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# taz.de -- Generalstreik in Frankreich: Gelb ist das neue Rot
> Die Bewegung „Bloquons tout“ will ganz Frankreich lahmlegen. Ihr fehlt
> politisches Können – profitieren wird vor allem die französische Rechte.
Bild: „Macron Explosion“: Am 10. September soll in Frankreich alles lahmgel…
Wer Frankreich in den 1950er Jahren kannte und die rasanten Veränderungen
zur Kenntnis nahm, die um 1968 eingetreten waren, konnte der Diagnose des
US-amerikanischen Frankreichkenners Stanley Hoffman zustimmen: „Frankreich
ist deblockiert.“ Aus einem Agrarland war eine Industrie- und
Dienstleistungsgesellschaft geworden, nach einem Jahrhundert demografischer
Stagnation bekamen die Französinnen überdurchschnittlich viele Kinder, die
Fünfte Republik des Generals de Gaulle brach mit vielen alten Zöpfen ihrer
Vorgängerinnen. 1970, zwei Jahre nach Hoffmann, veröffentlichte der
französische Soziologe Michel Crozier den Bestseller „Die blockierte
Gesellschaft“.
Beide Diagnosen waren damals berechtigt: Hoffman würdigte den großen
Sprung, den die französische Gesellschaft gemacht hatte, Crozier monierte
die Überreste des Ancien Régime, seine Überzentralisierung, seine
etatistische Bürokratie, sinnfreie Hierarchien.
Damit nahm Crozier Diagnosen der „Unregierbarkeit“ vorweg, die für alle
entwickelten Industriegesellschaften galten, die sich seit dem Ende der
„dreißig glorreichen Jahre“ mit Wirtschaftswachstum und Wohlstandsmehrung
von einer Krise in die andere schleppen. Politikverdrossenheit,
Unzufriedenheit mit den Eliten und populistisches Querulantentum waren die
Folgen.
Das Gefühl, „alles geht den Bach runter“, ist nicht auf Deutschland
beschränkt, französisch heißt der Mehltau, der sich über alles legt,
„morosité“. Diese Depression bringt gerade eine diffuse Bewegung unter dem
Motto „Bloquons tout!“ hervor, am 10. September soll das ganze Land
lahmgelegt werden.
## Bayrous Flucht nach vorn
Die französische Geschichte kennt viele Varianten von Generalstreik und
Massendemonstration – von den Aufmärschen der Arbeiterbewegung über
faschistische Massenaufläufe, dem Pariser Mai/Juni und den Protesten gegen
die Legalisierung der Homoehe. Vorbild der aktuellen Neuauflage ist der
Aufmarsch der Gelbwesten 2019, der sich an eher schüchternen
energiepolitischen Maßnahmen der Macron-Regierung entzündete und vor allem
im Hinterland einen sozialstrukturell wie weltanschaulich gemischten
Wutausbruch auslöste. Aufrufe [1][zur diesjährigen Septemberrevolution]
bringen dieselbe Mixtur zum Vorschein.
Anlass war die Ankündigung von Premierminister François Bayrou, zur
Schließung der eklatanten Haushaltslücken [2][Renten einzufrieren, zwei
Feiertage und Stellen im öffentlichen Dienst zu streichen]. Auch Bayrous
Vorläufer sind parlamentarisch wie auf der Straße schon mehrfach daran
gescheitert, das Renteneintrittsalter zu erhöhen, während Frankreich sich
immer stärker verschuldet und in der Rangliste der Wirtschaftsnationen
zurückfällt. Auch dort meint man, dem begegnen zu können, indem klima- und
umweltpolitische Maßnahmen vertagt werden. Bayrous Flucht nach vorn, kurz
vor den Blockaden [3][die Vertrauensfrage zu stellen], ohne mögliche
Mehrheiten auszuhandeln, zeugt von der gleichen Kompromissfeindlichkeit.
Mitten im August war ausgehend von einem Telegram-Post in den sozialen
Netzwerken eine Unzufriedenheitsblase gewachsen, die das Versprechen abgab,
mit dem Totalstreik könne jeder „die Kontrolle über sein Leben“
wiedererlangen, die ein diffuser Feind (der tiefe Staat, das Establishment,
ein arroganter Präsident, die Gesundheitsmafia, Migrantenclans) an sich
gerissen habe. Womit eben nicht die soziale Ungleichheit, durch den
Klimawandel verstärkte Extremwetter oder andere strukturelle Probleme des
kaum korrigierten Wachstumsdogmas gemeint waren.
## „Souveränistische“ Aversion
In Frankreich kommt immer eine „souveränistische“ Aversion hinzu, die auf
die Europäische Union, multilaterale Politik und bisweilen wieder auf
„outre-Rhin“ (Deutschland) zielt. Das kommt von der anhaltenden Schwäche
eines liberal-demokratischen Zentrums, wo Rechts- und Linksaußen
zusammentreffen.
Wer davon profitieren wird, dürfte klar sein. [4][Das Rassemblement
National] braucht den Aufstand gar nicht für sich zu reklamieren, er ist
ohnehin Wasser auf Le Pens Mühlen. Dass die links-autoritäre „France
insoumise“ Jean-Luc Mélenchons zum „Generalstreik“ aufruft, war zu
erwarten. Das ändert aber nichts am horizontalen Charakter dieser Bewegung,
in der „Antisystem“-Gefühle mit Corona-Unmut eine generelle Paranoia
nähren, die parlamentarisch von den Linksparteien nicht mehr einzufangen
ist.
Und gilt einschließlich der Grünen, die sich dem Manöver Mélenchons
opportunistisch anschlossen, und der Gewerkschaften, die vor einer
Unterwanderung durch Rechtsradikale warnen, ihnen aber auch nichts
entgegenzusetzen haben. Zwei Drittel der Französinnen und Franzosen
befürworten die Blockadebewegung laut Umfragen.
## Eine Bewegung ohne politisches Können
Der Unterschied zu älteren sozialen Bewegungen besteht darin, dass diese
humanistische und libertäre Utopien verfolgten und ein politisches Können
an den Tag legten. Die Zusammenrottung einer individualisierten und
orientierungslosen Masse Unzufriedener zeugt von einem selbstschädlichen
Nihilismus.
Blockiert ist eine Gesellschaft des Weiter-so, die angesichts des auch in
Frankreich virulenten Geburtenrückgangs das Renteneintrittsalter pauschal
senken will, doch über Möglichkeiten einer befriedigenderen Arbeit, gerade
auch für Handwerker und Landwirte, nicht nachdenken mag; die
Sozialleistungen an die unteren zehn Prozent und Einwanderer kürzen will,
aber Vermögen und Erbschaften der oberen Zehntausend nicht antasten mag.
Blockiert ist eine Gesellschaft und Politik, die auf gesellschaftliche
Hitzewellen wie im August mit einem kopflosen Volksaufstand und der
Abdankung der Regierung reagiert. Gefordert ist nun eine Gegenbewegung, die
solche Denk- und Handlungsbremsen entblockiert.
8 Sep 2025
## LINKS
[1] /Heisser-Herbst-in-Frankreich/!6106439
[2] /Harte-Sparplaene-in-Frankreich/!6098164&s=Bayrou/
[3] /Frankreich-Mit-wehenden-Trikoloren-in-den-Abgrund/!6107906
[4] /Nach-Le-Pen-Urteil/!6077648
## AUTOREN
Claus Leggewie
Daniel Cohn-Bendit
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