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# taz.de -- Bürgergesellschaft in der Ukraine: Die zivile Front
> Seit beinahe 1.300 Tagen verteidigt die Ukraine ihr Land und ihre
> Demokratie – auch dank tausender Akteure der Bürgergesellschaft. Wie
> schaffen sie das?
Bild: Sängerin Christina Daletska Anfang September 2025 in Lwiw
Oft war in den vergangenen Monaten von der Kriegsmüdigkeit der ukrainischen
Gesellschaft zu lesen. [1][Und ja, natürlich sind die Menschen in der
Ukraine kriegsmüde]. Aber natürlich machen sie auch weiter, unermüdlich.
Wie Christina Daletska, Dariia Kuzmych und Kseniia Kalmus. Drei Frauen mit
sehr unterschiedlichen Lebenswegen – eins aber haben sie gemein: Der 24.
Februar 2022 hat ihr (Arbeits-)Leben umgekrempelt, seit nunmehr 1.290 Tagen
setzen sie sich dafür ein, dass die Ukraine in diesem Krieg überlebt.
Christina Daletska ist Opernsängerin und hat mehrere hunderttausend Euro
Spenden gesammelt und organisiert unter anderem humanitäre Hilfe. Die
Künstlerin Dariia Kuzmych hilft den versehrten und traumatisierten
Soldat:innen bei der Rückkehr ins zivile Leben. Und Kseniia Kalmus,
eigentlich Floristin und Blumenkünstlerin, baut in einem Souterrain in
Kyjiw mit einem Freiwilligenteam Drohnen.
Es ist ein Kraftakt, den die Frauen, die wir hier vorstellen, tagtäglich
leisten. Denn dies ist ein Krieg, den die ukrainische
Bürger:innengesellschaft mindestens genauso führt wie der Staat: ein
Krieg der Volunteers, der Fundraiser:innen, der Heimwerker:innen.
Zivilgesellschaftliche Akteur:innen unterstützen die ukrainischen
Streitkräfte, helfen Kriegsopfern und Binnenvertriebenen, leisten
humanitäre Hilfe, beteiligen sich an der Rehabilitation der
Kriegsversehrten, unterstützen deren Familien. Das Geld dafür wird oft über
Crowdfunding eingeworben. [2][Als „Fundraising-Krieg“ wurde die
Kriegsführung von ukrainischer Seite auch schon bezeichnet]. Die
Trump-Regierung hat die USAID-Hilfen vielerorts zurückgezogen, dadurch
werden Spendengelder nun noch wichtiger als zuvor.
Dass der Krieg viele Ukrainer:innen aktiviert und mobilisiert hat,
zeigen auch die Zahlen. [3][In den Jahren 2022 und 2023 registrierten sich
6.367 beziehungsweise 4.988 Wohltätigkeitsorganisationen neu; vorher waren
750 pro Jahr das Mittel]. Insgesamt zählt man in der Ukraine mittlerweile
[4][rund 20.000 zivilgesellschaftliche Organisationen].
Freiwilligenorganisationen zählen zu den angesehensten Institutionen des
Landes, mehr als 80 Prozent der ukrainischen Bürger:innen vertrauen
ihnen. Nur die Polizei und die ukrainischen Streitkräfte erreichen höhere
Werte.
Die Zivilgesellschaft unterstützt auch das Militär. Überall im Land sind
kleine Drohnenwerkstätten entstanden, die einen Beitrag dazu geleistet
haben, dass die monatliche [5][Produktion von Drohnen von 20.000 im Sommer
2024 auf über 200.000 im Juli dieses Jahres gestiegen ist].
In einer [6][Untersuchung zur Rolle der Zivilgesellschaft bei der
ukrainischen Verteidigung kommt der Thinktank Sahaidachnyi Security Center]
zu dem Ergebnis, dass „in vielen Brigaden zwischen 30 und 100 Prozent der
kritischen Versorgungsgüter – wie Drohnen, taktische medizinische
Ausrüstung und Schutzausrüstung – von zivilgesellschaftlichen
Organisationen und Freiwilligen“ stammen. Über die Hälfte der
Militärfahrzeuge würden von Freiwilligen beschafft und auch repariert,
heißt es zudem.
Humanitäre Hilfe wird auf sehr unterschiedliche Art und Weise geleistet.
Eine wichtige Aufgabe dürfte in den kommenden Jahren die
Wiedereingliederung der Veteran:innen sein; manche in der Ukraine
sagen, sie stelle die größte Herausforderung dar. Aktuell werden 1,4
Millionen Veteran:innen gezählt, man geht davon aus, dass diese Zahl
noch auf mindestens 4 bis 5 Millionen ansteigen wird.
[7][Mehr als die Hälfte der zivilgesellschaftlichen Organisationen und
Freiwilligeninitiativen kümmern sich in irgendeiner Form um den
Wiederaufbau der Ukraine, zeigt eine Untersuchung]. All diese engagierten
Menschen machen vor, wie man ein demokratisches Gemeinwesen bildet, fördert
und verteidigt.
## Sag mir, wo die Blumen sind
Kseniia Kalmus war Meisterfloristin, hat an Wettbewerben für Blumenkunst
teilgenommen. Nun betreibt sie eine Drohnenwerkstatt. Ihre Geschichte
erzählt viel über den russisch-ukrainischen Krieg.
Kseniia Kalmus betritt das Büro ihrer Werkstatt im Souterrain an einem
geheimen Ort in Kyjiw. In dem Raum stapeln sich Pakete, die Wände sind
kahl, abgesehen vom Banner einer ukrainischen Kampfbrigade. Nebenan
befindet sich eine etwa 30 Quadratmeter große Werkstatt. Kalmus steht vor
ihrem Schreibtisch, sie nimmt zur Hand, was hier produziert wird: eine
FPV-Drohne.
FPV steht für „First Person View“, es sind die ferngesteuerten Drohnen mit
Kamera, die im russisch-ukrainischen Krieg tausendfach eingesetzt werden.
„Hier sitzen die Motoren“, erklärt die 36-Jährige und zeigt auf die vier
Enden eines Kreuzes, das von zwei Metallstreben gebildet wird. „Und hier in
der Mitte wird die Kamera befestigt, sehen Sie, über die Elektronik und
Sensoren wird sie mit der Fernbedienung verbunden.“
Für Kalmus sind Drohnen inzwischen ihr tägliches Geschäft. Vor etwa einem
Jahr hat sie die Werkstatt mit Freiwilligen aufgebaut. Rund 20 Menschen
helfen hier beim Drohnenbau, Student:innen, Rentner:innen, sogar
Schüler:innen, zwischen 15 und 78 Jahren. Für viele verschiedene
Militärbrigaden stellen sie Drohnen her, durchschnittlich etwa 50 pro
Woche, alle Größen: 8 Zoll, 10 Zoll, 13 Zoll.
Die meisten werden als Kamikaze-Drohnen eingesetzt, das heißt, sie tragen
einen Sprengkopf und werden gezielt gesteuert, um feindliche
Soldat:innen anzugreifen und militärisches Gerät, zum Beispiel Panzer,
zu zerstören. Auf ukrainischem, aber auch auf russischem Gebiet.
Russland übersät die Ukraine mit solchen Drohnen, stellt diese in
Massenfabrikation her, wirbt gar Gastarbeiter:innen dafür an. In der
Ukraine gibt es deutlich weniger Drohnenfabriken, dafür mehr kleinere
Hersteller wie die Werkstatt von Kseniia Kalmus.
KLYN Drones nennt sie ihr Produkt, die Werkstatt kommt daher wie ein
Start-up in einem Hobbykeller, Kalmus hat Badges und T-Shirts mit dem Logo
und Namen ihrer Firma gedruckt. Das Projekt ist komplett spendenfinanziert.
Die meisten Teile für ihre Drohnen kommen aus ukrainischer Herstellung. Die
Mitarbeiter:innen arbeiten hier überwiegend freiwillig und unbezahlt.
Wie Kseniia Kalmus in diese zur Werkstatt umgebauten Souterrainräume
gekommen ist, erzählt viel über den russisch-ukrainischen Krieg. Kalmus
stammt aus Dnipro, sie hat einen Abschluss in Management und Wirtschaft
gemacht und einen Meistertitel in Floristik. Bis zum 24. Februar 2022 hat
sie als Blumenbinderin und -künstlerin gearbeitet.
In der Ukraine hat sie einen Wettbewerb für Blumenkunst gewonnen, noch nach
Beginn des russischen Angriffskriegs hat sie ihr Land im Mai 2022 bei einem
internationalen Wettbewerb in Italien vertreten und den dritten Platz
belegt – „Licht am Ende des Tunnels“ sei das Thema gewesen, sagt sie. In
ihre Arbeit hat sie verbrannte und verkohlte Äste aus einem der kurzzeitig
besetzten Dörfer der Region Kyjiw integriert. Schäden des Kriegs.
Doch eigentlich beginnt Kalmus direkt nach Beginn der vollumfänglichen
Invasion als Freiwillige zu arbeiten. „Es war nicht mehr die richtige Zeit
für Blumen“, sagt sie und klingt dabei sarkastisch. Sie schließt sich mit
anderen Volunteers zusammen, liefert humanitäre Hilfsgüter in die
Ostukraine. Als sie die Zerstörung dort sieht, will sie mehr tun – und den
Wiederaufbau mitorganisieren.
Anfang Mai 2022 gründet sie zusammen mit zwei Freunden eine
Wohltätigkeitsorganisation, die etwa 400 Häuser neu deckt, drei Schulen
teilweise wiederaufbaut. Immer wieder seien sie in das Dorf Slatyne bei
Charkiw gefahren, um dort beim Wiederaufbau anzupacken. „Eines Tages im Mai
2024 rief ich den Dorfvorsteher an und teilte ihm mit, dass ich nun das
Metall für 30 weitere Häuser bezahlen wolle, das kurz danach geliefert
werden könne. Daraufhin antwortete er: ‚Bitte hören Sie auf.
Es hat keinen Sinn mehr, wieder aufzubauen. Das ist zu riskant.‘“ Die
Russen hatten das Dorf wieder angegriffen und zerbombt. Später fährt Kalmus
selbst nach Slatyne, schaut sich die neuerliche Zerstörung an. „Ich habe
geweint, als ich das gesehen habe.“ Sie zeigt auf dem Handy ein Video mit
völlig zerstörten Häusern.
Kalmus redet schnell, sie sitzt in rotem Kleid und schwarzem Oberteil
hinter dem Schreibtisch, die exemplarische Drohne die ganze Zeit vor sich.
Eine Freiwillige kommt ins Büro, sie tritt ihren Dienst an, überreicht
Kalmus ein Paket, das gerade angekommen ist. Absender: eine ukrainische
Brigade. „Ah, wahrscheinlich ein Dankeschön-Paket“, sagt sie und stellt es
zur Seite. „Manchmal schicken sie uns T-Shirts oder Flaggen ihrer Brigaden,
um sich für die Lieferungen zu bedanken.“
Nach dem schrecklichen Erlebnis in dem Dorf habe sie gedacht: „Die Russen
waren der Grund, warum ich aufgehört habe, Blumen zu binden. Dann haben sie
die Häuser zerstört, die wir gedeckt hatten.“ Sie habe überlegt, was sie
nun tun könne. Und sei zu dem Schluss gekommen: „Ich will wirklichen
Widerstand leisten. Etwas tun, damit die Russen gestoppt werden.“
Im Sommer 2024 lässt sie sich professionell ausbilden, lernt an einer
Schule für Ingenieurwesen und Piloten Drohnen zu steuern und zu bauen.
Zusammensetzen, schrauben, löten. Nachdem sie die Ausbildung beendet hat,
baut sie ein neues Team auf, mietet den Werkstattraum an.
„Ich bin eine Macherin“, sagt Kseniia Kalmus. „Sagen kann man immer viel;
was zählt, ist das Handeln.“ Und sie erzählt, wie eine ihrer Drohnen einen
russischen Panzer im Wert von 4 Millionen Euro zerstört habe.
„Uns kostet das Material nur 360 Euro“, sagt sie und hebt die Drohne vor
ihr in die Luft. Es gibt einige solcher Fälle, ukrainische Drohnen haben
auch schon russische Artillerieaufklärungsradare zerstört, deren
geschätzter Wert 21 Millionen Euro war. „Jede Drohne zählt“, sagt Kalmus.
Sie grinst herausfordernd und reißt die Augen dabei weit auf. Als wolle sie
sagen: Diesmal werden die Russen nicht kaputt machen, was ich mir aufgebaut
habe.
## Mezzosopran für Menschenrechte
Wenn Christina Daletska nicht auf der Bühne steht, sammelt sie Spenden für
die Ukraine. Das gefällt nicht jedem.
Kölner Philharmonie, ein Abend im Mai 2025. Nach dem Ende des Konzerts
stellt sich die Sängerin Christina Daletska an eine der Saaltüren. Eine
gelb-blaue Fahne liegt über ihren Schultern, in der Hand hält sie eine
Sammelbox. „#peaceforukraine“ steht darauf. Sie bittet um Spenden für
lebensrettende Medikamente.
Nach dreieinhalb Jahren Krieg sei die Spendenbereitschaft deutlich
gesunken, sagt sie: „Zu Beginn des Kriegs haben wir an einem Abend oft
5.000 Euro oder mehr gesammelt, heute sind wir froh, wenn es noch ein
Drittel ist.“
Von den Szenen des Konzertabends in Köln berichtet Christina Daletska im
Videogespräch aus der Schweiz. Die 40-jährige Sängerin stammt aus Lwiw,
lebt aber schon seit über zwanzig Jahren im deutschen Nachbarland, derzeit
im Kanton St. Gallen. Daletska ist eine gefeierte Mezzosopranistin mit
einer wandlungsfähigen, drei Oktaven umfassenden Stimme.
Sie tritt in den großen Häusern Europas auf: in den Philharmonien von Paris
und Berlin, am Teatro Real in Madrid, im Wiener Konzerthaus. Und fast
immer, wenn sie nicht auf der Bühne steht, kämpft sie für ihr Heimatland –
als Organisatorin, Netzwerkerin, Fundraiserin. Seit Beginn des russischen
Großangriffs sei sie „eher im zweiten Beruf Musikerin“, sagt sie. Für ihr…
Sängerinnenberuf wende sie jedenfalls weniger Zeit auf als für die
Ukraine-Hilfe.
Musik und Menschenrechte sind seit Kindheits- und Jugendjahren ihre Themen.
Als sie vier ist, lernt Christina Daletska Geige. Ihre Mutter ist
Musikerin, sie fördert ihre Tochter. Als Jugendliche entdeckt sie ihre
Leidenschaft fürs Singen. „Dass ich einmal Sängerin werden will, ist mir
seit meinem 15. Lebensjahr klar“, sagt sie, „in dem Alter habe ich bei
Aufführungen im Elternhaus schon Verdis ‚Aida‘ und Puccinis ‚Tosca‘
gesungen.“
Im Jahr 2003 – da ist sie 18 – geht sie in die Schweiz, um Geige zu
studieren. Das Studium bricht sie nach zwei Semestern ab und konzentriert
sich auf den Gesang. Ihren Durchbruch hat sie mit 24 Jahren, als sie
Beethovens „Missa solemnis“ in der Tonhalle Zürich singt. „Für mich ist
Beethoven der Menschenrechtskomponist schlechthin“, sagt sie, „denken wir
nur an ‚Ode an die Freude‘ und Schillers Verse ‚Seid umschlungen,
Millionen‘!“
Für Menschenrechte setzt sich Daletska in der Schweiz auch im Alltag ein:
2013 wird sie Botschafterin von Amnesty International. Ihren Aktivismus
will sie nun in den Kosmos der klassischen Musik tragen, spricht in ihrem
Berufsleben die gesellschaftliche Polarisierung, Krisen und Kriege an –
auch, als Russland 2014 den Krieg in der Ostukraine anzettelt. „Damals
haben mich manche gefragt, ob ich nicht etwas übertriebe, wenn ich da von
‚Krieg‘ sprechen würde“, sagt sie.
Während des Gesprächs macht Daletska häufiger eine Geste, bei der sie die
Finger ineinander verschränkt. Alles muss ineinandergreifen, will sie damit
zeigen. Es soll wohl auch ein Symbol sein für ihr europaweites Netzwerk an
Helfer:innen, das sie für die Ukraine-Hilfe aufgebaut hat.
Gemeinsam organisieren sie unter anderem Transporte für Generatoren,
Medikamente, Drohnen, Tourniquets – lebenswichtige Materialien für Menschen
im Kriegsgebiet –, oder sie kaufen Geländewagen für die Rettungskräfte an.
Einer ihrer freiwilligen Kollegen ist der ehemalige Schweizer
Grünen-Politiker Urban Frye. Er hatte seine Partei verlassen, weil sie die
Militärhilfen an die Ukraine nicht unterstützt hatte.
In ihrer Branche sei ihr Engagement inzwischen oft nicht mehr erwünscht,
sagt Christina Daletska. Sie ist als Sängerin selbstständig, schließt
Verträge mit Ensembles und Opernhäusern – und diese hätten in jüngster Ze…
vermehrt verlangt, auf Friedensbotschaften und Aufrufe zu verzichten.
Möglicherweise, weil sie russische Firmen als Sponsoren nicht verschrecken
wollten. Das Orchestra della Svizzera Italiana in Lugano schrieb ihr
kürzlich in den Vertrag, politische Gesten und Aktivitäten „on or off
stage“ seien untersagt. Ein andermal sei ihr die Begründung genannt worden,
man wolle die russischen Konzertbesucher:innen nicht verärgern.
Daletska zählt weitere Fälle auf und sagt: „Ich mache mich in meinem
Berufsleben gerade nicht beliebt.“
Sie arbeitet weiter mit russischen Künstler:innen zusammen – wenn sie
sich eindeutig gegen Putin aussprechen. Beispielsweise mit dem
russisch-schweizerischen Schriftsteller Michail Schischkin oder dem aus
Moskau stammenden Komponisten Sergej Newski, der das Stück „Göttin der
Geschichte“ für sie geschrieben hat.
Es basiert auf dem Gedicht „Der Asow-Feldzug“ des litauischen Dichters
Tomas Venclova – einem imposanten Stück Anti-Kriegs-Lyrik. Mit
Künstlerinnen wie Anna Netrebko würde Daletska nie kollaborieren. „Jede
Person, die sich als Russin oder Russe bezeichnet, muss sich klar
positionieren“, sagt sie.
„Sich unpolitisch zu geben, während das eigene Land schlimmste
Menschenrechtsverbrechen begeht, ist für mich keine legitime Haltung.“
Menschenrechte und Politik seien nicht dasselbe, sagt sie immer wieder. „Um
das zu begreifen, muss man sich nur vorstellen, dass die Bomben auf das
eigene Zuhause, die eigene Familie oder die eigenen Freunde fallen.“
Daletska will weiter Spenden sammeln, Hilfsgüter beschaffen, trotz aller
Rückschläge. „Ich erlebe oft harte Momente“, sagt sie. „Für einen
Bekannten, der gerade eingezogen worden war, haben wir eine Schutzweste und
einen Helm organisiert. Als das Material unterwegs zu ihm war, erfuhr ich,
dass er ein Bein verloren hat – in seinem zweiten Einsatz.“
In diesen Tagen hält sich Daletska in ihrer Heimatstadt Lwiw auf. Dort
arbeitet sie als Freiwillige in einem Rehazentrum für kriegstraumatisierte
Menschen mit Suchtproblemen.
## Vom Krieg gezeichnet
Die Künstlerin Dariia Kuzmych gibt in Kyjiw und Lwiw Kurse für ehemalige
Soldat:innen, um deren Lebenszufriedenheit zu steigern.
Ein sonniger Morgen in Kyjiw. Nördlich der Altstadt hat die ukrainische
Künstlerin Dariia Kuzmych ihren Arbeitsraum in einer Garage auf einem
weitläufigen Gelände, auf dem einst eine Brauerei war. Kuzmych hat zwei
Stühle vor ihr Atelier gestellt, bereitet Kaffee zu. Die 34-Jährige
betreibt ein Kunstprojekt mit Kriegsversehrten.
In Krankenhäusern in Kyjiw und Lwiw hat sie vergangenes und dieses Jahr
gemeinsam mit der Psychologin Nikoletta Yurets Kurse für jeweils rund zehn
Veteranen gegeben. Sie sind im Kampfeinsatz verwundet worden, haben zum
Beispiel ihre Gliedmaßen verloren oder leiden unter den psychischen Folgen
des Kriegs.
„Nach so einer intensiven und brutalen Erfahrung ins zivile Leben
zurückzufinden, ist sehr schwer“, sagt Dariia Kuzmych. „Viele können ihren
früheren Job nicht mehr ausüben. Nicht nur, weil sie körperlich oder
psychisch dazu nicht mehr in der Lage sind, sondern auch, weil es ein Teil
ihres ‚alten‘ Lebens ist, in das sie nicht zurückkönnen, weil sie und die
Umstände sich verändert haben.“
Dariia Kuzmych ist eine bildende Künstlerin aus Kyjiw, die bereits in
vielen verschiedenen europäischen Städten ausgestellt hat. Kuzmych wird
1991 in Kyjiw geboren, sie studiert von Ende der Nullerjahre an zunächst
Malerei in ihrer Heimatstadt, von 2015 an experimentelle Film- und
Medienkunst an der Universität der Künste in Berlin. Dort macht sie 2021
ihren Master, zu dieser Zeit lebt sie in der deutschen Hauptstadt und in
Wien.
Seit Herbst 2022 – einem halben Jahr nach Beginn des russischen
Angriffskriegs gegen die Ukraine – lebt und arbeitet sie wieder überwiegend
in Kyjiw. „Ich konnte es nicht mehr aushalten, in Wien oder Berlin zu
sitzen. Ich musste eine Form der Arbeit finden, die mit der Kriegsrealität
in Verbindung steht“, sagt sie.
Zurück in der ukrainischen Hauptstadt konzipiert sie ein Programm, bei dem
Veteranen sich über künstlerische Arbeit mit dem Erlebten
auseinandersetzen. Kuzmych weiß, wie es ist, mit einer Behinderung zu
leben: Als junge Erwachsene hatte sie 2010 einen Verkehrsunfall, bei dem
ihr Bein zunächst amputiert werden sollte. Nach vielen Operationen bekam
sie vor einigen Jahren schließlich eine Knieendoprothese, ein künstliches
Kniegelenk.
Bislang hat Kuzmych ihre Kurse in den Krankenhäusern Feofania in Kyjiw und
Unbroken in Lwiw gegeben. Gemeinsam mit der Psychologin Nikoletta Yurets
führte sie zunächst Vorgespräche mit den Patienten, beide Kurse bestanden
dann aus zwei bis drei Einheiten, jeweils zwei Stunden lang. Die Arbeit in
den Krankenhäusern hat Kuzmych als Freiwillige geleistet. Zu Beginn des
Programms habe es eine Förderung von über 5.000 Euro seitens des
österreichischen Programms Documenting Ukraine gegeben, die sei aber
größtenteils für Materialien, Organisation und Fahrtkosten verwendet
worden.
Kuzmych will über die Kunstgeschichte mit den Teilnehmenden ins Gespräch
über Beeinträchtigungen und die medizinische Behandlung kommen. Eingangs
zeige sie den Teilnehmenden Bilder und Fotos, die Menschen mit Behinderung
abbilden, „oft aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg“.
Heinrich Zilles Zeichnungen von Kriegsversehrten mit Holzbein verwende sie
genauso wie das Bild „Sterbende Soldaten“ von Otto Dix. „Anschließend
sprechen wir mit den Patienten zum Beispiel darüber, wie die
Prothesentechnologien sich im Zusammenhang mit den Kriegen entwickelt haben
und wie sich die Wahrnehmung des menschlichen Körpers in der Gesellschaft
verändert hat“, sagt sie. Die Diskussionen begleitet die Psychologin
Yurets. Sie dienen als Grundlage für den praktischen Teil, in dem die
Teilnehmenden selbst Tuschebilder und Aquarelle sowie Collagen aus Papier,
Zeitungen und Fotofragmenten anfertigen.
Kuzmych betritt nun ihr Atelier, das hell und etwa 30 Quadratmeter groß
ist. Sie zeigt einige A3- bis A4-formatige Bilder und Collagen der
Teilnehmenden, die auf einem großen Tisch liegen. „Oft sind Werke
entstanden, in denen sich die Veteranen mit Kriegsszenen auseinandergesetzt
haben“, erklärt sie.
Eine Skizze zeigt etwa einen vor einer Kunstleinwand sitzenden Mann mit
vier Beinprothesen, die an ihren Enden spitz zulaufen wie Schwerter oder
Messer. Darüber liegt ein abstraktes Bild in Tarnfarben mit zackigem
Pinselstrich und zwei Gesichtern, die hinter geschwungenen Linien
verschwinden. Gäste oder Journalisten hat Kuzmych bei den Kursen bislang
nicht zugelassen, weil nicht alle Teilnehmenden damit einverstanden gewesen
seien und unter sich bleiben wollten.
Kuzmych sieht die Kurse eher als Kunstseminare, weniger als
kunsttherapeutische Projekte. Es gehe darum, neue Kenntnisse zu erwerben,
andere Perspektiven einzunehmen, Reflexion zu ermöglichen – damit dann auch
hoffentlich die Lebenszufriedenheit bei den Veteranen steige. „Die
künstlerischen Arbeiten werden auch nicht interpretiert, wir ziehen daraus
keine Schlüsse über das Befinden der Person, wie es zum Teil in der
Kunsttherapie der Fall ist.“
Die Auswirkungen der Kriegserlebnisse auf die Psyche seien sehr
individuell, sagt die Künstlerin. Einer der Teilnehmenden war in Bachmut
und an anderen heftig umkämpften Frontabschnitten im Einsatz, habe viele
Kamerad:innen verloren.
„Er ist oft aggressiv geworden, das ist eine mögliche Folge der
Traumaerfahrung. Er brauchte einfach eine Weile Ruhe.“ Viele Teilnehmende
hätten Schädel-Hirn-Traumata während des Kriegs erlitten, seien davon
gezeichnet.
Die ehemaligen Soldat:innen litten auch unter einem Umfeld, das nicht
immer angemessen auf sie reagiert, sagt Kuzmych. „Menschen mit sichtbaren
Folgen der Kriegseinsätze, wie fehlenden Gliedmaßen oder vernarbten
Gesichtern, hören oft unsensible Kommentare“, sagt sie.
In ihren alten Alltag können sie nicht zurück, ihnen fehlt eine Aufgabe.
„Viele wollen zurück an die Front, sogar mit Prothesen. Die existenzielle
Gefahr für das eigene Land wiegt für sie oft höher als das Kurieren der
Verwundung“, sagt Kuzmych.
Für die ferne Zukunft denkt Dariia Kuzmych über eine Ausstellung mit den
Bildern der Veteranen nach. Als nächstes reist sie im Oktober aber erst
einmal nach Iwano-Frankiwsk, wo ein weiterer Kurs geplant ist.
8 Sep 2025
## LINKS
[1] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!6105868
[2] /Roman-ueber-Ukraine-Krieg/!6095417
[3] https://ednannia.ua/images/Procurements/Civil_Society_in_Ukraine_in_the_Con…
[4] https://www.eeas.europa.eu/sites/default/files/roadmap_for_cs.pdf
[5] https://www.kyivpost.com/post/55897
[6] https://sahasec.org/wp-content/uploads/2025/06/Civil-Society-Role_A5_Web-1.…
[7] https://www.chathamhouse.org/sites/default/files/2024-06/2024-06-05-ukraine…
## AUTOREN
Jens Uthoff
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