# taz.de -- Getötete Jüdin in Israel: Vier Plastiktüten, ein Leben | |
> Eine rumänisch-israelische Frau überlebt den Holocaust, stirbt aber nahe | |
> Tel Aviv durch eine iranische Rakete. Ein Besuch zwischen Trümmern und | |
> Hoffnung. | |
Bild: Auch eine Woche nach dem Angriff ist die Zerstörung noch zu sehen | |
Petach Tikva taz | Unter Tränen sagt Dana Suflet Master: „Wir werden dich | |
ewig lieben.“ Der Körper liegt eingewickelt in ein fliederfarbenes | |
Leinentuch und eine israelische Flagge auf einem Podest aus schwarzem | |
Marmor. Im Kreis um den Leichnam stehen 31 Menschen. Ein Mann mit Kippa | |
hält eine junge Frau in den Armen. Eine Frau in der hinteren Reihe holt aus | |
einer Ecke einen gelben Blumenkranz und legt ihn ab. Ein Rabbiner singt | |
liturgische Lieder. | |
Es ist die Beerdigung von Yvette Shmilovitz, einer 95-jährigen | |
rumänisch-israelischen Frau, die den Holocaust überlebte, doch nicht die | |
iranischen Raketen. Shmilovitz starb am 16. Juni in Petach Tikva, gut zehn | |
Kilometer östlich von Tel Aviv. Eine Woche haben die israelischen | |
Gerichtsmediziner*innen gebraucht, um die sterblichen Überreste zu | |
identifizieren. Am Dienstag, acht Tage nach ihrem Tod, haben sich | |
Shmilovitz’ Angehörige und Bekannte auf dem Friedhof Segula versammelt, um | |
der Holocaust-Überlebenden die letzte Ehre zu erweisen. Ihrer Freundin, | |
ihrer Oma. So wie Dana Suflet Master und ihre Schwester Shirly Hout Master. | |
Beide sind Shmilovitz’ Enkelinnen. | |
Am 16. Juni schoss Iran in der Nacht eine Salve von Raketen in Richtung | |
Israel. Ein Marschflugkörper flog an Israels Luftabwehrraketen vorbei und | |
schlug in Shmilovitz’ Haus ein, zwischen der fünften und vierten Etage. | |
Laut einem Bericht des israelischen Senders KAN befanden sich in dem | |
20-stöckigen Gebäude zwei Bataillon-Verwaltungssitze. Die israelische Armee | |
äußerte sich nicht auf Nachfrage. | |
Die Verwüstungen im Hochhaus sind auch jetzt, eine Woche später, noch | |
sichtbar. In der fünften Etage, auf der Shmilovitz wohnte, sind zwei Zimmer | |
in der rechten Ecke durch die Explosion freigelegt worden, die tragenden | |
Wände liegen nackt da, die inneren Metalldrähte des Stahlbetons zu Knäueln | |
gewunden. An der Ecke des Hauses hat jemand eine israelische Flagge | |
aufgehängt. | |
## Ein Geruch von Zement und Trümmern | |
Mitte Juni hatte Israel Iran überraschend angegriffen, Atomanlagen, | |
Wohnungen von Generälen und Atomwissenschaftlern bombardiert. Erklärtes | |
Ziel war es, Iran am Bau einer Atombombe zu hindern. Zwölf Tage lang | |
beschossen sich die Staaten gegenseitig. In Israel flüchteten Menschen in | |
Bunker und Schutzräume, in Iran beteten die Menschen und schauten in den | |
Himmel. | |
In Shirly Hout Masters Wohnung haben sich zwei Tage nach der Beerdigung | |
Freunde und Verwandte versammelt, um der Verstorbenen zu gedenken, Trost zu | |
spenden. Auf dem Tisch liegen Kuchen, Weintrauben, Gebäck, daneben steht | |
eine Thermoskanne mit schwarzem Kaffee. Enkelin Dana Suflet Master trägt | |
eine pinke Plastiktüte in den Raum. Drinnen: eine Ledertasche, ausgeblichen | |
von Staub und Schutt, Familienbilder, Einkaufszettel, eine Einkaufstasche, | |
ein beigefarbener Mantel und eine Packung Tabletten. Als sie einen | |
Gegenstand nach dem anderen hervorholt, breitet sich ein Geruch von Zement | |
und Trümmern im Raum aus. Vier Plastiktüten sind es insgesamt, was vom | |
Leben ihrer Oma übrigbleibt. | |
Die Tabletten sind Schlafpillen, eine fehlt. Das gibt den Enkelinnen | |
Hoffnung. Dass Shmilovitz sie eingenommen und das Hörgerät vor dem | |
Schlafengehen abgenommen hat. Dass sie deswegen die heulenden Sirenen nicht | |
hörte und friedlich entschlafen ist, ohne Angst. Bei einem solchen | |
Einschlag hätte selbst der Schutzraum kaum einen Unterschied gemacht. „Sie | |
sagte immer: Ich bin alt und habe mein Leben gelebt. Junge Menschen müssen | |
sich auf ihr Leben fokussieren. Dass sie so gestorben ist, ist ein Symbol | |
dafür. Ich möchte denken, dass sie damit vielleicht andere, junge Familien | |
vor diesem Schicksal bewahrt hat“, sagt Shirly Hout Master. So geben die | |
Enkelinnen dem Tod ihrer Großmutter einen Sinn. | |
Shirly Hout Master sitzt in Schwarz gekleidet auf der Terrasse ihrer | |
Wohnung. Es ist ein schöner Sommertag. Am Tag des Angriffs hatte sie ihrer | |
Großmutter wie immer geschrieben, ob alles gut gegangen sei. Diesmal kam | |
keine Antwort zurück. „Du hörst von so etwas, denkst aber nie, dass es dir | |
passieren wird.“ | |
Ihre Schwester wohnt in der Nähe des getroffenen Gebäudes. „Wir hörten die | |
Explosion, mein Gott, es war so nah. Die Wohnung bebte.“ Als es zu Ende | |
war, sah sie, wie sich der Himmel rot gefärbt hatte. Eine Freundin, die im | |
Gebäude ihrer Großmutter lebt, rief sie an. „Komm schnell, komm schnell, | |
unser Haus wurde getroffen.“ | |
Dana Suflet Master rannte, versuchte sich einen Weg zu bahnen zwischen dem | |
Rauch und den Einsatzkräften. Als sie vor dem Hochhaus stand, zählte sie | |
die beschädigten Etagen: eins, zwei, drei, vier, fünf. Und dann noch mal. | |
Und noch mal. „Vielleicht hatte ich mich verrechnet. Doch es kam immer | |
dieselbe Zahl raus.“ Wie eine zweite Mama sei Shmilovitz für sie gewesen. | |
Ihre eigene Mutter, Shmilovitz’ einzige Tochter, starb bereits vor 24 | |
Jahren. | |
Ihre letzte Erinnerung an sie, sagt Dana Suflet Master, ist die von einer | |
heiteren Frau. Klug, freimütig, unabhängig, durstig nach Wissen selbst mit | |
ihren 95 Jahren. Fünf Sprachen habe sie beherrscht, einige davon habe sie | |
sich selbst beigebracht. Europa liebte sie, sowie seine Kultur. Und die | |
Reisen. Viele Reisen, die sie und ihre Familie in den Jahren unternommen | |
haben. | |
„Sie und mein Opa sind überall gewesen, als mein Opa noch lebte. Opa fuhr | |
und sie saß auf dem Beifahrersitz mit der Karte in der Hand“, erinnert sich | |
Shirly Hout Master. „Ich bin mir sicher, als meine Oma ihren letzten Atem | |
tat, wartete mein Opa schon auf sie in einem Audi, mit offener Tür. Ich | |
hoffe sie reisen jetzt weiter zusammen.“ | |
Super-Savta, Super-Oma, habe Shirly Hout Master sie genannt. Denn sie | |
konnte nie richtig verstehen, mit welcher Kraft sie alles Böse, was ihr | |
widerfahren war, einfach hinnehmen und weglächeln konnte. Als Kind, mit | |
zehn, elf Jahren, landete Shmilovitz während der Nazizeit mit ihren Eltern | |
in einem rumänischen Zwangsarbeitslager. Über die Zeit dort habe sie danach | |
kaum geredet. Vielleicht war sie zu jung, um zu begreifen. Vielleicht | |
wollte sie sich nicht an das Grauen erinnern. | |
Nach 1945 lebte sie in Bukarest, verliebte sich, bekam eine Tochter. Eine | |
Zwillingsschwester hatte sie, die dann für ihr Medizinstudium nach | |
Deutschland zog. In Rumänien erlebte die Familie Antisemitismus, doch eine | |
gewisse Sehnsucht nach dem Heimatkontinent blieb trotzdem in Shmilovitz’ | |
Leben. | |
In Israel fühlte sich die Holocaust-Überlebende sicher, auch wenn sie als | |
passionierte Globetrotterin am liebsten nach New York gezogen wäre. | |
Stattdessen kam Shmilovitz während des Yom-Kippur-Kriegs zuerst in eine | |
Kleinstadt an der israelischen Küste, dann nach Petach Tikva, arbeitete | |
hier als Chemikerin in einem Krankenhaus und richtete sich ein neues | |
Zuhause ein. | |
Trotz des Verlustes sieht Shirly Hout Master den Angriff auf Iran als | |
notwendig an. „Wir kämpfen und tun das für den Rest der Welt. Vielleicht | |
wird es sich lohnen und unsere Kinder werden an einem besseren Ort | |
aufwachsen.“ Wie viele Menschen in Israel sehen sie den Krieg als Kampf | |
zwischen Gut und Böse. Laut einer Umfrage unterstützen 83 Prozent der | |
jüdischen Israelis den Angriff auf Iran. Obwohl gar nicht eindeutig belegt | |
ist, dass Iran tatsächlich an einer Atombombe arbeitete, fühlen sich | |
dennoch viele Israelis von Iran existenziell bedroht. Teils mag das das | |
Ergebnis von Irans aggressiver Rhetorik sein, teils von israelischer | |
Propaganda. | |
Es ist schon fast 13 Uhr im Friedhof Segula. Unter der sengenden Sonne | |
schieben jetzt zwei Rabbiner in weißem Hemd und schwarzer Hose die Trage | |
mit Shmilovitz' Leichnamdurch die scheinbar endlosen Straßen des Friedhofs, | |
an denen sich hunderte Grabsteine aneinanderreihen. Hinter ihnen laufen | |
Shmilovitz' Freund*innen und Angehörige. Vorbei an den bunten Gräbern von | |
Soldat*innen, die in den vielen Kriegen gestorben sind, an Gräbern von | |
Menschen, die wie Shmilovitz den Holocaust überlebt haben. | |
Bis hin zu Shmilovitz' letzter Ruhestätte. Die Rabbiner lassen ihren | |
eingehüllten Körper behutsam in das Grab gleiten, dann verschließen sie das | |
Loch und verschütten darauf Erde. Anschließend greifen die Enkelinnen zu | |
den Schaufeln und füllen die heilige Erde weiter auf. So sieht es die | |
jüdische Tradition vor. Der Rabbiner singt rituelle Lieder, adonai, Gott, | |
ertönt immer wieder auf dem verwaisten Friedhof. | |
Enkelin Suflet Master schaut zur Seite, ins Leere, an den Grabstein | |
gelehnt, das Kinn auf die Hand gestützt. Ein trauriger Blick, hin zu den | |
Reihen von Gräbern und weiter zu den Hochhäusern, die Tel Avivs Silhouette | |
prägen. Kampfjets fliegen tief über dem Friedhof, dröhnen in der | |
Entfernung. Die Waffenruhe zwischen Israel und Iran hat gerade begonnen. | |
5 Jul 2025 | |
## AUTOREN | |
Serena Bilanceri | |
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