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# taz.de -- Ukrainischer Historiker über Selenskyj: „Die Ukraine kauft Zeit …
> Europa muss die Ukraine als Lösung ansehen, nicht als Problem, sagt
> Jaroslaw Hrytsak. Selenskyj hält er für einen Populisten mit
> „menschlichem Antlitz“.
Bild: Russische Panzer zu Fitnessgeräten: Ein Mann macht Klimmzüge an einem v…
taz: Herr Hrytsak, laut Kreml-Propaganda ist in Kyjiw eine faschistische
Junta an der Macht, und Moskau will die Ukraine entnazifizieren. Auch in
Deutschland gibt es nicht wenige, die meinen, extreme nationalistische
Kräfte wie der Rechte Sektor oder die Partei Swoboda seien in der Ukraine
sehr einflussreich. Wie sehen Sie das?
Jaroslaw Hrytsak: Ich würde vorschlagen, dass sich diese Leute mehr auf
Deutschland konzentrieren sollten. Doch davon abgesehen: Auch wir haben
Nationalisten und Faschisten in der Ukraine, aber ihre Wirkung auf die
Politik ist sehr begrenzt, sie sind marginalisiert. Bei uns gibt es andere
Bedrohungen.
taz: Welche sind das – außer dem russischen Angriffskrieg?
Hrytsak: Viele Menschen sind traumatisiert, sie sind extrem wütend, wie das
Land regiert wird und wie es an der Front läuft. Sie haben Waffen und
könnten Unruhe stiften. Es gibt so einige Gräben innerhalb des Landes –
zwischen denen, die in der Armee dienen und denen, die sich dem
Militärdienst entzogen haben. Und zwischen denen, die in der Ukraine
geblieben sind und denen, die sie verlassen haben. Das sind die neuen
Gräben, mit denen wir es jetzt zu tun haben.
taz: Der [1][Nationalist Stepan Bandera], der im Zweiten Weltkrieg den
Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) anführte, mit der
Wehrmacht paktierte und für Pogrome verantwortlich war, ist für viele in
der Ukraine ein Idol. Ist das ein Zeichen für einen grassierenden
Faschismus im Land?
Hrytsak: Das ist russische Propaganda. Bandera genießt eine gewisse
Popularität. Aber nicht als Nationalist, Judenhasser oder Killer von Polen.
Heute hat er eine Bedeutung als eines Symbols des Widerstandes gegen
Russland. Aber das ist weit davon entfernt, faschistisch zu sein.
taz: Warum hält sich dieses Narrativ so hartnäckig?
Hrytsak: Es ist hart, Stereotype zu überwinden, die jahrzehntelang von den
Russen propagiert wurden. Ich bestreite nicht, dass ukrainische
Nationalisten xenophob waren und sind – genauso wenig wie, dass Ukrainer am
Holocaust beteiligt waren. Die Geschichte ist komplex. Wenn du glaubst,
etwas über die Ukraine zu wissen: Überlege zweimal.
taz: Wie regiert Präsident Wolodymyr Selenskyj die Ukraine?
Hrytsak: Es gibt Höhen und Tiefen, mal gut, mal schlecht. Die Geschichte
wird ihn beurteilen. Für viele Dinge muss ich ihm Anerkennung zollen. Es
gibt wohl kaum jemanden, der über drei Jahre täglich 24 Stunden gearbeitet
hat. Seine Energie ist unglaublich. Er vertritt die Ukraine sehr gut im
Ausland, denn er ist eine charismatische Figur. Das hilft sehr, weil die
internationalen Beziehungen eine sehr große Rolle spielen. Nur mit der
Unterstützung aus dem eigenen Land hätten wir diesen Krieg nicht bis jetzt
durchhalten können. Gleichzeitig fürchte ich jedoch, dass Selenskyj in die
Gorbatschow-Falle tappt.
taz: Was meinen Sie damit genau?
Hrytsak: Gorbatschow war im Westen sehr populär, verlor aber im eigenen
Land immer mehr an Zustimmung. Das ist auch bei Selenskyj so.
taz: Was sind die Gründe dafür?
Hrytsak: Ukrainer messen eine Person an den Ergebnissen. Und da kann
Selenskyj im Inland kaum Erfolgsgeschichten liefern. Er hat bei der
[2][Justizreform] versagt, der wichtigsten Reform in der Ukraine. Die
Gegenoffensive 2023 ist gescheitert. Auch die Mobilisierung war in großen
Teilen ein Flop. Und die entscheidende Frage ist doch jetzt, wie wir mehr
Manpower an die Front bekommen. Übrigens: In gewisser Weise sind sich
Selenskyj und Trump ähnlich.
taz: Inwiefern?
Hrytsak: Beide sind Populisten. Doch im Gegensatz zu Trump ist Selenskyj
einer mit menschlichem Antlitz. Und wie Trump stellt Selenskyj seine
Mannschaft nach dem Kriterium persönlicher Loyalität zusammen. Und das,
obwohl wir in der Ukraine viele hervorragende Experten haben, die aber dem
Team nicht angehören. Das ist ein großer Fehler und besonders in
Friedenszeiten sehr gefährlich. Ich glaube nicht, dass Selenskyj ein guter
Präsident der Ukraine für die Zeit nach dem Krieg wäre. Er hat keine
Strategie für den Transformationsprozess des Landes.
taz: Wie sehen Sie das heutige Russland? Manche bezeichnen das System, das
Wladimir Putin als Präsident errichtet hat, als faschistisch. Sie auch?
Hrytsak: Vor dem Krieg 2022 hatte ich eine Diskussion mit russischen
Oppositionellen. Sie bezeichnen das Putin-Regime als faschistisch. Damals
habe ich widersprochen. Heute muss ich jedoch sagen, dass ich falsch
gelegen habe.
taz: Manche sprechen von „Raschismus“ – einer russischem Spielart des
Faschismus. Wie würden Sie diesen Begriff definieren?
Hrytsak: Ein Kriterium für Faschismus ist, wenn der Staat alles
kontrollieren will und es keine Privatsphäre mehr gibt. In Russland ist die
LGBTQ+-Community als extremistisch gelabelt. Da soll also auch noch
kontrolliert werden, was die Leute in ihren Betten tun. Aber ich möchte das
noch an einem anderen Beispiel illustrieren. Vor ein, zwei Jahren haben
sich russische Intellektuelle eine Provokation einfallen lassen und einige
Werke von Nazidichtern aus den 40er Jahren übersetzt. Hitler wurde durch
Putin, Deutschland durch Russland ersetzt. Diese Gedichte wurde in Russland
sehr populär und sogar mit einigen Preisen ausgezeichnet. Wir haben es mit
der gleichen Sprache zu tun. Deshalb trifft der Begriff Raschismus zu.
taz: Welche Ziele verfolgt der Kreml mit seinem [3][Krieg in der Ukraine]?
Hrytsak: Die Ukraine als Nation auszulöschen und als eigenständigen Staat
von der Landkarte zu tilgen. Deshalb haben wir es nicht mit einem simplen
Krieg zu tun. Es geht nicht vor allem um Territorien, sondern um die
Existenz der Ukraine. Derartige Absichten Moskaus waren bereits 2008 nach
dem russisch-georgischen Krieg ein offenes Geheimnis: Sollte sich die
Ukraine weiter dem Westen zuwenden, würde sie mit einer vollumfänglichen
Invasion bestraft. Das hielten viele damals für absolut unrealistisch.
Aktuell liegt der Plan einer Dreiteilung der Ukraine auf dem Tisch, der
noch vor dem Maidan 2013/14 auftauchte. Teile des Ostens und Südens der
Ukraine, darunter Mariupol und Odessa, annektiert Russland, nebst den
industriellen Zentren Charkiw und Dnipro. In der Zentralukraine wird ein
Marionettenregime installiert, das dem Kreml gegenüber absolut loyal ist.
Den Westen, für Putin toxische Gebiete, können wahlweise Polen, Ungarn oder
Rumänien unter sich aufteilen.
taz: Der Kreml zeigt sich bislang nicht bereit, von seinen
Maximalforderungen abzuweichen. Machen Friedensverhandlungen da überhaupt
Sinn?
Hrytsak: Ohne Zweifel, es gibt ja bereits einige Resultate, wie den
Austausch von Gefangenen. Aber wir wissen doch, dass Putin nur eine Sprache
versteht, und das ist die Sprache der Stärke. Wenn ihm genug Stärke und
Widerstand entgegengesetzt würden, würde er vielleicht aufhören. Aber
bislang sieht Putin diesen Widerstand nicht. Demgegenüber ist die Ukraine
erschöpft und die Unterstützung des Westens geschwächt. Warum sollte Putin
den Krieg beenden? Nein, es bräuchte mehr Militärhilfe, um stärkeren Druck
auf den Kreml auszuüben. Es scheint jedoch, dass der Westen dazu weder in
die Lage noch willens ist.
taz: Woran hakt es?
Hrytsak: Allem voran an Donald Trump. Er ist dabei, diese Bühne zu
verlassen, das ist nicht sein Krieg. Und die Frage ist, ob Europa die USA
in Sachen Militärhilfe ersetzen kann. Ich möchte hier einen Satz aus dem
Buch des britischen Historikers A. J. P. Taylor über die Revolution von
1848 zitieren. Auf Deutschland bezogen sprach er von einem Wendepunkt, an
dem sich die Geschichte eben nicht gewendet hat. Das passt doch zur
Zeitenwende von Ex-Kanzler Scholz: auch aus der folgte nichts. Nun gut, wir
haben die Koalition der Willigen. Nur wissen wir nicht, wie stark sie
wirklich ist.
taz: Was erwarten Sie von Scholz’ Nachfolger Friedrich Merz?
Hrytsak: Für die Ukraine ist Deutschland das wichtigste Land in Europa.
Deshalb ruhen die Hoffnungen vieler Ukrainer*innen auf dem neuen
Bundeskanzler. Inwieweit er etwas erreichen kann, wissen wir nicht. Alles
ist unsicher, aber wir werden weiter kämpfen, die Ukrainer*innen sind
nicht bereit zu kapitulieren. Sie wollen Frieden, aber das heißt vor allem
auch Sicherheitsgarantien. Denn sie wissen genau, dass ohne diese Garantien
alles in einem oder zwei Jahren wieder losgeht.
taz: Haben Sie eine Botschaft an westliche Politiker? Und wenn ja, welche?
Hrytsak: Wenn Sie Putin stoppen wollen, bereiten Sie sich auf den Krieg
vor. Der einzige Weg, um den Frieden in Europa zu bewahren, ist,
militärisch stark zu sein. Die Ukraine kauft Zeit für Europa, um sich auf
diese Gegebenheiten einzustellen. Das ist die erste Botschaft. Die zweite
lautet: Sehen Sie in diesem Sinne die Ukraine nicht als Problem, sondern
als Lösung.
taz: Sie haben zahlreiche Bücher geschrieben, viele sind in andere Sprachen
übersetzt worden. Haben Sie manchmal das Gefühl, nicht gehört zu werden?
Hrytsak: Das ist die traurige Realität. Niemand hört auf Historiker und
ihre Warnungen – so lange, bis dann eine Krise kommt. Wenn sie da dann ist,
sagen sie: Die Historiker hatten recht. Aber es braucht erst eine Krise, um
zu verstehen, dass die Geschichte wichtig ist und was sie uns erzählt.
2 Sep 2025
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## AUTOREN
Barbara Oertel
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