# taz.de -- Barrierefreiheit: Hürdenlauf im Rollstuhl | |
> Wie behindertengerecht ist Kiel? In speziellen Seminaren probieren | |
> Verwaltungsmitarbeiter aus, wie schwierig für Blinde oder Rollstuhlfahrer | |
> die Fortbewegung im öffentlichen Raum sein kann. | |
Bild: Geschafft: Rainer Bohn, eigentlich beim Tiefbauamt, freut sich darüber, … | |
Die Karre zieht nach links. Da schlägt bekanntlich das Herz, vor allem aber | |
ist da im Moment jede Menge Verkehr. Da will ich nicht rein geraten. Doch | |
die blöde Karre ist störrisch. Bevor ich über die Bordsteinkante kippe, | |
steuere ich mit vollem Körpereinsatz gegen. "Nicht mit den Füßen", sagt | |
Sabine Dittmann streng. Richtig, das darf ich nicht. Denn ich bin | |
Rollstuhlfahrerin, jedenfalls für ein paar Stunden, und Dittmann zeigt mir, | |
wie das geht. | |
Die 44-Jährige sitzt selbst im Rollstuhl, eine schlanke, sportliche Frau - | |
meist fährt sie per Handbike durch Kiel, trainiert in der Freizeit ein | |
Rollstuhlhandball-Team und misst hauptberuflich im Auftrag des Vereins | |
"Unterwegs ohne Grenzen" die Stadt aus - für die Neuausgabe eines | |
Rollstuhl-Stadtführers. Dittmann ist Fachfrau für Rampen und öffentliche | |
Toiletten, kennt sich aus mit Treppen, Kanten und engen Kehren, die das | |
Leben mit Rollstuhl, Rollator oder Krücken erschweren. | |
Sie weiß natürlich auch, was mir als Fußgängerin nie aufgefallen ist: Jeder | |
Bürgersteig hat ein Quergefälle zur Straße hin. Es sind nur ein oder zwei | |
Grad, für Fußgänger kaum merklich - im Stuhl zerren sie in jeder Sekunde an | |
den Schultermuskeln. Rainer Bohn dagegen scheint den Trick schon raus zu | |
haben. "Gegenlenken, wie beim Paddeln!", sagt der 55-Jährige, der im Kieler | |
Tiefbauamt arbeitet. Und noch etwas hat er gelernt: "Bei langen Rampen geht | |
es gar nicht ohne Plateaus." | |
Eben solche Dinge sind es, die Maria Pötter, bei der Stadtverwaltung | |
zuständig für "barrierefreies Bauen", vermitteln möchte. Die Stadt tut | |
einiges, damit Menschen mit Behinderungen sich eigenständig bewegen können: | |
Es gibt einen Beirat, dem Menschen mit verschiedenen Behinderungen | |
angehören. Dieses Gremium steht der "Beratungsstelle für barrierefreies | |
Bauen" zur Seite, die bei größeren Baumaßnahmen ein Wörtchen mitzureden | |
hat. Außerdem beraten Pötter und ihre Kollegen städtische Ämter bei | |
Umbauten oder der Verkehrsplanung und beraten Privatleuten, Bauherren und | |
Architekten. | |
Hin und wieder organisiert Pötter Seminare wie dieses hier, damit die | |
Fachleute aus der Verwaltung mal am eigenen Leib erleben, wie sich die | |
Stadt aus Rollstuhlperspektive oder am Blindenstock anfühlt. Denn was dem | |
einen hilft, ist für den anderen schädlich: Wird ein Bordstein auf Null | |
abgesenkt, wie Rollstuhlfahrer es wünschen, stehen Blinde spontan auf der | |
Straße: "Und dann", sagt Hiro Weinhold, "ist das nächste Auto meins." | |
Die 64-Jährige ist die zweite Trainerin an diesem Tag. Seit 1991 ist die | |
ehemalige Röntgenassistentin nach einer Star-Operation blind. Meist ist sie | |
mit Ronnie unterwegs, aber heute bleibt der Blindenhund zuhause. Weinhold | |
verteilt schwarze Brillen und Stöcke. "Die Stadt gibt sich schon Mühe", | |
sagt sie, aber dennoch gebe es immer wieder etwas zu bemängeln. "Ich | |
trample den Leuten gern auf die Füße, und irgendwann kriege ich dann meine | |
sprechende Ampel." | |
Mit Brille und Stock schafft Marc Jestrimsky nur ein paar Meter, dann gibt | |
er auf. "Ich kann das nicht", sagt er, "ich habe Angst." Und das passe ihm | |
gar nicht, sagt der 41-jährige Architekt, der sich seit Jahren für mehr | |
Barrierefreiheit einsetzt: "Aus purem Egoismus. Irgendwann bin ich selbst | |
alt, dann vielleicht auf Rollstuhl oder Blindenstock angewiesen." | |
Blind sein bedeutet Stress, das finden auch die anderen Seminarteilnehmer. | |
Vor dem Rathaus verläuft ein Plattenweg, in dessen Rillen die Gummikappe | |
des Stocks bequem dahin gleitet. Plötzlich aber endet der Weg, und dahinter | |
fühlt es sich rau an. Teilt sich hier die Strecke, droht eine Gefahr - oder | |
ist es bloß eine Bushaltestelle? Sabine Dittmann, die langsam neben den | |
Stockgängern herfährt - "Die Lahmen", sagt Hiro Weinhold, "helfen den | |
Blinden." - beruhigt: "Nur ein kleines Stück Kopfsteinpflaster." Offenbar | |
aus optischen Gründen ist die Führungsspur unterbrochen. Nur 50 Zentimeter, | |
aber es dauert, dieses Hindernis mit dem Stock abzutasten und zu | |
überwinden. Kurz darauf führt die Markierung über einen Gully, und nach ein | |
paar Metern hören die Rillen einfach auf. | |
Diese mangelnde Sorgfalt ärgert Marc Jestrimsky. Wie auch die frisch | |
eingeweihte Behindertentoilette, von der Dittmann erzählt: An beiden Seiten | |
des Klos sind Griffe befestigt, die sich nicht hochklappen lassen. "Dabei | |
ist Geräteturnen nicht mal paralympische Sportart", sagt sie: "Nicht alle | |
Rollstuhlfahrer sind beidseitig gleich stark. Nach einem Schlaganfall hat | |
man oft nur eine gute Hand." | |
Aus solchen Erfahrungen sei die Idee für das Seminar geboren, so Dittmann: | |
"Wenn wieder Quatsch gebaut wird, möchte man den Leuten einfach zeigen, wie | |
sich das auswirkt." Aber es wäre auch schön, sagt sie, "wenn nicht immer | |
nur die kommen, die sich ohnehin mit dem Thema beschäftigt haben". | |
6 Jul 2009 | |
## AUTOREN | |
Esther Geisslinger | |
## TAGS | |
Rollstuhl | |
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