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# taz.de -- Desinformation und Migration: Ein Selfie mit Folgen
> Nach dem Sommer 2015 nahmen Fake-News-Kampagnen gegen Geflüchtete und
> Migrationsthemen stark an Fahrt auf. Betroffene blieben meist hilflos
> zurück.
Bild: September 2015: Die damalige Kanzlerin Angela Merkel und Anas Modamani ma…
Berlin taz | Als Anas Modamani mit Angela Merkel ein Selfie machte, wusste
er gar nicht, wer diese Frau ist. Die Kanzlerin war damals, 2015, nach
Berlin-Spandau gekommen, um eine Unterkunft für Geflüchtete zu besuchen.
Es war Modamanis erster Tag in der Stadt. Vor der Tür der Unterkunft
belagerten Journalist:innen den Platz, überall Sicherheitsleute und
mittendrin die Delegation der Kanzlerin. Dem Wohlwollen Merkels und der
Spontaneität Modamanis ist es zu verdanken, dass es das Bild mit der Frau
gibt, die auf dem Höhepunkt des Migrationssommers den historischen Satz
prägte: „Wir schaffen das.“
In Modamanis Kopf müssen die Gedanken und Eindrücke damals verrücktgespielt
haben. Eine gefährliche Flucht mit dem Schlauchboot nach Griechenland hatte
er hinter sich. Er war angekommen in einem Land, dessen Sprache er nicht
sprach. Und er hatte keine Aussicht auf Rückkehr nach Hause, ins Kriegsland
Syrien. Dann kam Merkel, das Selfie, und unverhofft wurde Modamani berühmt.
Ein Fotograf hatte den entscheidenden Moment festgehalten, und das Bild
ging um die Welt. BBC und Al Jazeera zeigten das Foto. So ziemlich alle
deutschen Medien druckten es ab. Modamani war nicht mehr einer von vielen,
die nach Deutschland kamen, sondern wurde mit der Kanzlerin zum Symbol für
die deutsche Willkommenskultur. Damals, im Sommer 2015.
Doch es blieb nicht bei dem freundlichen Zuspruch. Modamanis Gesicht war in
der digitalen Welt und wurde immer wieder missbraucht: von rechten Kanälen
und Internettrollen, um gegen Geflüchtete zu hetzen. Auf die Spitze trieben
sie es, als im März 2016 Islamisten zwei Terroranschläge in Brüssel
verübten. Modamanis Selfie mit der Kanzlerin wurde mit der Attacke
unmittelbar in Verbindung gebracht – die Täter wurden in Anspielung auf die
Willkommensgeste zu „Merkels Attentätern“. Auch im Zusammenhang mit dem
Anschlag am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 tauchte das Foto
auf. Modamani hatte mit den Anschlägen nichts zu tun – doch sein Selfie
wurde zum Symbolbild.
Rassistische Mobilisierung hat eine lange Geschichte. Beispiele sind Thilo
Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ von 2010 oder russische
Propagandakanäle, die Fake-News-Kampagnen schon 2014 als Teil der hybriden
Kriegsführung nutzten. Doch spätestens seit 2015 ist das Thema ganz weit
oben auf der politischen Agenda angesiedelt.
Hinzu kam der Aufstieg von Social-Media-Kanälen, von Messengerdiensten wie
Whatsapp oder Telegram bis Plattformen wie Facebook, Twitter/X, Instagram
oder Tiktok. Desinformationskampagnen sind zum festen Bestandteil im
Baukasten rechter Kanäle und antidemokratischer Strömungen geworden. Auch
weil solche Meldungen, die, einmal in der digitalen Welt gelandet, gar
nicht oder nur sehr schwer wieder einzufangen sind.
Die Grundlagen für diese Entwicklung seien in der Gesellschaft angelegt,
sagt die Sozialpsychologin Pia Lamberty – und könnten dann aktiviert und
handlungsleitend werden. Lamberty, Teil des Centers für Monitoring, Analyse
und Strategie, forscht und sucht nach Ursachen für Verschwörungserzählungen
und den Gründen dafür, warum Lügenkampagnen derart verfangen. Gerade in
Zeiten der Unsicherheit seien Menschen anfälliger für autoritäre Lösungen
und das Ausrufen von Sündenböcken, sagt sie.
Auf der Suche nach Schuldigen an den eigenen Abstiegsängsten, an der
Wohnungsnot, an Arbeitslosigkeit, an mehr Kriminalität oder an der Sorge um
die eigenen Kinder sei „der Geflüchtete“ die „perfekte“ Projektionsfl�…
„Narrative werden mit dem eigenen Weltbild, mit eigenen Erfahrungen
angereichert und nehmen dann Fahrt auf“, sagt Lamberty.
## Betroffene bleiben oft hilflos zurück
Woher die erste Falschinformation ganz genau kommt, ist meist sehr schwer
nachzuvollziehen. Die, die Fake News verbreiten, sind rechte Influencer,
rechtsextreme Parteien oder rechte Medien, also all jene, die das Spiel mit
der schnellen Nachricht, die für Unruhe sorgen soll, professionell
beherrschen.
Facebook war vor rund zehn Jahren noch viel relevanter als Plattform, um
Informationen zu verbreiten. Auch Modamanis Bild tauchte dort zuerst auf.
Er klagte gegen die Plattform, unterlag aber mit seiner Forderung, dass
sein Bild im Zusammenhang mit den Fake News gelöscht wird. Würde er noch
einen Job finden? Würde ihn jemand auf der Straße bedrohen? All diese
Fragen trieben Modamani um. Die Menschen, die im Zentrum einer Kampagne
stehen, bleiben oft hilflos zurück.
Die Initiative [1][Hoaxmap] sammelte zwischen 2013 und 2019 etliche
Beispiele für Fake News im Zusammenhang mit Geflüchteten. Dabei ging es um
die immer gleichen Themen: Einbrüche, Vergewaltigungen, Beschimpfungen,
Religion, Kulturkampf. Selbst wenn die Nachricht sich als falsch
herausstellte, blieb ihr Kern hängen.
„Einige Menschen wollten das alles glauben. Schließlich bestätigen diese
Meldungen vermeintlich all ihre Vorurteile“, sagt Katharina Nocun,
Publizistin und Digitalexpertin. Konkret heißt das: Der Geflüchtete hätte
ja durchaus einen Schwan essen, mehr Müll verursachen, zum Terroristen
werden können. So werde eine ausgedachte Meldung, eine orchestrierte
Kampagne zu einer gefühlten Wahrheit. In diesem Klima sei es sehr leicht,
vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Themen anzubieten. Im konkreten
Fall heißt das: Gibt es keine Geflüchteten mehr, lösen sich auch die
anderen gesellschaftlichen Probleme auf.
## Kampagnen sind schwer aufzuhalten
Angst machen, Angst schüren, Angst verbreiten – am besten funktioniert das
im Zusammenhang mit Gewalt und Kriminalität. Ein Beispiel aus der
Wirklichkeit: Eine Kindergartengruppe wird von der Polizei begleitet. Das
Bild geht in den sozialen Medien herum – und zwar mit der Aussage:
„Willkommen im besten Deutschland aller Zeiten: Kindergartengruppen mit
Polizeischutz!“ In Wahrheit ist das Bild bei einem Projekttag der Kinder
mit der Polizei entstanden. Die reagierte glücklicherweise und stellte den
Fall schnell klar.
Aber: „Solche Kampagnen sind in der Regel schwer aufzuhalten“, sagt
Lamberty. Nur wenige Stunden reichten aus, damit sich der Hass entladen
könne. Plattformanbieter reagierten in der Regel zu langsam oder gar nicht.
„Wir erleben eine Verschiebung in den letzten zehn Jahren, und es gibt eine
Normalisierung rechtsextremer Haltungen. Treiber dafür ist auch die
Zunahme autokratischer Strömungen international.“ Lamberty spricht von
einer politischen Hilflosigkeit, mit den Krisen der Zeit umzugehen.
Ob ein Selfie von Friedrich Merz und einem Geflüchteten es heute überhaupt
schaffen würde, als Zeichen deutscher Willkommenskultur international für
Anerkennung zu sorgen? Vermutlich nicht.
Anas Modamani hat heute die deutsche Staatsbürgerschaft. Er arbeitet als
Videojournalist, dreht Filme in deutscher Sprache und in seiner
Muttersprache Arabisch. Auf Instagram veröffentlicht er seine Interviews
und Reportagen, er arbeitet für verschiedene Auftraggeber. Das Bild mit
Merkel hat ihm geholfen. Trotz allem.
18 Aug 2025
## LINKS
[1] https://hoaxmap.org/
## AUTOREN
Tanja Tricarico
## TAGS
Flüchtlingssommer
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Migration
Flucht
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