# taz.de -- Contergangeschädigter übers DJ-sein: „Ich besitze ja kein Paten… | |
> Matze Lawin hat eine Beeinträchtigung und ist DJ – halt einer mit kurzen | |
> Armen. Damit ist er schon ein Vorbild. Angestarrt werden, will er nicht | |
> ertragen. | |
Bild: Matze Lawin hat viel als DJ gearbeitet. Und eine Biografie geschrieben mi… | |
taz: Herr Lawin, ist es schwierig, als [1][contergangeschädigte] Person DJ | |
zu sein? | |
Matze Lawin: Es ist wie immer in meinem Leben: Die Leute verbinden mit | |
einem DJ, der für die Kultur- und Alternativszene auflegt, nicht jemanden | |
mit kurzen Armen. Das bedeutet, dass ich in meinem Leben schon mit Menschen | |
zu tun hatte, die das gar nicht so cool fanden, dass ich DJ bin. Weil sie | |
das mit mir nicht in Verbindung bringen wollten. | |
taz: Was meinen Sie mit „nicht so cool“? | |
Lawin: Diese paar Male, von denen ich jetzt gesprochen habe, waren richtige | |
Anfeindungen. Und das war so massiv, dass ich emotional gar nicht so | |
schnell wechseln konnte, weil ich mich gefragt habe, was hier gerade | |
passiert. Aber ich habe über die Zeit ein sehr großes Selbstbewusstsein | |
entwickelt. | |
taz: Dieses Selbstbewusstsein hilft Ihnen also, über solchen Anfeindungen | |
drüber stehen zu können? | |
Lawin: Drüber stehen tut man glaube ich nicht, wenn man so direkt | |
angefeindet wird. Das wäre zu viel gesagt. Man ist schon verletzt und ein | |
bisschen verwundert, was das soll. Selbst wenn das ein Idiot ist, der da | |
vor dir steht. Aber ich habe versucht, das immer möglichst schnell | |
abzustreifen, weil, das lange mitzunehmen, macht wenig Sinn, da es einen | |
auch nur runterziehen würde. | |
taz: Waren solche negativen Erfahrungen die Norm? | |
Lawin: Gar nicht. Sehr viel mehr habe ich es umgekehrt erlebt, dass die | |
Leute es ganz cool fanden, dass gerade ich da als DJ vor ihnen stehe. Und | |
du bekommst als DJ natürlich eine andere Aufmerksamkeit im Leben als in | |
einem anderen Job. Wenn du in einer Disco auflegst, wo jede Nacht bis zu | |
300 Leute bei dir sind. | |
taz: War DJ schon immer Ihr Traumjob? | |
Lawin: Ich habe als junger Typ mit 20 angefangen, Behindertenpädagogik zu | |
studieren. Durch Zufall bin ich in diese DJ-Geschichte gerutscht und habe | |
gemerkt, Musik hat schon immer mein Leben bestimmt und war das, was mir am | |
meisten Spaß gemacht hat. Und weil ich als DJ in einer Disco angefangen | |
habe, um mir ein bisschen Geld im Studium zu verdienen, habe ich gemerkt, | |
da geht vielleicht noch viel mehr. Dann habe ich tatsächlich das Studium | |
geworfen. | |
taz: Warum wollten Sie das Studium nicht noch beenden? | |
Lawin: Das war im Nachhinein dumm von mir, denn ich war kurz vor der Abgabe | |
meiner Abschlussarbeit. Aber es gab damals Sachen, die mich sehr | |
mitgenommen haben. Die Trennung von der Mutter meiner Tochter, schwierige | |
Lebensumstände, eine renovierungsbedürftige Wohnung. Das hat mich | |
beeinträchtigt und auch davon abgehalten, diesen Weg zu gehen. Heute ist es | |
für mich so leichter zu erklären, warum ich idiotischerweise diese Arbeit | |
nicht abgegeben habe. | |
taz: Bereuen Sie es? | |
Lawin: Nein. | |
taz: Warum nicht? | |
Lawin: Weil ich ein tolles Leben habe. Weil ich auch ganz besondere | |
Menschen kennengelernt habe. Und ich habe meine Reisen machen können, weil | |
ich als DJ gut Geld verdient habe. | |
taz: Also war es auch finanziell gesehen die richtige Entscheidung? | |
Lawin: Ja, ich habe tatsächlich als DJ gut verdient. Ich habe am Wochenende | |
freitags ein Clubprojekt gemacht und samstags war ich jahrelang ausgebucht | |
für Privatpartys, da wirst du auch gut bezahlt. Wenn dann der Winter und | |
Regen kommt, habe ich immer gesagt, ich kann mich in leichten Klamotten | |
besser bewegen, ich muss ins Warme. Dann bin ich in den Wintermonaten | |
gereist und den Rest im Jahr habe ich aufgelegt. | |
taz: War das Reisen eine Flucht vor den für Sie schwierigeren Umständen des | |
deutschen Winters? | |
Lawin: Es war kein Fliehen. Ich habe es gemacht, weil ich es konnte. Ich | |
wäre auch hier klargekommen, auch mit einer dicken Jacke und allem. Man | |
muss da schon differenzieren. Es war keine Flucht, aber es war einfach ein | |
unheimlich schönes Gefühl, dass ich das machen konnte. Weil ich es mir | |
leisten konnte, das zu tun, womit ich mich wohler und freier fühle. Meine | |
Träume leben. | |
taz: Hat Sie das Reisen deshalb so begeistert? | |
Lawin: Nicht nur. Ich hatte auch viele spannende Begegnungen. Es gibt | |
Menschen in anderen Kulturen, die feiern es regelrecht, dass ich rausgehe | |
und mich zeige. Aber es gibt auch Leute, die erschrocken sind. Und es gibt | |
Leute, die es nicht fassen können. Ich habe Leute kennengelernt, die | |
wollten von mir wissen, wie ich das schaffe, diese Autonomie zu leben? Sie | |
wollten Rat von mir haben. | |
taz: Welchen Rat? | |
Lawin: Sie dachten, vielleicht können sie von mir erfahren … Ich will jetzt | |
nicht sagen, wie Autonomie geht, aber wie man es schafft, mit | |
Einschränkungen diesen Mut zu entwickeln, dazu zu stehen und vielleicht | |
sogar noch Lebensfreude auszudrücken. Aber ich besitze ja kein Patentrezept | |
aufs Glücklichsein und auf Autonomie, denn ich habe meinen ganz, ganz | |
eigenen Weg gelebt. Man kann diese Leben nicht übereinanderlegen. Es hat | |
alles mit dir zu tun. Deine eigene Kindheit, deine Erziehung, deine | |
Freundin, deine Freunde, dein Umfeld. | |
taz: Wie war Ihre Kindheit? | |
Lawin: Ich bin in einem Landgasthaus groß geworden mit vier Geschwistern. | |
Da könnte man denken, ich wurde mit vielen Menschen konfrontiert, mit den | |
Gästen. Das war schon auch okay für mich. Aber das Leben als Kind unter | |
Kindern nicht. Ich brauchte immer meine eigenen bekannten Räume. Die | |
Kindergartengruppe war nach drei Monaten okay und die Schulklasse war auch | |
nach drei Monaten okay. Aber wenn ich auf dem Schulhof war oder meine | |
Mutter mit mir ins Eiscafé wollte, habe ich dem nicht standgehalten. Ich | |
habe das, ehrlich gesagt, gar nicht versucht, weil ich so geschockt war von | |
der Intensität, mit der ich angestarrt worden bin. Oder von Kindern wurde | |
gefragt: „Warum hat der Junge denn so kurze Arme?“ und „Guck mal, Mama, | |
guck mal!“ Da war ich die ganze Zeit dermaßen in der Schusslinie, und das | |
habe ich auch wirklich als Schusslinie empfunden, dass ich die Kraft gar | |
nicht hatte. | |
taz: Was hätte die Situation für Sie damals verbessert? | |
Lawin: Das ist eine echt schwierige Frage. Weil ich es selber nicht weiß. | |
Ich habe viel reflektiert über mein Leben. Ich glaube, dass Entwicklung | |
unheimlich viel mit uns macht. Entwicklung, Reflexion, aber auch Erfahrung. | |
Und wenn du als Kind nicht so erfahren bist, aber zwangsläufig damit | |
konfrontiert wirst, dass du anders bist und voll aus dem Rahmen fällst, | |
dann ist das schwer zu handlen. Meine Mutter wollte ja, die ist mit mir | |
schwimmen gegangen und die wollte, dass wir mal in die Eisdiele gehen. Aber | |
ich wollte nicht. Sie konnte mich auch nicht drängen. Und wenn man mich | |
fragen würde, wie hätte es anders laufen können, hätten deine Eltern was | |
anderes machen können? Ich glaube nicht, weil sie das Know-how nicht | |
hatten. | |
taz: Vielleicht hätte es geholfen, andere Kinder mit ähnlichen | |
Einschränkungen kennenzulernen. | |
Lawin: Ich bin mit elf Jahren in ein Internat für Körperbehinderte gekommen | |
und da war der Zug für mich völlig abgefahren. Weil ich dann mit Menschen | |
zusammen war, die sich alle so gefühlt haben wie ich. Ich habe mich gefühlt | |
wie in einem Knast, in dem sich alle bekriegen. | |
taz: Wie erklären Sie sich diese Zustände? | |
Lawin: Ich glaube, jeder, der in dieses Internat gekommen ist, wollte da | |
nicht sein. Da sind die Leute hingekommen, weil das den Eltern gesagt | |
wurde. Die Kinder könnten später nicht mit den Händen arbeiten, sie müssen | |
sehr schlau werden, also werden sie schulisch gedrillt. Was vielleicht ein | |
guter Ansatz war, hat sich dann als fatal erwiesen, weil die Kinder eben | |
nicht da sein wollten. Das ist so, wie man es aus Tierfilmen kennt. Wenn | |
zehn Hunde in einem kleinen Käfig eingesperrt sind und anfangen zu beißen, | |
weil sie nicht genug Raum für sich haben, um sich entwickeln zu können. | |
taz: Wie sind Sie der Situation entkommen? | |
Lawin: Ich war schlau genug, um das Ganze zu torpedieren. Ich habe bei den | |
Klassenarbeiten den Stift hingelegt und mich verweigert. Dann habe ich es | |
geschafft, von einem Schüler, der zwischen eins und zwei gestanden hat, auf | |
Fünfen und Sechsen zu kommen. Irgendwann hat die Schule bei meinen Eltern | |
angerufen und gesagt „Wir wissen, dass er es kann, aber er wird sowieso | |
nicht versetzt dieses Jahr. Er will es nicht, und auch in fünf Jahren | |
würden wir ihn nicht versetzen und dann kommt er nicht aus der siebten | |
Klasse raus. Das macht überhaupt keinen Sinn. Nehmen Sie ihn wieder nach | |
Hause.“ | |
taz: Wie ging es Ihnen danach? | |
Lawin: Da wurde das alles noch schlimmer. Ich war dann 13 und war | |
zweieinhalb Jahre abgeschottet gewesen. Und da habe ich dann erst viel | |
später reflektiert, dass diese Art von Abschottung, die ich als Kind so | |
geliebt habe, eben nicht safe war. | |
taz: Hat sich das gebessert? | |
Lawin: Ich war nach relativ kurzer Zeit in der neuen Schule sehr beliebt | |
und hatte viele Freunde und habe mich auch tatsächlich wohlgefühlt. | |
Glücklich ist vielleicht übertrieben, aber ich war sehr zufrieden. Meine | |
Noten haben sich auch gebessert, aber es war auch schwierig für mich, weil, | |
wenn du zweieinhalb Jahre aufhörst zu lernen, da fehlt dir tatsächlich viel | |
Stoff. Ich hatte sehr viele Defizite, die ich aufholen musste. | |
taz: Ist Ihnen dort auch Behindertenfeindlichkeit begegnet? | |
Lawin: Eines Tages kam der Biologielehrer auf mich zu und sagt, er hätte | |
sich mal informiert, ob es nicht eine Idee wäre für mich, Prothesen zu | |
tragen, damit ich nicht überall angeguckt werde. Und vielleicht würde es | |
mir dann leichter fallen, Mädchen kennenzulernen, die dann vielleicht auch | |
mit mir gehen würden. Da war ich ziemlich geschockt, weil wir haben uns | |
geduzt, er war ein sehr lockerer Lehrer. | |
taz: Wie sind Sie damit umgegangen? | |
Lawin: Ich habe erst mal eine Nacht darüber geschlafen und beim nächsten | |
Mal Bio habe ich ihm gesagt, dass ich ihn nicht verstehen würde. Er würde | |
mich doch hier erleben in der Schule. Und ob er dann glaubt, dass es schlau | |
wäre, dass ich ein Vierteljahr lerne, eine Tasse hochzuheben mit so einer | |
Prothese, obwohl ich das ja so auch hinbekomme. Das macht ja überhaupt | |
keinen Sinn. Da war ich richtig genervt von ihm, dass er mir diesen | |
Vorschlag gemacht hat, obwohl er gemerkt hat, dass ich gerade angefangen | |
habe, Autonomie zu lernen. | |
taz: Sie erinnern sich daran noch sehr genau. | |
Lawin: Es bleibt fürs ganze Leben hängen, weil er war mehr oder weniger | |
mein Lieblingslehrer, eine Vertrauensperson. Danach war das nicht mehr so, | |
das hat unser Verhältnis komplett verändert, weil ich das so als Affront | |
gesehen habe für mein Leben. Meine Reaktionen auf so was wurden in meiner | |
Jugend aber auch krasser. | |
taz: Inwiefern? | |
Lawin: Wenn man zum Beispiel in der Fußgängerzone mit 17 Jahren | |
angesprochen wird, man hätte dich damals auch vergasen sollen, dann ist das | |
etwas, was man nicht so einfach schluckt. Es gab diese Zeit als | |
Jugendlicher, in der ich so einen Hass auf die Gesellschaft hatte. Da | |
konnte ich diese ganzen Blicke nicht mehr ertragen, dieses ständige im | |
Mittelpunkt stehen. Und da war es schon so, wenn jemand beim Bäcker | |
netterweise gefragt hat, ob man mir die Brötchentüte geben soll, dann habe | |
ich die angeraunzt und gesagt, „Siehst du nicht, dass ich das selber | |
hinbekomme?“ Ich war anderen gegenüber sehr heftig, wenn ich gemerkt habe, | |
ich werde angestarrt. Dann habe ich die Leute gefragt, warum die so blöd | |
gucken. Oder ob die ein Problem mit mir haben. | |
taz: Wie bewerten Sie Ihr damaliges Verhalten im Nachhinein? | |
Lawin: Es war ein Teil meiner Entwicklungsgeschichte, und vielleicht war es | |
gut, dass ich mich wichtig genommen habe und diese Kraft hatte, | |
dagegenzuhalten. Ich glaube, es ist gut im Leben, nicht immer nur | |
einzusehen und zurückzuziehen. Sondern vielleicht hat mir gerade dieser | |
Umgang damit richtig viel gebracht. Und selbst wenn es mir gar nichts | |
gebracht hat, sondern ein Rückschritt gewesen ist, war es vielleicht | |
trotzdem gut. Das mal gemacht zu haben, um es später im Leben anders zu | |
machen. Es durch Reflexion nicht zu machen, aber zu wissen, dass ich es | |
kann. | |
taz: Weil Sie so mit der Heftigkeit auch gelernt haben, für sich | |
einzustehen? | |
Lawin: Ja. Deswegen würde ich nicht sagen, dass ich es bereue. Ich würde | |
niemals hingehen und sagen, genau das ist der richtige Weg. Ich würde | |
sagen, die Person müsse es sich gut überlegen. Aber wenn es jemand tut, | |
dann wäre ich der Erste, der es versteht. | |
29 Jun 2025 | |
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Louisa Eck | |
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