Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Völkerrecht und Demokratie: Gefährliche Gretchenfrage
> Wer die Demokratie schützen will, muss das Völkerrecht wahren. Dieser
> Grundgedanke wird hierzulande nicht konsequent genug verfolgt.
Bild: Normalerweise ist Deutschland vorne mit dabei, wenn es um Völkerrechtsbr…
Die Treue der Bundesregierung zum Völkerrecht erlebt dieser Tage einen
jähen Absturz. Seit 2022 beruht die westliche Unterstützung für die Ukraine
maßgeblich auf der Völkerrechtswidrigkeit des russischen Angriffs. Die
[1][Kritik der Bundesrepublik an den massiven Völkerrechtsverletzungen
Israels im Gazastreifen bleibt dagegen verhalten.] Deutschland liefert
weiter Waffen, Kanzler Friedrich Merz lud den israelischen Premier Benjamin
Netanjahu trotz Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs ein,
Sanktionen auf EU-Ebene scheiterten an Deutschland. Die jüngsten
[2][Angriffe Israels und der USA auf den Iran potenzieren den Konflikt] mit
dem Völkerrecht: Von Regierungen und Experten werden sie weltweit als
völkerrechtswidrig eingestuft – die Bundesregierung hält sich bedeckt und
lässt die Frage, ob Israel Selbstverteidigung üben durfte, bewusst offen.
Völkerrecht, so scheint es, ist für unsere Regierenden nur dann relevant,
wenn es in ihre Agenda passt. Nicht westliche Beobachter werfen Deutschland
schon länger Doppelstandards und selektive Rechtsbrüche vor. Es gibt keine
Völkerrechtspolizei, die solche Vorfälle ahndet. Wozu also das Völkerrecht
wie eine Monstranz vor sich hertragen? Nach einer Position lässt sich
Frieden nur durch universelle Regeln, Institutionen und Verfahren sichern.
Für diesen Standpunkt sprechen zunächst moralische Gründe. Er folgt dem
kantischen Leitbild eines Weltbürgerrechts, das der gleichen Freiheit
aller Menschen entspricht und durch einen weltweiten Staatenbund
abzusichern ist.
Aber auch aus pragmatischer Sicht spricht für diese Haltung, dass selbst
mächtige Staaten nicht jeden Konflikt militärisch austragen können. Das
gilt besonders heute, da kein Staat mehr eine hegemoniale Position genießt.
Mag zwar der russische Imperialismus vor allem ein Problem der Europäer
sein, so dürfte selbst Donald Trump eine chinesische Expansion im
pazifischen Raum skeptisch sehen. Nur gemeinsame Regeln, Institutionen und
Verfahren versprechen hier Abhilfe. An die müssten sich alle halten.
Die Gegenposition singt das Hohelied der staatlichen Souveränität. Danach
lässt sich Frieden auf internationaler Ebene am besten dezentral durch
mächtige Staaten organisieren. Sie kontrollieren jeweils ihre
Einflusssphären und halten sich gegenseitig in Schach, Verständigung
erfolgt nur punktuell. Dies macht das Völkerrecht zwar nicht überflüssig,
weist ihm aber eine gänzlich andere Rolle zu: Es fixiert situative
Kompromisse, die stets unter dem Vorbehalt vitaler Interessen der
beteiligten Staaten stehen.
## Bumerangeffekt des Kolonialismus
Aus pragmatischer Sicht liegen die Vorteile des Souveränismus auf der Hand:
Solange ein Weltstaat unrealistisch bleibt, gibt es Kriege. Da ist
Wehrhaftigkeit Trumpf. Weniger mächtige Staaten verbünden sich mit
mächtigen – oder haben Pech. [3][Das weltmännische Schulterzucken] der
Souveränisten („Realisten“) kann indes nicht ihre moralischen Überzeugung…
verschleiern: Sie halten die Aufteilung der Welt in Staaten gegenüber einem
weltweiten Staatenbund für vorzugswürdig. Fast immer hängt dies mit der
behaupteten Homogenität staatlicher Gesellschaften zusammen. Ob man
Letztere sozialkonstruktivistisch oder ethnonational denkt: Im Ergebnis
ziehen Souveränisten das zur Staatsräson geronnene Recht der Stärkeren der
gleichen Freiheit aller vor.
Die Wahl zwischen beiden Positionen ist eine Gretchenfrage. Die Geschichte
hilft kaum weiter. Der Souveränismus befeuerte im 19. Jahrhundert den
Kolonialismus, bevor er in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs endete.
Der Universalismus inspirierte zwar die Charta der Vereinten Nationen, doch
deren Effektivität steht so sehr infrage wie weitergehende
Weltstaatsphantasien. Das entscheidende Argument für Universalismus ist ein
anderes. Es betrifft die Wechselwirkungen zwischen außenpolitischem Handeln
und demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Kolonialismus verändert auch die
Kolonisatoren, verankert Rassismus und Gewalt in ihren Gesellschaften.
Der Schriftsteller Aimé Césaire und die Publizistin Hannah Arendt sprachen
insoweit vom Bumerangeffekt des Kolonialismus. Er habe autoritäre und
diskriminierende Praktiken eingeübt, auf die im 20. Jahrhundert der
Faschismus baute. Genauso warnten der Religionsphilosoph Jeschajahu
Leibowitz und der Historiker Omer Bartov schon vor Jahrzehnten vor dem
korrumpierenden Effekt der israelischen Besatzung – der sich nun in den
Angriffen der Netanjahu-Regierung auf den Obersten Gerichtshof
materialisiert.
Solche Wechselwirkungen sind auch für Deutschland brisant. Wer grundlegende
Standards im globalen Kontext nicht respektiert, wird sie auch im Innern
leichter über Bord werfen. Ist es Zufall, dass Deutschlands
Völkerrechtsvergessenheit mit der Blüte rechtsautoritärer Kräfte
zusammenfällt? Die Hamas israelischer Rechtsverstöße zu bezichtigen oder
migrationspolitische Fügsamkeit von der Justiz zu fordern, enthumanisiert
und diskriminiert die Betroffenen jeweils im Namen der Staatsräson.
LGBTIQ-Anliegen bleiben unter dem Vorwand staatlicher Neutralität im Regen
stehen, vermeintliche Neutralitätspflichten müssen auch für Einschränkungen
von Wissenschaft und Kunst herhalten, die die Staatsräson kritisch
hinterfragen.
Angriffe auf Völkerrecht und Rechtsstaatlichkeit sind argumentativ
verknüpft. Das Völkerrecht zu beachten, heißt damit auch, unsere Verfassung
zu schützen. Verabschiedet sich die Bundesregierung selektiv vom
Völkerrecht, gefährdet sie die demokratische Rechtsstaatlichkeit. Die
Staatsräson lässt sich für den einen wie den anderen Zweck
instrumentalisieren. Institutionen und Gerichte, die sich entgegenstellen,
drohen delegitimiert zu werden. Ausländische Kolleg:innen werfen
Deutschland vor, Nahostdebatten drehten sich vor allem um uns selbst. Wie
sollte dies auch anders sein, wenn beides zusammenhängt? Achten wir das
Völkerrecht also auch um unserer selbst willen.
11 Jul 2025
## LINKS
[1] /Israel-Iran-Krieg/!6094306
[2] /Dobrindts-Aussagen-zu-Angriffen-im-Iran/!6094460
[3] /Utopie-eines-Israel-Palaestina/!6096028
## AUTOREN
Matthias Goldmann
## TAGS
Neue Bundesregierung
Demokratie
Völkerrecht
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Social-Auswahl
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Iran-Israel-Krieg
Völkerrecht
Völkerrecht
## ARTIKEL ZUM THEMA
Verhandlungen in Nahost: Nicht mehr als eine Pause
Die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas für einen Deal zur
Waffenruhe und zur Freilassung der Geiseln stocken. Auch, weil zentrale
Punkte immer noch ungelöst sind.
taz Talk über Völkerrecht: „Gewalt schließt Dialog aus“
Die Militärschläge auf den Iran durch Israel und die USA werfen die Frage
auf: Was zählt das Völkerrecht in Konflikten? Darum ging es beim taz Talk
in Berlin am Dienstag.
Israel-Iran-Krieg: Wer, wie, was Völkerrecht?
Die Sache mit der Selbstverteidigung ist kompliziert. Was das Völkerrecht
regelt – und wie es in diesem Fall auszulegen ist.
Debatte zum Völkerrecht: Das Recht des Stärkeren
Völkerrechtswidrig oder nicht – die Debatte über die Angriffe der USA und
Israels ist müßig. Nicht Gerichte entscheiden darüber, sondern Staaten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.