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# taz.de -- 4 Jahre Taliban-Herrschaft: Verbotene Klassenzimmer und eingeschrä…
> Am 15. August 2021 übernahmen die Taliban die Macht in Afghanistan.
> Seitdem mussten die meisten Bildungseinrichtungen für Frauen und Mädchen
> schließen.
Bild: Afghanische Frauen arbeiten in einer Schneiderwerktsstatt in Herat im Nov…
Der Tag, an dem ich meiner Klasse mitteilte, dass die Schule geschlossen
wird, war einer der schwersten Tage meines Lebens“, sagt Hawa Gul. „Alle
waren sehr traurig. Wir haben den Rest unserer gemeinsamen Zeit damit
verbracht, darüber zu sprechen, wie enttäuscht wir sind. Als die Mädchen
mein kleines Klassenzimmer zum letzten Mal verlassen haben, haben viele
geweint.“
Sechs Jahre lang betrieb die junge Frau – deren Namen wir zu ihrem Schutz
geändert haben – aus dem Südosten Afghanistans im Haus ihres Vaters eine
private Schule. Mitte 2023 kam dann das Taliban-Verbot für Privatschulen.
Die Taliban waren da gerade zwei Jahre zum zweiten Mal an der Regierung. Am
15. August 2021 marschierten sie in der Hauptstadt Kabul ein, drangen in
den Präsidentenpalast ein und verkündeten ihren Sieg. Der jährt sich an
diesem Freitag zum vierten Mal.
In Hawa Guls Heimatregion hatten auch vor der Machtübernahme in Kabul die
Taliban schon das Sagen. Mädchenschulen ließen sie dort offiziell nicht zu.
„Aber viele Menschen wollten ihre Töchter dennoch ausbilden lassen“,
erinnert sich Hawa Gul. Und so holten sich die Stammesältesten die
stillschweigende Zustimmung der Taliban ein. „Sie forderten jedes Dorf auf,
eine gebildete Frau in ihrer eigenen Gemeinde zu finden, die Mädchen in
ihrem Haus unterrichten konnte.“ Hawa Gul hat Abitur, wollte eigentlich in
Kabul Medizin studieren, aber ihr Vater war dagegen. „So kam es, dass ich
begann, in unserem Haus eine Schule zu leiten.“
Eine Nichtregierungsorganisation unterstützte ihre Schule mit Schulmaterial
und übernahm sogar Hawa Guls Gehalt, 105 Dollar im Monat. Schnell wuchs die
Klasse von 20 auf 50 Mädchen im Alter von 7 bis 18 Jahren an. Hawa Gul
unterrichtete alle nach einem Grundschullehrplan, denn auch die Älteren
hatten bis dahin nie eine Schule von innen gesehen.
## Erst die Schulen, dann die Universitäten
Nach ihrer Machtübernahme schloss die Taliban peu à peu immer mehr
Bildungseinrichtungen für Frauen und Mädchen. [1][Zunächst mussten alle
Mädchenschulen ab der 7. Klasse den Betrieb einstellen], dann versagten sie
Frauen den Zugang zu Universitäten. Mitte 2023 schließlich durften Mädchen
auch ab Klasse 1 nicht mehr privat unterrichtet werden. In manchen Teilen
des Landes, so auch in Hawa Guls Heimatregion, wurde dieses Verbot
allerdings erst verzögert umgesetzt. Hawa Gul musste ihre Schule dann
schließen, „gerade als meine Schülerinnen sich auf den Beginn der sechsten
Klasse vorbereiteten und sich auf ihren Abschluss im März 2025 freuten“.
Die Taliban-Verbote trafen nicht nur den Bildungshunger der Mädchen, sie
machten oft auch die einzige Einkommensquelle von Familien zunichte. „Als
die Republik fiel, war mein Vater zu alt, um zu arbeiten und meine Brüder
verloren ihre Jobs“, so Hawa Gul. „Mit meinem geringen Gehalt habe ich 14
Menschen unterstützt – meine Eltern, meine drei Brüder, ihre Frauen und
Kinder, meine Schwester und mich selbst.“
Zwei von drei afghanischen Frauen, die einer bezahlten Arbeit nachgingen,
verloren durch die Taliban-Verbotsdekrete – laut UN Women sind es
inzwischen fast 100 – ihre Jobs. Bis dahin waren über 20 Prozent aller
Afghaninnen berufstätig. Heute arbeiten noch immer Frauen in
Mädchen-Grundschulen, Kliniken, Banken und sogar bei nichtstaatlichen
Medien, aber streng getrennt von den Männern. Immer wieder kontrolliert das
die Taliban-Sittenpolizei Amr bil Maruf.
Auch einige Polizistinnen behielten die Taliban. Sie müssen jetzt helfen,
Geschlechtsgenossinnen zu verhaften, denen Amr bil Maruf vorwirft, nicht
vorschriftsmäßig verschleiert oder ohne männlichen Verwandten unterwegs zu
sein. Erst im Juli gab es wieder solche Verhaftungen in Kabul.
## 2 Prozent der Unternehmen von Frauen geführt
Vor der Machtübernahme der Taliban waren etwa zwei Prozent aller
Unternehmen von Frauen geführt. Ab Sommer 2021 machte zunächst etwa die
Hälfte der Firmen dicht. Auch 29 Prozent der von Männern geführten
Unternehmen schlossen ihre Türen. Bis März 2023 waren laut Weltbank 71
Prozent dieser Unternehmen aber wieder teilweise oder vollständig in
Betrieb. Die Zahl neu registrierter Frauen-Unternehmen vervierfachte sich
in den vier Taliban-Jahren auf 2.500, berichtet die Afghanische
Frauen-Industrie-und-Handelskammer AWCCI, neben dem nationalen
Gewerkschaftsbund eine der wenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen,
die noch aktiv sein dürfen. Allerdings installierten die Taliban
verlässliche Leute an ihrer Spitze.
Unter den Frauen-Unternehmen – etwa Teppichwebereien oder Betriebe der
Lebensmittelverarbeitung – gibt es solche mit mehreren Hundert
Beschäftigten. Die viel größere Zahl nicht lizenzierter Klein- und
Kleinstunternehmen, wie Nähereien, Handwerkstätten oder Gewächshäuser,
verdoppelte sich auf 130.000. Das zeigt, wie wichtig diese Nische ist.
Selbst offizielle Taliban-Medien berichten immer wieder über
Unternehmerinnen, um zu zeigen, es gebe keine Diskriminierung.
Eine unabhängige afghanische Nachrichtenagentur berichtete jüngst von einer
Nähwerkstatt in der westafghanischen Metropole Herat, die eine örtliche
soziale Aktivistin inmitten der gegenwärtigen Massenabschiebungen aus Iran
für 50 Rückkehrerinnen eingerichtet hat, um ihnen Einkommen zu schaffen. In
diesem Jahr schoben Iran und Pakistan laut UN über zwei Millionen
afghanische Geflüchtete zurück – eine enorme Belastung für die schwache
Wirtschaft des Landes.
Zudem arbeiten Frauen für von Männern geführte Betriebe oft in Heimarbeit.
Dort sehen sie sich mit schlechten Arbeitsbedingungen, überlangen
Arbeitszeiten und niedrigem Lohn konfrontiert, der zum Teil nur bei 60 Cent
am Tag liegt. Ein Fladenbrot kostet etwa 15 Cent.
Afghanistans Unternehmerinnen unterliegen allerdings denselben
[2][Beschränkungen wie alle Frauen im Land], schreibt die
Analyse-Organisation Acaps. Auch in ihren Betrieben gilt strikte
Gender-Trennung. Ein weiteres Hindernis sei der mangelnde Zugang zu
Bankkrediten. Laut UN bekamen zwischen 2022 und 2024 nur 5 Prozent aller
afghanischen Unternehmerinnen Kredite bei Banken und zwei Prozent bei
Mikrofinanzinstituten und kommunalen Spargruppen. Dafür notwendige
Eigentumsdokumente für potenzielle Produktions- oder Verkaufsstätten
befinden sich in Afghanistan zumeist in männlicher Hand.
Frauen dürfen nur in Begleitung eines männlichen Verwandten Märkte besuchen
oder geschäftlich reisen und ihre Produkte nicht auf den gleichen Basaren
wie Männer verkaufen. Das zwang viele, ihre Geschäfte in wenig
frequentierte Gebiete zu verlegen. Frauen wird auch die Teilnahme an
Handelsmessen verwehrt.
Die UN berichtet zudem von „Diskriminierung und Vorbehalten“ seitens der
Wirtschaft. „Lieferanten, Ladenbesitzer und Großhändler zögern, mit Frauen
zusammenzuarbeiten, da sie Repressalien seitens der Taliban-Behörden
befürchten.“ Um den Restriktionen zu entgehen, weichen viele Frauen laut
AWCCI in die Onlinevermarktung aus.
## Frauen fast komplett aus öffentlichem Leben verschwunden
Insgesamt ist laut Acaps der Anteil erwerbstätiger Frauen „nach wie vor
unverhältnismäßig geringer“ als vor der Rückkehr der Taliban. UN Women
schreibt in einer am Donnerstag veröffentlichten Stellungnahme, dass die
Taliban „ihrer Vision einer Gesellschaft, in der Frauen komplett aus dem
öffentlichen Leben verschwinden, näher sind als je zuvor“.
Anfang Juni berichtete die auf die Lage der Frauen in Afghanistan
spezialisierte, von Afghaninnen geführte Exil-Nachrichtenplattform
Ruchschana unter Bezug auf mehrere Geschäftsfrauen in der Nordprovinz
Balch, dass dort „die meisten von Frauen geführten entweder
zusammengebrochen sind oder kurz davor stehen“. Die Unterstützung durch die
Taliban gehe „kaum über symbolische Maßnahmen hinaus“.
Nicht alle Frauen in Afghanistan haben aber die Option, ein Business zu
eröffnen. Sie leben wie Hawa Gul in Gegenden, in denen es kaum
gesellschaftliche Akzeptanz für solche Tätigkeiten gibt. Seit die Schule
geschlossen wurde, hat Hawa Gul kein Einkommen mehr. „Es vergeht kein Tag,
an dem nicht jemand bei uns vorbeikommt, um nach der Schule zu fragen. Sie
sagen, sie sei ein Segen für das Dorf gewesen, und bitten mich, sie wieder
zu eröffnen, weil ihre Töchter deprimiert sind und wieder lernen möchten“,
berichtet sie.
Vor-Ort-Recherche: Hamid Pakteen, Kabul
14 Aug 2025
## LINKS
[1] /Machtuebernahme-und-Unterdrueckung-durch-die-Taliban/!5949650
[2] /Taliban-Regime-in-Afghanistan/!6031987
## AUTOREN
Thomas Ruttig
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