# taz.de -- Kunst aus der Sprühdose: Wie aufgeladen ein gesprühter Strich sei… | |
> Die Ausstellung „Graffiti“ im Museion Bozen folgt den Verbindungen von | |
> Sprühfarbe, Kunst und öffentlichem Raum und entdeckt unbekannte | |
> Pionierinnen. | |
Bild: KAYA (Kerstin Brätsch & Debo Eilers), „Swarm Living is for Bodybag ONI… | |
Fsschhhhhh… – so klingt der längere, gleichmäßige Strahl einer Sprühdos… | |
Sprühfarbe verfügt über außergewöhnliche Eigenschaften. Das Treibgas | |
zerstäubt den Lack zu einem feinen Nebel, der eine glatte, nahezu | |
streifenfreie Oberfläche erzeugt – und das bei hoher Deckkraft. Die Farbe | |
haftet auf nahezu allen Materialien. | |
Bereits in den 1920er Jahren setzte General Motors serienmäßig die | |
Spritzlackierung ein, die mit einer Druckluftpistole aufgetragen wurde. Die | |
Farbe trocknete in weniger als zwei Stunden auf den Karosserien, was einen | |
enormen Produktivitätsschub gegenüber den deutlich langsamer trocknenden | |
Öllacken brachte. Diese industrielle Innovation wurde zu einem wichtigen | |
Medium auch für Künstler:innen. Die Ausstellung „Graffiti“ im Museion in | |
Bozen betrachtet die Aneignung der Sprühfarbe aus der Perspektive der | |
bildenden Kunst. | |
Hedda Sterne ist eine Pionierin unter den 60 Künstler:innen der Schau. | |
Ihr 1955 entstandenes, titelloses Leinwandbild zeigt ein Geflecht aus | |
geometrischen und organischen Linien in Rot-, Grün- und Schwarztönen – eine | |
Vedute von New York, in der Brücken und Gerüste das urbane Gefüge formen. | |
Noch bevor die Stadt selbst zur kolossalen Leinwand für | |
Graffitikünstler:innen wurde, porträtierte Sterne sie in Sprühfarben | |
und erweiterte so das gestisch-emotionale Vokabular des Abstrakten | |
Expressionismus um eine Technik ohne Pinsel, ohne direkte Berührung der | |
Leinwand. | |
Auch Charlotte Posenenske verwendete Sprühfarbe. Und sie nahm damit den | |
subjektiven Gestus in der Malerei konsequent zurück. Ihre in Bozen zu | |
sehende, titellose Papierarbeit aus den Jahren 1965 und 1966 entstand | |
mithilfe einer Sprühpistole, blaue und rote Streifen setzte Posenenske | |
damit auf weißem Grund. Die weichen Farbverläufe, durchzogen von feinem | |
Sprühnebel, erzeugen an den Überlappungen violette Töne und eine körnige | |
Oberfläche. | |
## Der Charakter industrieller Produkte | |
Damit formulierte Posenenske bereits ihr Anliegen, variable, einfache und | |
reproduzierbare Kunstwerke zu schaffen, die den objektiven Charakter | |
industrieller Produkte besitzen, wie es [1][bei ihren bekannten | |
Vierkantrohren] besonders deutlich wird. Ihre unpersönliche Kunst ist ein | |
Gegenentwurf zu Individualismus und Geniekult, 1968 sollte Posenenske den | |
Kunstbetrieb verlassen und sich fortan einem Soziologiestudium und sozialen | |
Projekten widmen. | |
Nicht weit von Posenenskes gesprühten Streifen wird in der Ausstellung eine | |
völlig gegensätzliche Bildlogik sichtbar. Denn hier tritt der | |
Künstler:innenname in monumentalen Buchstaben hervor, die aussehen wie | |
der genietete Stahl einer Eisenbahnbrücke: Blade. Ab Mitte der 1970er Jahre | |
hatte der Graffitikünstler in New York City Züge mit diesem Alias | |
großformatig besprüht. Mit seiner ausgestellten Arbeit „Infinitive | |
Paradise“ von 1984 übertrug Blade die Ästhetik der Straße auf die Leinwand | |
– und in die weißen Säle der Galerie. | |
Denn während in den 1980ern die Metropolitan Transportation Authority | |
Graffiti aus dem Stadtraum entfernte, fanden sie nunmehr Eingang in den | |
Kunstbetrieb. Mit Blades Ego-Lettern beginnt auch in der Bozener | |
Ausstellung der Abschnitt „Painting Graffiti“ mit Leinwandarbeiten von | |
zentralen [2][Protagonist:innen der New Yorker Graffiti-Szene]. Daze, | |
Futura 2000, Quik, Lee Quiñones, Rammellzee, Seen, Dondi White und Zephyr | |
sind hier versammelt. Und die New Yorker [3][Kultfigur Keith Haring]. | |
## Christenkreuze als Waffe | |
Harings wandfüllendes Bild sieht mit seinen knalligen Farben auf gelbem | |
Grund nur auf dem ersten Blick heiter aus: Harings charakteristische | |
Umrissmännchen werden darauf von Christenkreuzen aufgespießt oder hauen mit | |
Schlagstöcken bemannt auf einen riesigen Picasso-artigen Stier ein. | |
Einmal in der Galerie ausgestellt, wandelte sich die Kunst der Graffiti. | |
Schließlich musste sie hier nicht mehr in den Wettstreit um die wenigen | |
Flächen auf der Straße treten, aus Sicherheitsgründen in Eile und anonym | |
angefertigt werden oder die Dimensionen der gesprühten Bilder an den | |
Flächen der Züge orientieren. Das sieht man in dieser Ausstellung. | |
Man sieht aber auch – und das ist die interessante These dieser Schau – wie | |
eine in die Galerien eingekehrte Graffitikunst in den 1980er Jahren die | |
bildende Kunst veränderte – von Malerei über Skulptur bis hin zur | |
Performance. Die Sprühfarbe, die zunächst ab den 1950ern die malerische | |
Geste entpersönlichen sollte, erhielt nunmehr durch das Graffito eine | |
widerständige, subversive Konnotation und machte zuweilen auch etwas | |
Gesellschaftliches sichtbar, das sich sonst im öffentlichen Raum austrägt. | |
Heike-Karin Föll etwa sprüht eine einfache schwarze Linie auf weißem Grund | |
und fragt dabei, wie genderspezifisch schon solch ein minimaler Tag | |
aufgeladen sein kann. Und Maggie Lee überlegt mit einer simpel gesprayten | |
Linie auf der Treppenbrüstung, was die sozialen Grenzen zwischen Hoch- und | |
Subkultur sein können. Die Ausstellung gibt Einblick in eine komplexe und | |
bisweilen kaum erschlossene Kunstgeschichte der Sprühfarbe und zeigt, wie | |
eng sie mit einer städtischen Bildpraxis verwoben ist. | |
13 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Gürsoy Doğtaş | |
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