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# taz.de -- Bombardierte KZ-Überlebende: Die Bucht und die Gespenster
> In seinem ersten Comic beschäftigt sich Marius Schmidt mit der Versenkung
> der „Cap Arcona“ 1945, die zivilen Opfer und den Versuch, zu verdrängen.
Bild: Erinnerung an die Katastrophe nach über 40 Jahren: 1987 stört ein Campi…
Der Sommer füllt die Strände mit heiterem Badetrubel, auch in der Lübecker
Bucht. Kaum jemand wird dabei an die Ereignisse denken, die sich dort vor
inzwischen fast 80 Jahren zugetragen haben, Anfang Mai 1945. Aber es ist ja
auch kaum vorstellbar, dass unter dem Sand möglicherweise noch die Gebeine
von Menschen liegen, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu Tausenden hier
starben, an Bord der „Cap Arcona“.
Manövrierunfähig lag der ehemalige Transatlantikliner Ende April 1945 vor
Neustadt, voll mit Menschen, die die SS vor den herannahenden Briten aus
dem Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg weggeschafft hatte, um ihre
Gräueltaten dort zu verwischen.
Am 3. Mai bombardierte die Royal Air Force das Schiff – in der Annahme, es
sei Teil der nationalsozialistischen Flotte und könnte versuchen, das
neutrale Norwegen zu erreichen. Vollständig zum Kentern brachte das
Bombardement die „Cap Arcone“ nicht, die Ostsee ist an dieser Stelle zu
flach dafür.
Mehr als 7.000 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, starben durch
Feuer an Bord oder beim Versuch, durch das kalte Wasser an Land zu
schwimmen. In den folgenden Tagen war die Lübecker Bucht voller Leichen.
Gleichzeitig baten Überlebende der Todesmärsche hier um Unterkunft,
Flüchtlinge aller Art strandeten, SS-Leute versuchten zu entkommen.
## An Leichen fett gewordene Aale
In Form eines Comics erzählt [1][Marius Schmidt] von den Folgen des
Unglücks, von Chaos und Leid, die in den Tagen danach die Gegend
beherrschten. Dabei werden wir außerdem Zeugen eines Krimis, der sich auf
zwischenmenschlicher Ebene zutrug, unbemerkt inmitten all der
Unübersichtlichkeit. Und wir wechseln zwischen den Zeiten: 1987 befindet
sich an gleicher Stelle ein Campingplatz, und ein Fundstück ruft die
Erinnerung wach an die damaligen Ereignisse.
Schmidt erzählt die Freundschaft zwischen Casimir, einem jungen Deserteur
und Fischer, und Rimsky, der plötzlich an der Bucht auftaucht. Casimir hat
seit dem Bombardement Leichen in den Netzen und lässt sie im Wasser, um
später die fettesten Aale zu „ernten“; die mag trotz Hunger niemand essen.
Beide gehen abends auf Plündertouren, rudern heimlich zum Wrack, um die
Beute dann an „die Maja“ zu verhökern. Die Tage verbringen sie mit Anna,
der Tochter von Casimirs Vermieterin. Annas Misstrauen, ihre Neugier und
ihr Mut verschaffen ihr Einblicke, führen aber auch in ein weiteres
Dilemma.
Marius Schmidt, geboren 1983 in Braunschweig und im Hamburger Umland
aufgewachsen, hat in Berlin bildende Kunst studiert. In seinem ersten Comic
versteht er es, auf subtile Art viel von den Charakteren zu vermitteln, von
der Bandbreite menschlichen Schicksals, ohne dass er davon explizit
erzählt: Er lässt die Leser merken, wie belastet die Protagonisten sind
durch Geheimnisse, die sie in sich tragen, durch die Unzumutbarkeit der
Situation.
Anna kann als Tochter eines Nazi-Kommandeurs nicht aus ihrer Haut, Rimsky
[2][muss seine Vergangenheit kaschieren], Ich-Erzähler Casimir trägt
albtraumgeplagt und schweigend sein Päckchen noch bis in die 1980er-Jahre.
Auch Randfiguren wie Rimskys Freundin lassen ahnen, welche menschlichen
Missstände neben der allgemeinen Krise an den Seelen nagten. Und wie sie
sich fortschreiben über Generationen, gerade weil sie nie groß thematisiert
werden – auch die 1987 auftauchende Marianne ist eine Suchende.
Zugunsten des Leseflusses verzichtet Schmidt auf die Frames, die in den
meisten Comics die Bilder voneinander trennen. Stattdessen arrangiert er
kleine Aquarelle auf den Panels, beinahe wie Flecken. Die Farben scheinen
flüssig, die Konturen sind oft eher angedeutet als ausdefiniert. Formen
können interpretiert werden, als Schatten – oder Gespenster.
Inspiriert wurde Schmidt durch seine Großmutter, die er oft an der
[3][Ostseeküste in Sierksdorf besuchte] – in unmittelbarer Nähe des
beschwiegenen Unglücksortes: Von dem so prägenden Ereignis wurde nie
wirklich erzählt, es blieb bei Andeutungen, die er als Kind nicht verstand.
Auch der vermeidende Umgang mit einem solchen Trauma beschäftigt ihn in
diesem Comic. Das wird deutlich, wenn die Handlung ins Jahr 1987 springt,
wo nichts mehr den Eindruck eines ganz normalen, freundlichen Urlaubsortes
stört. Der Preis für die Idylle ist weitgehend Verdrängung. Die Polizei
archiviert auch das störende Campingplatz-Fundstück, beschwichtigt die
Finder. Und die eigentlichen Fragen bleiben offen.
Bis 1950 noch [4][ragte das Wrack der „Cap Arcona“] aus der flachen Ostsee,
bis auch diese sichtbare Erinnerung demontiert wurde. Wer heute etwas sehen
will, muss sich bemühen. Doch ein typischer Ostsee-Ausflug kommt aus ohne
einen Besuch der insgesamt 13 [5][Mahnmale und Gedenkstätten] auf den
Friedhöfen in der Region.
5 Jul 2025
## LINKS
[1] https://www.mariusschmidt.de/
[2] /Neues-Stueck-von-Schorsch-Kamerun/!5988875
[3] /Urlaub-am-Wochenende/!6018968
[4] /Opfer-Nachfahrin-ueber-das-KZ-Neuengamme/!6083956
[5] https://gedenkstaetten-sh.de/gedenkstaetten/museum-cap-arcona-4
## AUTOREN
Imke Staats
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Konzentrationslager
Schiffsunglück
Ostsee
Gedenkstätte
Comic
Schwerpunkt Tag der Befreiung
NS-Verbrechen
Theater
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