| # taz.de -- Ausstellung „High Noon“ in Kiel: Schutzlose Blicke auf die Unge… | |
| > Anders als in Berlin gibt es um die Ausstellung von Nan Goldin-Werken in | |
| > Kiel wenig Getöse. Das ermöglicht wieder die Konzentration auf die | |
| > Fotokunst. | |
| Bild: Bloß nicht obszön! Philipp Lorca diCorcias „Mavy und Babe“, 1982 | |
| Da steht sie, gelehnt an einen vierflammigen Gasherd, hinter ihr hängen | |
| dichtgedrängt Bratpfannen, Siebe und Topfdeckel: Nan Goldin, noch jung, | |
| noch unbekannt, ein frühes Selbstporträt aus den so fernen 1970er-Jahren. | |
| Es ist eines der ersten Bilder, auf das man schaut, das einen also begrüßt | |
| und das auch den Takt angibt: Die Künstlerin schaut in die Welt, auf dass | |
| die Welt sie anschaut. Wie im Duell. | |
| „High Noon“ lautet der Gesamttitel der Ausstellung, mit dem die | |
| Stadtgalerie Kiel ihre Gäste durch die erste Hälfte dieses eigenartigen | |
| Krisensommers leitet. Zu sehen sind Fotografien von Nan Goldin und ihren | |
| langjährigen Wegbegleitern David Armstrong und Mark Morrisroe; dazu | |
| gesellen sich Werke von Philip-Lorca diCorcia. | |
| Die Ausstellung schöpft dabei aus dem Fundus der Sammlung FC Gundlach: | |
| [1][Franz Christian Gundlach], Jahrgang 1926 und von Haus aus Modefotograf, | |
| war zeitlebens ebenso Entdecker, immer auch engagierter Förderer junger | |
| Foto-Künstler und -Künstlerinnen. Und nun haben die von ihm in den frühen | |
| 1990er-Jahren zu seiner Sammlung hinzugekauften Fotografien – alles | |
| Originale also – ihren Weg an die Förde gefunden. Das dürfte auch mit daran | |
| liegen, dass Stadtgalerie-Leiter Peter Kruska zu Goldin und ihrem | |
| künstlerischen Umfeld promoviert hat: „Der subjektive Blick der Fotografie | |
| der 'Boston School’“ lautet der Titel seiner Diss. In Boston haben damals | |
| alle vier studiert, an der dortigen „School of the Museum of Fine Arts“. | |
| Und nun Kiel, was schlicht ein guter Ort ist. Denn im Umfeld der | |
| Goldin-Schau in der Berliner Nationalgalerie [2][war zuletzt viel Getöse]: | |
| Dort ging es vornehmlich um die [3][Positionierung der Künstlerin zugunsten | |
| des BDS], ihren Vergleichen Israels mit dem von Pogromen geprägten | |
| zaristischen Russland und der hin- und her-Debatte, die bis heute andauert. | |
| Schwamm drüber – wir sind in Kiel. Und Kiel ist eine eigene Welt, | |
| vielleicht etwas langweilig und manchmal schluffig, aber das hat Vorteile. | |
| Endlich kann man sich mal wieder auf Nan Goldins Bilder und die der anderen | |
| fokussieren und sie einfach nur betrachten: den Werdegang von Goldins | |
| Lebensbegleiter Cookie und Vittorio etwa. Am Ende ihres kurzen Lebens in | |
| Zeiten von Aids, Krankheit und Ausgrenzung liegen beide je in einem Sarg, | |
| stumm und fern. | |
| Er ist hochaktuell wie bleibend radikal, dieser oft so schutzlose Blick auf | |
| die Ungeschützten, wie in Goldins Selbstporträt als misshandelte Frau einen | |
| Monat später. Dazu David Armstrongs verschattete, fast klassische | |
| Schwarz-Weiß-Porträts. | |
| Außerdem gibt es von ihm noch emphatisch unscharfe Landschaftsaufnahmen, | |
| die in schweren, schwarzen Rahmen hängen. Und die von Beginn an bewusst mit | |
| einigem Aufwand komponierten Einzel- wie Gruppenbilder von Philip-Lorca | |
| diCorcia, der mit der [4][Goldin-Clique] nie etwas zu tun haben wollte, | |
| weshalb er für die Mehrzahl seiner Bilder einen separaten Raum bekommen | |
| hat. | |
| Dass Philip-Lorca diCorcia am Ende auf eigene Weise doch dazu gehört, sieht | |
| man, schaut man seine Serie über männliche Prostituierte in Los Angeles an, | |
| für die er 1992 ein Stipendium bekam. Das wiederum war an eine Bedingung | |
| geknüpft: Er dürfe von dem Geld keine so genannten obszönen Bilder | |
| erschaffen – es war das Zeitalter des Ronald Reagan. | |
| Doch diCorcia wusste sich zu helfen: Vordergründig bekleidet, offenbaren | |
| seine Protagonisten sorgsam inszeniert ihr Innerstes, dazu nüchtern der | |
| Name, der Ort, der Preis pro sexuelle Dienstleistung. Schlicht ikonisch | |
| sein Bild „Marilyn, 28 years old, Las Vegas, Nevada, $30“, weit mehr als | |
| ein visuelles Marilyn-Monroe-Zitat, das vielleicht stärkste Bild der | |
| Ausstellung, wenn man sich partout für eines entscheiden will. | |
| So schlendert man durch die Räume, beruhigend surrt die Klimaanlage, | |
| weiches Licht fällt durch die mit Gaze verhängten Fenster und eine eigene, | |
| sanfte Stimmung mag einen mit sich tragen, die einen beim Nachdenken | |
| womöglich ins Heute führt: Alle Personen, die wir schauen, die sich uns bis | |
| heute zeigen, in ihrem Glück, ihrem Unglück, im Reich dazwischen, haben | |
| sich auch in ihrem zugewiesenen Außenseitertum erst mit zeitlichem und | |
| räumlichem Abstand als Abgebildete zu sehen bekommen. Sie bekamen sich | |
| nicht, wie seit dem Sieg der Digitalisierung üblich, augenblicklich | |
| präsentiert. Wir sehen sie also als Bild, durchaus dem Gemälde verwandt, | |
| und nicht als Schnappschuss, womöglich in Sekundenschnelle mit einer | |
| Fingerbewegung wieder weggewischt und ausgelöscht. | |
| Von wegen Schnappschüsse und Handys: Das Abfotografieren der ausgestellten | |
| Werke ist selbstverständlich ausdrücklich verboten. Mitnehmen muss man sie | |
| daher im Kopf, und wer weiß, was sie dort bewirken. | |
| 5 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Frank Keil | |
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