# taz.de -- Barrierefreiheit in Griechenland: Unsichtbare Barrieren | |
> 2004 investierte Athen Milliarden in die Olympischen Spiele und | |
> Barrierefreiheit. Doch noch immer ist die Stadt ein Hindernisparcours. | |
Bild: Sein Lieblingstheater „Alkmini“ in Athen ist für Nikos Kapiris unerr… | |
Athen taz | Michael Dittrich flucht leise. Von den meisten wird er Micha | |
genannt. Die Bürgersteige sind eng, zugeparkt mit Autos und Scootern, die | |
Stufen zu hoch und Rampen nirgendwo. Gleich hat er ein Interview im Athener | |
Nobelviertel Kolonaki, und er will pünktlich sein. Dittrich dreht einen | |
Film – die Olympischen Sommerspiele 2004 stehen bevor, kurz darauf folgen | |
die Paralympics. „Zurück zur Geburtsstätte von Olympia“, lautet der stolze | |
Slogan der Gastgeber, 108 Jahre nach den ersten Spielen der Neuzeit. | |
Für den gebürtigen Dortmunder ist der Dreh in Athen eine Qual. Dabei gilt | |
er als einer, den so schnell nichts umhaut. Ohne seinen Kameramann, der ihn | |
über Treppen hievt und durch enge Straßen schiebt, wäre er in dieser Stadt | |
verloren. | |
Seit seinem 36. Lebensjahr leidet er an einer chronischen Entzündung des | |
Zentralnervensystems. Sie führt zu starken Lähmungen. Der Befund: Multiple | |
Sklerose. Dittrich braucht einen Rollstuhl. Er gibt nicht auf, produziert | |
weiter Filme und Fernsehfeatures. Für Aufsehen sorgt 2015 sein | |
autobiografischer Film „Reine Nervensache – Leben mit einer unheilbaren | |
Krankheit“. | |
Bis zu seinem Tod im Jahr 2022 arbeitet er vom Krankenbett aus. Was ihn | |
damals ausbremste, erschwert auch heute noch das Leben vieler | |
Rollstuhlfahrer in Athen. | |
## Die leere öffentliche Hand | |
Zeitsprung in die Gegenwart: Es ist ein heißer Tag Ende August im | |
südwestlichen Athener Vorort Renti. Eine Vielzahl von Gewerbebetrieben, | |
große Lagerhallen, der zentrale Athener Gemüsemarkt: Renti gilt nicht als | |
besonders schöner Wohnort, doch es gibt auch Flecken mit etwas Grün. | |
Nikos Kapiris, 45, sportlich, mit Pilotenbrille, rollt zu seinem schwarzen | |
SUV. Seine Wohnung liegt im Erdgeschoss, der Hintereingang führt direkt zum | |
Parkplatz. Kapiris braucht daher keine Hilfe, wenn er die Wohnung verlässt | |
oder dorthin zurückkehrt. Das sei ihm sehr wichtig. „Ich will zu einhundert | |
Prozent unabhängig sein, ohne irgendeine Hilfe.“ | |
Kapiris steigt ein, klappt seinen Rollstuhl zusammen, verstaut ihn hinter | |
dem Fahrersitz. Alles geht ruck, zuck. Damit alles reibungslos klappt, ist | |
Kapiris’ Rollstuhl handgefertigt, maßgeschneidert, ultraleicht – und teuer. | |
Rund 5.000 Euro kostet so ein Modell, sagt er. [1][Die öffentliche Hand] | |
übernimmt davon nur 2.000 Euro – und das auch nur alle fünf Jahre. | |
Immerhin: Bis vor Kurzem waren es lediglich 1.050 Euro, erzählt Kapiris. | |
„Für die Erhöhung haben wir gekämpft“, fügt er hinzu. | |
Nikos Kapiris gibt Gas. Das tut er, indem er mit der rechten Hand einen | |
extra eingebauten Hebel in seinem Wagen betätigt. Die Fahrt führt an einer | |
Bushaltestelle vorbei, Kapiris biegt sportlich in eine Kurve ein. „Ohne | |
Auto ist es für Rollstuhlfahrer wie mich sehr schwierig, in Athen unterwegs | |
zu sein.“ Die Busse seien keine Alternative. | |
Kapiris betont: Nicht die Busse seien das Problem, sondern der Weg zur | |
Haltestelle. Die Bürgersteige hätten keine Rampen, moniert er. Notgedrungen | |
müsste er auf die Straße ausweichen. Das berge wegen der Autofahrer mit | |
ihrem oftmals rüden Fahrstil große Gefahren. Für ihn heißt das: lieber mit | |
dem Auto fahren – schon aus Sicherheitsgründen. | |
Fünf Fahrminuten später ist der Supermarkt erreicht. Hier erledigt Nikos | |
Kapiris stets seine Einkäufe. Kapiris fährt auf einen für Behinderte | |
markierten extrabreiten Parkplatz. Kapiris steigt bequem aus. Der | |
Supermarkt hat eine automatische Schiebetür. Alles ist flach. Keine | |
Barriere, kein Hindernis, ein ausreichend breiter Fahrstuhl führt in die | |
erste Etage. Freie Bahn! Barrierefreiheit pur. „Das ist der gute Teil der | |
Tour“, dämpft Kapiris die Erwartungen. Seine Augen funkeln, als er das | |
sagt. | |
Kapiris’ Leben änderte sich vor gut zehn Jahren in Sekundenbruchteilen. Der | |
gelernte Tänzer und Akrobat, ein Profi, will am späten Abend des 15. Mai | |
2015 in seiner Privatschule einer Besucherin aus England noch schnell einen | |
Luftakrobatiktrick für ein Video zeigen. Der Sicherungsknoten löst sich. | |
Kapiris stürzt aus sieben Metern Höhe auf den Boden. Der Aufprall ist zu | |
heftig. Kapiris stürzt mit dem Kopf voran und zieht im letzten Moment den | |
Körper in die Embryonalstellung, wie er später erzählt. Zwei Wirbel | |
brechen. | |
Von einer Sekunde auf die andere ist er querschnittsgelähmt – unumkehrbar. | |
Für Nikos Kapiris beginnt mit 35 ein neues Leben. Das intensive | |
Körpertraining setzt er fort. Er hält sich viermal pro Woche mit | |
Kallisthenik fit, ein Training mit dem eigenen Körpergewicht mit | |
Liegestützen, Klimmzügen und Kniebeugen. Der Begriff leitet sich vom | |
griechischen „kalos“ (schön) und „sthenos“(stärke) ab und bedeutet so… | |
wie „schöne Kraft“. | |
Die Tour mit Nikos Kapiris geht weiter. Er fährt zu seinem alten Wohnort, | |
dem südlichen Athener Stadtteil Petralona. In diesem dicht besiedelten | |
Viertel der griechischen Hauptstadt ist er aufgewachsen. Doch vor drei | |
Jahren fasste Kapiris den Entschluss, gemeinsam mit seinen Eltern in die | |
Wohnung nach Renti umzuziehen. Für ihn war Petralona ein Ort voller | |
Barrieren. Er dachte sich: „Bloß weg hier!“ | |
Parkplatzsuche in Petralona. „Da geht es. Schön im Schatten. Das passt doch | |
wunderbar“, freut er sich. Er greift sich den Rollstuhl hinter dem | |
Fahrersitz, macht die Tür auf und rasch ist er in seinem Rollstuhl auf der | |
Straße. „Wir wohnten im sechsten Stock eines Mehrfamilienhauses. Bei | |
Stromausfällen fiel der Aufzug aus. Ich konnte die Wohnung nicht mehr | |
verlassen“, erklärt Kapiris. Bei Bränden oder Erdbeben, in Griechenland | |
keine Seltenheit, hätte das hochgefährlich werden können. | |
Das ist nicht alles. Kapiris befindet sich vor dem staatlichen | |
Gesundheitszentrum in seinem alten Viertel. Graffiti prangt auf den Wänden. | |
Kapiris zeigt auf die Rampe, die zum Eingang der Klinik führt. „Alles | |
falsch!“, ätzt Kapiris. Die Rampe verlaufe in Kurven, sie sei viel zu steil | |
gebaut. „Überschätze ich meine Kräfte, kann es sein, dass ich auf der Rampe | |
vom Rollstuhl falle.“ | |
An dieser Stelle der Tour mit Kapiris wird erstmals deutlich: Ausgerechnet | |
öffentliche Einrichtungen wie Gesundheitszentren sind nicht barrierefrei. | |
Zwar gibt es Rampen, doch oft sind sie unbrauchbar. | |
Eine unsägliche Barriereunfreiheit herrsche ebenso in den großen | |
Krankenhäusern in Athen, wie Kapiris aus eigener Erfahrung wisse. Er wird | |
konkret: Selbst in der Universitätsklinik Evangelismos in der Athener | |
Innenstadt, dem größten Krankenhaus in ganz Südosteuropa, gibt es keinen | |
Parkplatz für Autos von Behinderten, kritisiert Kapiris. | |
Dabei seien gleich ein halbes Dutzend Parkplätze für die Leitung der Klinik | |
reserviert, wie er moniert. Er zeigt auf einen Platz: „Ich wollte dort | |
parken. Mich hat das Sicherheitspersonal verscheucht. Ein Ordnungshüter | |
sagte mir: Geh woanders parken!'“ Kapiris ist enttäuscht. Er könne sich | |
nicht ständig mit irgendwelchen Sicherheitsleuten streiten. Also fährt er | |
seither erst gar nicht mehr hin. | |
Die Poststelle in Petralona, seinem alten Wohnort, sei ebenso für ihn | |
unzugänglich, ergänzt Kapiris. Solange er in dem Viertel lebte, blieb er | |
draußen und ließ sich von einem Postbeamten seine Sendungen abnehmen. Es | |
geht weiter zu seiner alten Schule, ebenfalls in Petralona. Er könne zwar | |
hinein – dank der vorhandenen Rampe. Doch dann ist Schluss! Zu den | |
Klassenzimmern in den oberen Etagen führe kein Fahrstuhl, erklärt Kapiris. | |
Bei Parlaments-, Regional- und Kommunalwahlen, wenn seine alte Schule als | |
Wahllokal dient, muss ein Wahlhelfer die Urne zu ihm ins Erdgeschoss | |
bringen. Nur so kann Kapiris sein Wahlrecht wahrnehmen. | |
Kapiris sagt, er sei „verrückt nach Theater“. Theaterbegeistert sei er | |
schon gewesen, bevor der Sturz aus sieben Meter Höhe sein Leben radikal | |
veränderte. [2][Er nähert sich mit seinem Rollstuhl dem Theater] Alkmini. | |
Klassiker der US-amerikanischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin | |
Charlotte Perkins Gilman, moderne Stücke von griechischen Künstlern: Die | |
Theateraufführungen im Alkimini bieten echte Qualität. Der Haken daran ist | |
nur, dass gehbehinderte Besucher wie Nikos Kapiris draußen bleiben müssen. | |
Der simple Grund dafür sind die vier Stufen der Metalltreppe, die zum | |
Eingang des Theaters führen. Wie bitte soll ein Rollstuhlfahrer diese Hürde | |
bloß überwinden? Eine Rampe? Fehlanzeige! | |
Die Theaterleitung hat jedenfalls dafür gesorgt, dass zwei vor besagter | |
Treppe aufgestellte bunte Fahrbahnteiler aus Kunststoff zweckentfremdet das | |
ungewünschte Parken von Autos vor dem Eingang des Theaters verhindern. | |
Fahrbahnteiler statt Rampen! Das kurzerhand auf eigene Faust verhängte | |
Parkverbot für Autos ist offenbar wichtiger als die Barrierefreiheit für | |
Behinderte. | |
Es schmerze ihn, dass er nicht das sehen könne, was er wolle, so Kapiris. | |
„Ich suche nicht nach Theateraufführungen, die ich gerne besuchen würde, | |
sondern nach geeigneten Theatern, die barrierefrei sind.“ | |
Im Großraum Athen seien dies gar nicht so viele, so Kapiris. In der Athener | |
Innenstadt gebe es zwar barrierefreie Theater. Barrierefreiheit herrsche | |
allerdings nicht in der ganzen Innenstadt. Er müsse sein Auto zunächst in | |
teuren privaten Parkhäusern parken, so Kapiris. Denn in der ganzen | |
Innenstadt gebe es nur etwa zwei Dutzend Behindertenparkplätze. Ein Tropfen | |
auf den heißen Stein. | |
Sobald er geparkt hat, beginnt für ihn ein Gang nach Canossa. Bis zum | |
Theater stößt Kapiris wieder auf das gleiche unsägliche Quartett der | |
Barrieren wie überall in Athen: enge und zugeparkte Bürgersteige, hohe | |
Stufen, fehlende Rampen. Er habe keine andere Wahl, erklärt Kapiris. | |
„Ich meide das Zentrum von Athen.“ Es belaste ihn mental, den Weg vorab bis | |
ins letzte Detail planen zu müssen. Die Ausgehviertel zu Füßen der | |
Akropolis mit ihren vielen Cafés, Bars, Restaurants, Tavernen, Kinos, | |
Theatern und Museen sind für Kapiris faktisch ein riesiges Sperrgebiet, | |
eine weitläufige No-go-Zone. Traurig mache ihn das, sagt er. Früher genoss | |
er die Abende in Athen, ob allein oder mit Freunden. Das ist vorbei. | |
Dimitrios Sifakis ist oft unterwegs in die Athener Innenstadt. Sein Ziel: | |
die Arbeit. Er ist blind. Den ersten Teil seiner Strecke legt er mit dem | |
Blindenstock zurück: von seiner Wohnung im südlichen Athener Vorort | |
Kallithea bis zur nahegelegenen Elektrobahnstation Tavros. Schnell wird | |
klar: der 48-Jährige kennt jeden Zentimeter seines Weges. Mit all seinen | |
Tücken. | |
„Da, gucken Sie!“ Die Spitze des Stocks bleibt an der ersten Stufe der | |
Treppe hängen – die Kante ist abgeschiefert. „Passe ich nicht auf, rutsche | |
ich aus“, sagt Sifakis. Er geht weiter. Für Blinde wie ihn ist eine | |
Leitspur unerlässlich. Das ist ein taktiles Bodensystem mit Rillen- und | |
Noppenstrukturen. Sie hilft blinden und sehbehinderten Menschen, sich im | |
öffentlichen Raum selbstständig zu orientieren und Hindernissen | |
auszuweichen – dank ihrem Blindenstock. | |
Das geht so: Leitstreifen mit Rippen dienen der Führung, Noppenfelder | |
signalisieren Gefahrenstellen wie Kreuzungen oder Treppen. Hinzu kommen | |
Aufmerksamkeitsfelder, die den Weg zu Eingängen oder Haltestellen | |
aufzeigen. | |
Sifakis befindet sich nun in der Leitspur für Blinde der Elektrobahnstation | |
Tavros. Routiniert schwenkt er seinen Blindenstock, der stets den Boden | |
berührt, in einem Radius von 180 Grad. Von rechts nach links, von links | |
nach rechts. Abermals von rechts nach links. Und so weiter. So will Sifakis | |
Hindernisse aller Art ausfindig machen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Er | |
fährt die Rolltreppe hinunter zur Plattform, die Bahn kommt sofort. Bis | |
jetzt läuft alles prima. | |
## Die Leitspur ist vollgeparkt | |
Sobald er die Station Omonia am Platz der Eintracht mitten in Athen | |
verlässt, warten die Fallen auf ihn. Wo früher ein billiges Hotel stand, | |
steht jetzt ein großes Einkaufszentrum mit Kosmetikartikeln und | |
Accessoires. Laster stehen am Seiteneingang zum Entladen der neuen Ware – | |
direkt auf der Leitspur für Blinde. | |
Proteste und Interventionen seitens der Blinden fruchten nichts, sagt | |
Sifakis. Das liege, wie er erklärt, nicht zuletzt an der | |
Kompetenzverteilung zwischen der Stadtverwaltung Athen und der | |
Regionalverwaltung Attika im Großraum Athen. | |
Die Hauptstraßen und deren Bürgersteige in der Athener Innenstadt seien | |
Sache der Regionalverwaltung, für die Nebenstraßen samt den Bürgersteigen | |
sei indes die Stadt Athen zuständig, so Sifakis. „Bei Kreuzungen ist | |
unklar, wer für sie zuständig ist.“ Mache man auf Probleme aufmerksam, | |
werfe die eine Behörde der Stadt der anderen Behörde der Regionalverwaltung | |
den Ball zu – und umgekehrt. Das Ergebnis: Alles bleibt beim Alten. | |
Dimitrios Sifakis wuchs in einem Dorf auf Kreta auf. Er kam schon früh nach | |
Kallithea, um die dortige Förderschule für Sehbehinderte zu besuchen. So | |
wurde der Kreter zum Athener. Eine richtige Entscheidung, wie er sagt. | |
Fünfzehn Jahre lang arbeitete er als Telefonist in einer Athener Klinik, er | |
lernte Gitarre und spielte in Tavernen. Die Lebensqualität sei in der | |
Großstadt zwar schlechter, die Dinge teurer, die Gefahren seien größer, | |
findet Sifakis. Dennoch seien „das Leben und die Chancen besser als im | |
Dorf“. | |
Die Tour mit dem blinden Sifakis durch die Athener Innenstadt geht weiter. | |
An vielen Stellen sind die Leitspuren für Blinde auf den Bürgersteigen von | |
rechtswidrig abgestellten Motorrädern, Scootern sowie fliegenden | |
Kleinhändlern mit ihren Ständen blockiert. Hinzu komme eine neue Plage in | |
Athen, wie Sifakis betont: die E-Roller. Alles veritable Hindernisse. „Der | |
Bürgersteig ist für die Fußgänger – ob blind oder nicht. Nicht für Autos, | |
Scooter oder E-Roller!“, ätzt Sifakis. | |
„Die Stadtpolizei tut nichts“, klagt er. Zudem zeigt sich: Leitspuren für | |
Blinde sind vielfach abgenutzt, hören plötzlich auf oder vereinen gleich | |
beide Mängel. In einer Nebenstraße nahe dem Omoniaplatz endet die Leitspur | |
für Blinde auf dem Bürgersteig abrupt in offenen Baulöchern. Passt er an | |
dieser Stelle nicht auf, riskiert er, ins Loch zu fallen, ärgert sich | |
Sifakis. | |
Schon steht ihm die nächste Herausforderung bevor. Sifakis will eine stark | |
befahrene Straße am Omoniaplatz, Griechenlands zentralstem Platz, | |
überqueren. Ohne Blindenampel. Ein Härtetest für seinen Hörsinn. Noch | |
komplizierter wird es, als just in diesem Moment ein Taxi vor der Ampel | |
stoppt. Der Taxifahrer steigt aus, öffnet den Kofferraum, den Motor lässt | |
er weiterlaufen. | |
## Kaum Blindenampel vorhanden | |
Die Ampel schaltet für die Autos auf Grün. Das Taxi steht aber weiter an | |
gleicher Stelle. Blinde hören nur den Motor. Sie könnten fälschlicherweise | |
glauben, dass die Ampel für die Fußgänger auf Grün geschaltet ist. Sifakis | |
geht auf Nummer sicher. „Ich höre genau hin, ob heranfahrende Autos | |
wirklich bremsen, um an der Ampel zu halten.“ Erst dann überquert er die | |
Straße. | |
Stichwort Blindenampeln: Athen hat fast keine. Am Verfassungsplatz vor dem | |
Athener Parlament steht so eine. Schaltet sie auf Grün, zeigen akustische | |
Signale den Wechsel an. Sifakis sagt, früher seien im Athener Zentrum zwar | |
„fast an jeder Ecke“ Blindenampeln in Betrieb gewesen. Sie seien aber nicht | |
gewartet worden – und gingen nach und nach kaputt. In einzelnen | |
Wohnvierteln hätten sie wiederum aufgebrachte Bewohner zerstört. Sie | |
wollten nicht ständig die Signale der Ampel hören. | |
Dimitrios Sifakis biegt in die Athinasstraße ein. Schnell führt sie zum | |
Monastirakiplatz im Touristenviertel Plaka. Die Straße ist voller Urlauber | |
aus aller Welt. Sifakis’ Weg führt am zentralen Athener Fleisch- und | |
Fischmarkt vorbei. E-Roller rasen haarscharf an ihm vorbei. | |
Inzwischen angekommen in der Ermoustraße, einer anderthalb Kilometer langen | |
Einkaufsmeile, sieht eine aufgetakelte Frau mittleren Alters Sifakis mit | |
seinem Blindenstock, bevor sie in einem Kaufhaus verschwindet. Gut hörbar | |
sagt sie auf Griechisch: „Όχ, ο καημένος“ („Ach, der Arme“).… | |
er nicht zum ersten Mal, sagt Sifakis. | |
Zeit für einen leckeren Frappé. Ein schönes Café in einer schattigen | |
Nebenstraße der Ermou-Einkaufsmeile lädt dazu ein. Dimitrios Sifakis nimmt | |
einen Schluck und lässt seinem Frust über die Behörden und die real | |
existierende Barriereunfreiheit freien Lauf. In Griechenland gebe es | |
durchaus die nötigen Institutionen und Gesetze, aber keine Kontrolle. | |
Sifakis nennt ein Beispiel. „Ein Platz soll behindertengerecht neugestaltet | |
werden. Wird er aber nicht. Vielleicht wird nur die halbe Arbeit getan. | |
Dann wird alles kaputt gemacht und von vorne angefangen, anstatt von Anfang | |
an alles richtig zu bauen.“ | |
Im Jahr 1997 wurden die Olympischen Sommerspiele 2004 an Athen vergeben, | |
erinnert sich Sifakis. Mit Blick auf Olympia 2004 habe Hellas sehr viel | |
Geld für die Athener Infrastruktur ausgegeben. Seither seien jedoch | |
zweieinhalb Jahrzehnte verstrichen, merkt Sifakis an. Halte man die | |
Infrastruktur nicht instand, dann verrotte sie. Heute habe Athen zudem mehr | |
Einwohner als damals, die Stadt habe sich ausgedehnt. | |
Eine neue, barrierefreie Infrastruktur sei nötig. Der Athener Flughafen sei | |
zwar völlig barrierefrei, so Sifakis. Doch: „Das ist die Vitrine, das | |
Schaufenster.“ Entferne man sich vom Airport und erreiche das Betonmeer | |
Athen, dann stoße man rasch auf viele Barrieren. Es gebe keine einwandfreie | |
Barrierefreiheit, um sich in Athen fortzubewegen, unterstreicht Sifakis | |
unverblümt. | |
## „Oasen“ der Barrierefreiheit | |
Schätzungen zufolge machen Behinderte etwa 10 Prozent der hiesigen | |
Bevölkerung in Griechenland aus. Das seien rund 1 Million Menschen, teilt | |
der Präsident des Griechischen Behindertenverbandes ESAMEA, Jannis | |
Vardakastanis, auf Anfrage der taz mit. Der Umstand, wonach die | |
Barrierefreiheit in Athen eingeschränkt ist, steht ebenso für Vardakastanis | |
außer Frage. | |
In Athen gebe es zwar „Oasen“ der Barrierefreiheit, so Vardakastanis zur | |
taz. Einige öffentliche Verkehrsmittel, archäologische Stätten und die | |
meisten Museen seien barrierefrei, aber nur wenige Restaurants und Cafés. | |
Vardakastanis bestätigt: „Die Gehwege sind kaputt, die Rampen voll mit | |
geparkten Autos, Busse und Straßenbahnen nicht immer frei zugänglich, | |
akustische Signale für Blinde fehlen.“ | |
Doch damit nicht genug: „Hinzu kommt oft ein mangelndes Einfühlungsvermögen | |
seitens der nichtbehinderten Mitbürger, Politiker inbegriffen, gegenüber | |
Behinderten“, fügt Vardakastanis hinzu. | |
Nikos Kapiris, Dimitrios Sifakis und Jannis Vardakastanis sind sich einig: | |
Eine „Kette“ der Barrierefreiheit im Großraum Athen fehle, ein Konzept, das | |
in seiner Gesamtheit umgesetzt werde und es so behinderten Menschen | |
ermögliche, sich ohne Mühe von Punkt A nach B und von dort nach C zu | |
bewegen. | |
Gäbe es eine möglichst umfassende Barrierefreiheit, würde dies doch auch | |
der übrigen Bevölkerung wie Frauen mit Kinderwagen oder Senioren nützen, | |
hebt Kapiris hervor. „Was gut für uns (Behinderte) ist, ist gut für alle“, | |
sagt er mit fester Stimme. | |
Sifakis legt nach. Sein so trauriges wie niederschmetterndes Urteil lautet: | |
Athen sei in Sachen Barrierefreiheit „sehr weit“ hinter dem ob der großen | |
nationalen Vision Olympia erreichten Stand von 2004 zurückgefallen, anstatt | |
seither Fortschritte zu machen. | |
Wie sagte die mittlerweile verstorbene Irini Papas, eine begnadete | |
Schauspielerin, Griechenlands wohl großartigste Tragödiendarstellerin, über | |
ihre Heimat: „Hellas hinkt, täuscht aber vor, dass es tanzt.“ Micha | |
Dittrichs leise Flüche würden wohl auch heute in Athen zu hören sein. | |
19 Sep 2025 | |
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Ferry Batzoglou | |
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