos“(stärke) ab und bedeutet so… | |
| wie „schöne Kraft“. | |
| Die Tour mit Nikos Kapiris geht weiter. Er fährt zu seinem alten Wohnort, | |
| dem südlichen Athener Stadtteil Petralona. In diesem dicht besiedelten | |
| Viertel der griechischen Hauptstadt ist er aufgewachsen. Doch vor drei | |
| Jahren fasste Kapiris den Entschluss, gemeinsam mit seinen Eltern in die | |
| Wohnung nach Renti umzuziehen. Für ihn war Petralona ein Ort voller | |
| Barrieren. Er dachte sich: „Bloß weg hier!“ | |
| Parkplatzsuche in Petralona. „Da geht es. Schön im Schatten. Das passt doch | |
| wunderbar“, freut er sich. Er greift sich den Rollstuhl hinter dem | |
| Fahrersitz, macht die Tür auf und rasch ist er in seinem Rollstuhl auf der | |
| Straße. „Wir wohnten im sechsten Stock eines Mehrfamilienhauses. Bei | |
| Stromausfällen fiel der Aufzug aus. Ich konnte die Wohnung nicht mehr | |
| verlassen“, erklärt Kapiris. Bei Bränden oder Erdbeben, in Griechenland | |
| keine Seltenheit, hätte das hochgefährlich werden können. | |
| Das ist nicht alles. Kapiris befindet sich vor dem staatlichen | |
| Gesundheitszentrum in seinem alten Viertel. Graffiti prangt auf den Wänden. | |
| Kapiris zeigt auf die Rampe, die zum Eingang der Klinik führt. „Alles | |
| falsch!“, ätzt Kapiris. Die Rampe verlaufe in Kurven, sie sei viel zu steil | |
| gebaut. „Überschätze ich meine Kräfte, kann es sein, dass ich auf der Rampe | |
| vom Rollstuhl falle.“ | |
| An dieser Stelle der Tour mit Kapiris wird erstmals deutlich: Ausgerechnet | |
| öffentliche Einrichtungen wie Gesundheitszentren sind nicht barrierefrei. | |
| Zwar gibt es Rampen, doch oft sind sie unbrauchbar. | |
| Eine unsägliche Barriereunfreiheit herrsche ebenso in den großen | |
| Krankenhäusern in Athen, wie Kapiris aus eigener Erfahrung wisse. Er wird | |
| konkret: Selbst in der Universitätsklinik Evangelismos in der Athener | |
| Innenstadt, dem größten Krankenhaus in ganz Südosteuropa, gibt es keinen | |
| Parkplatz für Autos von Behinderten, kritisiert Kapiris. | |
| Dabei seien gleich ein halbes Dutzend Parkplätze für die Leitung der Klinik | |
| reserviert, wie er moniert. Er zeigt auf einen Platz: „Ich wollte dort | |
| parken. Mich hat das Sicherheitspersonal verscheucht. Ein Ordnungshüter | |
| sagte mir: Geh woanders parken!'“ Kapiris ist enttäuscht. Er könne sich | |
| nicht ständig mit irgendwelchen Sicherheitsleuten streiten. Also fährt er | |
| seither erst gar nicht mehr hin. | |
| Die Poststelle in Petralona, seinem alten Wohnort, sei ebenso für ihn | |
| unzugänglich, ergänzt Kapiris. Solange er in dem Viertel lebte, blieb er | |
| draußen und ließ sich von einem Postbeamten seine Sendungen abnehmen. Es | |
| geht weiter zu seiner alten Schule, ebenfalls in Petralona. Er könne zwar | |
| hinein – dank der vorhandenen Rampe. Doch dann ist Schluss! Zu den | |
| Klassenzimmern in den oberen Etagen führe kein Fahrstuhl, erklärt Kapiris. | |
| Bei Parlaments-, Regional- und Kommunalwahlen, wenn seine alte Schule als | |
| Wahllokal dient, muss ein Wahlhelfer die Urne zu ihm ins Erdgeschoss | |
| bringen. Nur so kann Kapiris sein Wahlrecht wahrnehmen. | |
| Kapiris sagt, er sei „verrückt nach Theater“. Theaterbegeistert sei er | |
| schon gewesen, bevor der Sturz aus sieben Meter Höhe sein Leben radikal | |
| veränderte. [2][Er nähert sich mit seinem Rollstuhl dem Theater] Alkmini. | |
| Klassiker der US-amerikanischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin | |
| Charlotte Perkins Gilman, moderne Stücke von griechischen Künstlern: Die | |
| Theateraufführungen im Alkimini bieten echte Qualität. Der Haken daran ist | |
| nur, dass gehbehinderte Besucher wie Nikos Kapiris draußen bleiben müssen. | |
| Der simple Grund dafür sind die vier Stufen der Metalltreppe, die zum | |
| Eingang des Theaters führen. Wie bitte soll ein Rollstuhlfahrer diese Hürde | |
| bloß überwinden? Eine Rampe? Fehlanzeige! | |
| Die Theaterleitung hat jedenfalls dafür gesorgt, dass zwei vor besagter | |
| Treppe aufgestellte bunte Fahrbahnteiler aus Kunststoff zweckentfremdet das | |
| ungewünschte Parken von Autos vor dem Eingang des Theaters verhindern. | |
| Fahrbahnteiler statt Rampen! Das kurzerhand auf eigene Faust verhängte | |
| Parkverbot für Autos ist offenbar wichtiger als die Barrierefreiheit für | |
| Behinderte. | |
| Es schmerze ihn, dass er nicht das sehen könne, was er wolle, so Kapiris. | |
| „Ich suche nicht nach Theateraufführungen, die ich gerne besuchen würde, | |
| sondern nach geeigneten Theatern, die barrierefrei sind.“ | |
| Im Großraum Athen seien dies gar nicht so viele, so Kapiris. In der Athener | |
| Innenstadt gebe es zwar barrierefreie Theater. Barrierefreiheit herrsche | |
| allerdings nicht in der ganzen Innenstadt. Er müsse sein Auto zunächst in | |
| teuren privaten Parkhäusern parken, so Kapiris. Denn in der ganzen | |
| Innenstadt gebe es nur etwa zwei Dutzend Behindertenparkplätze. Ein Tropfen | |
| auf den heißen Stein. | |
| Sobald er geparkt hat, beginnt für ihn ein Gang nach Canossa. Bis zum | |
| Theater stößt Kapiris wieder auf das gleiche unsägliche Quartett der | |
| Barrieren wie überall in Athen: enge und zugeparkte Bürgersteige, hohe | |
| Stufen, fehlende Rampen. Er habe keine andere Wahl, erklärt Kapiris. | |
| „Ich meide das Zentrum von Athen.“ Es belaste ihn mental, den Weg vorab bis | |
| ins letzte Detail planen zu müssen. Die Ausgehviertel zu Füßen der | |
| Akropolis mit ihren vielen Cafés, Bars, Restaurants, Tavernen, Kinos, | |
| Theatern und Museen sind für Kapiris faktisch ein riesiges Sperrgebiet, | |
| eine weitläufige No-go-Zone. Traurig mache ihn das, sagt er. Früher genoss | |
| er die Abende in Athen, ob allein oder mit Freunden. Das ist vorbei. | |
| Dimitrios Sifakis ist oft unterwegs in die Athener Innenstadt. Sein Ziel: | |
| die Arbeit. Er ist blind. Den ersten Teil seiner Strecke legt er mit dem | |
| Blindenstock zurück: von seiner Wohnung im südlichen Athener Vorort | |
| Kallithea bis zur nahegelegenen Elektrobahnstation Tavros. Schnell wird | |
| klar: der 48-Jährige kennt jeden Zentimeter seines Weges. Mit all seinen | |
| Tücken. | |
| „Da, gucken Sie!“ Die Spitze des Stocks bleibt an der ersten Stufe der | |
| Treppe hängen – die Kante ist abgeschiefert. „Passe ich nicht auf, rutsche | |
| ich aus“, sagt Sifakis. Er geht weiter. Für Blinde wie ihn ist eine | |
| Leitspur unerlässlich. Das ist ein taktiles Bodensystem mit Rillen- und | |
| Noppenstrukturen. Sie hilft blinden und sehbehinderten Menschen, sich im | |
| öffentlichen Raum selbstständig zu orientieren und Hindernissen | |
| auszuweichen – dank ihrem Blindenstock. | |
| Das geht so: Leitstreifen mit Rippen dienen der Führung, Noppenfelder | |
| signalisieren Gefahrenstellen wie Kreuzungen oder Treppen. Hinzu kommen | |
| Aufmerksamkeitsfelder, die den Weg zu Eingängen oder Haltestellen | |
| aufzeigen. | |
| Sifakis befindet sich nun in der Leitspur für Blinde der Elektrobahnstation | |
| Tavros. Routiniert schwenkt er seinen Blindenstock, der stets den Boden | |
| berührt, in einem Radius von 180 Grad. Von rechts nach links, von links | |
| nach rechts. Abermals von rechts nach links. Und so weiter. So will Sifakis | |
| Hindernisse aller Art ausfindig machen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Er | |
| fährt die Rolltreppe hinunter zur Plattform, die Bahn kommt sofort. Bis | |
| jetzt läuft alles prima. | |
| ## Die Leitspur ist vollgeparkt | |
| Sobald er die Station Omonia am Platz der Eintracht mitten in Athen | |
| verlässt, warten die Fallen auf ihn. Wo früher ein billiges Hotel stand, | |
| steht jetzt ein großes Einkaufszentrum mit Kosmetikartikeln und | |
| Accessoires. Laster stehen am Seiteneingang zum Entladen der neuen Ware – | |
| direkt auf der Leitspur für Blinde. | |
| Proteste und Interventionen seitens der Blinden fruchten nichts, sagt | |
| Sifakis. Das liege, wie er erklärt, nicht zuletzt an der | |
| Kompetenzverteilung zwischen der Stadtverwaltung Athen und der | |
| Regionalverwaltung Attika im Großraum Athen. | |
| Die Hauptstraßen und deren Bürgersteige in der Athener Innenstadt seien | |
| Sache der Regionalverwaltung, für die Nebenstraßen samt den Bürgersteigen | |
| sei indes die Stadt Athen zuständig, so Sifakis. „Bei Kreuzungen ist | |
| unklar, wer für sie zuständig ist.“ Mache man auf Probleme aufmerksam, | |
| werfe die eine Behörde der Stadt der anderen Behörde der Regionalverwaltung | |
| den Ball zu – und umgekehrt. Das Ergebnis: Alles bleibt beim Alten. | |
| Dimitrios Sifakis wuchs in einem Dorf auf Kreta auf. Er kam schon früh nach | |
| Kallithea, um die dortige Förderschule für Sehbehinderte zu besuchen. So | |
| wurde der Kreter zum Athener. Eine richtige Entscheidung, wie er sagt. | |
| Fünfzehn Jahre lang arbeitete er als Telefonist in einer Athener Klinik, er | |
| lernte Gitarre und spielte in Tavernen. Die Lebensqualität sei in der | |
| Großstadt zwar schlechter, die Dinge teurer, die Gefahren seien größer, | |
| findet Sifakis. Dennoch seien „das Leben und die Chancen besser als im | |
| Dorf“. | |
| Die Tour mit dem blinden Sifakis durch die Athener Innenstadt geht weiter. | |
| An vielen Stellen sind die Leitspuren für Blinde auf den Bürgersteigen von | |
| rechtswidrig abgestellten Motorrädern, Scootern sowie fliegenden | |
| Kleinhändlern mit ihren Ständen blockiert. Hinzu komme eine neue Plage in | |
| Athen, wie Sifakis betont: die E-Roller. Alles veritable Hindernisse. „Der | |
| Bürgersteig ist für die Fußgänger – ob blind oder nicht. Nicht für Autos, | |
| Scooter oder E-Roller!“, ätzt Sifakis. | |
| „Die Stadtpolizei tut nichts“, klagt er. Zudem zeigt sich: Leitspuren für | |
| Blinde sind vielfach abgenutzt, hören plötzlich auf oder vereinen gleich | |
| beide Mängel. In einer Nebenstraße nahe dem Omoniaplatz endet die Leitspur | |
| für Blinde auf dem Bürgersteig abrupt in offenen Baulöchern. Passt er an | |
| dieser Stelle nicht auf, riskiert er, ins Loch zu fallen, ärgert sich | |
| Sifakis. | |
| Schon steht ihm die nächste Herausforderung bevor. Sifakis will eine stark | |
| befahrene Straße am Omoniaplatz, Griechenlands zentralstem Platz, | |
| überqueren. Ohne Blindenampel. Ein Härtetest für seinen Hörsinn. Noch | |
| komplizierter wird es, als just in diesem Moment ein Taxi vor der Ampel | |
| stoppt. Der Taxifahrer steigt aus, öffnet den Kofferraum, den Motor lässt | |
| er weiterlaufen. | |
| ## Kaum Blindenampel vorhanden | |
| Die Ampel schaltet für die Autos auf Grün. Das Taxi steht aber weiter an | |
| gleicher Stelle. Blinde hören nur den Motor. Sie könnten fälschlicherweise | |
| glauben, dass die Ampel für die Fußgänger auf Grün geschaltet ist. Sifakis | |
| geht auf Nummer sicher. „Ich höre genau hin, ob heranfahrende Autos | |
| wirklich bremsen, um an der Ampel zu halten.“ Erst dann überquert er die | |
| Straße. | |
| Stichwort Blindenampeln: Athen hat fast keine. Am Verfassungsplatz vor dem | |
| Athener Parlament steht so eine. Schaltet sie auf Grün, zeigen akustische | |
| Signale den Wechsel an. Sifakis sagt, früher seien im Athener Zentrum zwar | |
| „fast an jeder Ecke“ Blindenampeln in Betrieb gewesen. Sie seien aber nicht | |
| gewartet worden – und gingen nach und nach kaputt. In einzelnen | |
| Wohnvierteln hätten sie wiederum aufgebrachte Bewohner zerstört. Sie | |
| wollten nicht ständig die Signale der Ampel hören. | |
| Dimitrios Sifakis biegt in die Athinasstraße ein. Schnell führt sie zum | |
| Monastirakiplatz im Touristenviertel Plaka. Die Straße ist voller Urlauber | |
| aus aller Welt. Sifakis’ Weg führt am zentralen Athener Fleisch- und | |
| Fischmarkt vorbei. E-Roller rasen haarscharf an ihm vorbei. | |
| Inzwischen angekommen in der Ermoustraße, einer anderthalb Kilometer langen | |
| Einkaufsmeile, sieht eine aufgetakelte Frau mittleren Alters Sifakis mit | |
| seinem Blindenstock, bevor sie in einem Kaufhaus verschwindet. Gut hörbar | |
| sagt sie auf Griechisch: „Όχ, ο καημένος“ („Ach, der Arme“).… | |
| er nicht zum ersten Mal, sagt Sifakis. | |
| Zeit für einen leckeren Frappé. Ein schönes Café in einer schattigen | |
| Nebenstraße der Ermou-Einkaufsmeile lädt dazu ein. Dimitrios Sifakis nimmt | |
| einen Schluck und lässt seinem Frust über die Behörden und die real | |
| existierende Barriereunfreiheit freien Lauf. In Griechenland gebe es | |
| durchaus die nötigen Institutionen und Gesetze, aber keine Kontrolle. | |
| Sifakis nennt ein Beispiel. „Ein Platz soll behindertengerecht neugestaltet | |
| werden. Wird er aber nicht. Vielleicht wird nur die halbe Arbeit getan. | |
| Dann wird alles kaputt gemacht und von vorne angefangen, anstatt von Anfang | |
| an alles richtig zu bauen.“ | |
| Im Jahr 1997 wurden die Olympischen Sommerspiele 2004 an Athen vergeben, | |
| erinnert sich Sifakis. Mit Blick auf Olympia 2004 habe Hellas sehr viel | |
| Geld für die Athener Infrastruktur ausgegeben. Seither seien jedoch | |
| zweieinhalb Jahrzehnte verstrichen, merkt Sifakis an. Halte man die | |
| Infrastruktur nicht instand, dann verrotte sie. Heute habe Athen zudem mehr | |
| Einwohner als damals, die Stadt habe sich ausgedehnt. | |
| Eine neue, barrierefreie Infrastruktur sei nötig. Der Athener Flughafen sei | |
| zwar völlig barrierefrei, so Sifakis. Doch: „Das ist die Vitrine, das | |
| Schaufenster.“ Entferne man sich vom Airport und erreiche das Betonmeer | |
| Athen, dann stoße man rasch auf viele Barrieren. Es gebe keine einwandfreie | |
| Barrierefreiheit, um sich in Athen fortzubewegen, unterstreicht Sifakis | |
| unverblümt. | |
| ## „Oasen“ der Barrierefreiheit | |
| Schätzungen zufolge machen Behinderte etwa 10 Prozent der hiesigen | |
| Bevölkerung in Griechenland aus. Das seien rund 1 Million Menschen, teilt | |
| der Präsident des Griechischen Behindertenverbandes ESAMEA, Jannis | |
| Vardakastanis, auf Anfrage der taz mit. Der Umstand, wonach die | |
| Barrierefreiheit in Athen eingeschränkt ist, steht ebenso für Vardakastanis | |
| außer Frage. | |
| In Athen gebe es zwar „Oasen“ der Barrierefreiheit, so Vardakastanis zur | |
| taz. Einige öffentliche Verkehrsmittel, archäologische Stätten und die | |
| meisten Museen seien barrierefrei, aber nur wenige Restaurants und Cafés. | |
| Vardakastanis bestätigt: „Die Gehwege sind kaputt, die Rampen voll mit | |
| geparkten Autos, Busse und Straßenbahnen nicht immer frei zugänglich, | |
| akustische Signale für Blinde fehlen.“ | |
| Doch damit nicht genug: „Hinzu kommt oft ein mangelndes Einfühlungsvermögen | |
| seitens der nichtbehinderten Mitbürger, Politiker inbegriffen, gegenüber | |
| Behinderten“, fügt Vardakastanis hinzu. | |
| Nikos Kapiris, Dimitrios Sifakis und Jannis Vardakastanis sind sich einig: | |
| Eine „Kette“ der Barrierefreiheit im Großraum Athen fehle, ein Konzept, das | |
| in seiner Gesamtheit umgesetzt werde und es so behinderten Menschen | |
| ermögliche, sich ohne Mühe von Punkt A nach B und von dort nach C zu | |
| bewegen. | |
| Gäbe es eine möglichst umfassende Barrierefreiheit, würde dies doch auch | |
| der übrigen Bevölkerung wie Frauen mit Kinderwagen oder Senioren nützen, | |
| hebt Kapiris hervor. „Was gut für uns (Behinderte) ist, ist gut für alle“, | |
| sagt er mit fester Stimme. | |
| Sifakis legt nach. Sein so trauriges wie niederschmetterndes Urteil lautet: | |
| Athen sei in Sachen Barrierefreiheit „sehr weit“ hinter dem ob der großen | |
| nationalen Vision Olympia erreichten Stand von 2004 zurückgefallen, anstatt | |
| seither Fortschritte zu machen. | |
| Wie sagte die mittlerweile verstorbene Irini Papas, eine begnadete | |
| Schauspielerin, Griechenlands wohl großartigste Tragödiendarstellerin, über | |
| ihre Heimat: „Hellas hinkt, täuscht aber vor, dass es tanzt.“ Micha | |
| Dittrichs leise Flüche würden wohl auch heute in Athen zu hören sein. | |
| 19 Sep 2025 | |
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