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# taz.de -- Mutter-Tochter-Drama: Reichlich Gift im Urlaubsparadies
> In ihrem Filmdebüt „Hot Milk“ über eine ungesunde
> Mutter-Tochter-Beziehung zeichnet Rebecca Lenkiewicz sorgsam Schrullen
> und Narben ihrer Figuren.
Bild: Strandbekanntschaft: Ingrid (Vicky Krieps) und Sofia (Emma Mackey) in „…
Bei Rose (Fiona Shaw) geht es nicht weiter. Im wahrsten Wortsinn: Seit ihre
Tochter Sofia (Emma Mackey) vier Jahre alt war, sitzt Rose im Rollstuhl.
Chronische Schmerzen in allen möglichen Körperteilen diagnostiziert sie
sich selbst, eine Riege Ärzt:innen gab und gibt regelmäßig ihren Senf
dazu und verschreibt so viele Medikamente, dass die Tablettenwochenbox kaum
ausreicht.
Ab und an, sagt die verhärmte Bibliothekarin, könne sie zwar mysteriöser
Weise kurzzeitig ihre Beine bewegen. Doch ohne ihre erwachsene Tochter
Sofia, die ihr Anthropologiestudium in London schon lange pausieren lässt,
um ihre Mutter zu bekochen, ihren Rollstuhl zu schieben, ihr frisches
Wasser zu besorgen und ihre schnippischen Kommentare zu erdulden, würde
Rose eingehen wie eine Primel. Beziehungsweise wie eine 65-jährige Mimose.
Damit es vielleicht doch weitergeht, sind Sofia und ihre Mutter in eine
spanische Küstenstadt gefahren – der Wunderdoktor Gómez (Vincent Perez)
soll Rose helfen. Seine überteuerte Privattherapie besteht zunächst aus
Gesprächen – mit beiden. Denn dass beide Frauen gefangen sind in ihrer
lange gewachsenen, dysfunktionalen Beziehung, dass Sofias co-abhängiges
Verhalten die Übergriffigkeit ihrer Mutter verstärkt und umgekehrt, dass
Psychosomatik sich hier mit Vermeidungstaktiken paart, das sieht, man
verzeihe das drastische Bild, sogar ein Blinder mit Krückstock.
Es ist also eine Mutter-Tochter-Tragödie geradezu Jelinek’schen Ausmaßes,
die die [1][„She Said“]- und [2][„Ida“-Drehbuchautorin] und Dramatikerin
Rebecca Lenkiewicz in ihrer ersten, von Deborah Levys gleichnamigem Roman
adaptierte Kinoarbeit inszeniert. Die beiden hervorragenden
Hauptdarstellerinnen Shaw und Mackey spiegeln sich in ihren körperlichen
Marotten gegenseitig, das permanente Hundegebell im Hintergrund erscheint
wie ein Echo auf die gebellten Befehle Roses an ihre ergebene Tochter.
Die Mimik der verschlossenen jungen Frau konterkariert die unwillkürlichen
Gesichtszuckungen ihrer Mutter. Ein rhythmischer, deutlicher Schnitt (Mark
Towns) unterstreicht die ungesunden Gewohnheiten, im Hintergrund karikiert
eine traurige Melodica (Musik: Matthew Herbert) die Künstlichkeit von
Lambada, die darauf hindeutet, dass man sich ja eigentlich in einem
Urlaubsparadies befindet.
Lange wird die dichte, kaputte Atmosphäre unter der heißen Sonne und vor
vielen halbfertigen Häusern Spaniens von nur wenig Handlung gestört. Doch
dann, als Sofia bei einem ihrer raren Ausflüge mutterlos am Meer vor sich
hin brodelt, folgt der Auftritt Prinz auf weißem Pferd – nur dass das Pferd
ein rotbrauner Fuchs und der Prinz eine weißgekleidete Frau ist: Am Strand
tritt die Touristin und Lebenskünstlerin Ingrid (Vicky Krieps) in Sofias
Leben. Dementsprechende Musik und Kamera lassen das erste und auch das
Wiedertreffen der beiden Frauen wirken wie ein trotzig-selbstbewusstes
Zitat aus „Zärtliche Cousinen“, ganz ohne male gaze: Während Ingrids
70er-Jahre-Kopftuch verwegen im Wind weht, steht Sofia das Verlangen ins
meeresfeuchte Gesicht geschrieben.
Die beiden nähern sich an, finden zueinander – allerdings merkt Sofia
schnell, dass Ingrid eher Wildpferd als braver Ackergaul ist und sich nicht
anbinden lässt. Und der Traumata gibt es ohnehin einfach zu viele. Denn
weder ein paar Liebesnächte mit Ingrid (oder anderen) noch die
Wiederannäherung Sofias an den größtenteils abwesenden griechischen Vater
und damit an eine ihr unbekannte Familie, die ihr von der Mutter
vorenthalten wurde, reichen aus, um das lange Jahre wuchernde Gestrüpp in
Sofias und auch Roses Seele komplett wegzujäten. „Hot Milk“ lässt daran so
wenig Zweifel wie ein:e gute Therapeut:in, die einem aufgibt, weiter an
sich zu arbeiten: Für eine nachhaltige Heilung müsste noch einiges mehr
passieren als ein paar leidenschaftliche Küsse auf der Stranddecke.
Parallel zu Sofias Zeitverlust, den die Langzeitstudierende als unbezahlte,
den Launen und Zuständen ihrer Mutter ausgesetzte Pflegekraft den größten
Teil des Films über spürt, verliert sich der ambitioniert gefilmte „Hot
Milk“ zuweilen dramaturgisch etwas. Die mäandernde Geschichte wirkt, als ob
man wahllos eine Therapietür nach der anderen aufstößt – und hinter jeder
dieser Türen ein anders erschütterndes Ereignis lauert, garniert mit einer
neuen Verletzung Sofias. Doch das Spiel der beiden Frauen und der
Nebendarsteller:innen, zudem die Sorgfalt, mit der Lenkiewicz die
Schrullen, Narben und Eigenheiten sämtlicher Beteiligten beschreibt,
entschädigen dafür satt.
Das Ende schreit nach Eskalation – und obwohl sie thematisch erwartbar ist,
freut man sich, dass Sofia irgendwann ausbricht, von der Baby-
beziehungsweise Muttersitterin zur autarken Erwachsenen, von der
beobachtenden, angehenden Anthropologin zur Täterin wird. Man sagt zwar, es
sei leichter, etwas zu zerstören, als etwas aufzubauen. Aber manchmal ist
das die einzige Möglichkeit.
7 Jul 2025
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## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Frauen im Film
Mutter-Tochter-Beziehung
Regisseurin
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Trauma
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Thalia-Theater
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