| # taz.de -- Beate S. über ihre Zeit im Kinderheim: „Wir wurden gebadet, gef�… | |
| > Beate S. wurde in den 1960er und 1970er Jahren in Kinderheime gesteckt, | |
| > weil ihre Mutter alleinerziehend war. Das Vorgehen hatte in Hamburg | |
| > Tradition. | |
| Bild: Beate S. wurde als Kind durch die Heime geschickt | |
| taz: Beate S., warum kamen Sie als Kind in Hamburg ins Heim? | |
| Beate S.: Ich war die Tochter einer Alleinerziehenden. Was man wissen | |
| muss: Diese Frauen waren bis 1978 nicht geschäftsfähig. Mütter, die | |
| alleinstehend waren, standen unter Beobachtung der Behörde und galten als | |
| abnorm und sexuell gefährdet. | |
| taz: War Ihre Mutter ledig? | |
| Beate S.: Nein, sie war viermal verheiratet. Wenn meine Mutter nicht | |
| verheiratet war oder wenn sie im Krankenhaus gewesen ist, dann kamen ihre | |
| Kinder ins Kinderheim. In meinem Fall entschied die Fürsorge, dass die enge | |
| Bindung zwischen mir und meiner Mutter ungesund sei. So steht es in allen | |
| Akten. | |
| taz: Galt Ihre Mutter als nicht erziehungsfähig? | |
| Beate S.: Sie war einfach eine junge Frau, eine Seefahrerstochter. Die | |
| galten alle und grundsätzlich als gefährdet, weil die Männer ein | |
| Dreivierteljahr auf See waren. | |
| taz: Was heißt gefährdet? | |
| Beate S.: Es wurde unterstellt, dass sie sexuell freizügig war. Sie hatte | |
| Liebhaber. Gegenüber der Fürsorge waren es Verlobte. Sie war schön, | |
| lebenslustig und politisch. Im Hamburger Schanzenviertel lebten die | |
| Seefahrerfrauen. Sie waren gewohnt, im Kollektiv zu sein, Wäsche zu | |
| waschen, Kinder zu betreuen und arbeiten zu gehen. Das war ein freizügiges | |
| Leben für die Frauen. Aber waren sie geschieden, dämmte die Fürsorge den | |
| Freiheitsdrang ein, weil es eine Vorstellung gab, was eine gute Mutter ist. | |
| Die hat keinen vorehelichen Sex. | |
| taz: Waren Sie Ihrer Mutter nah? | |
| Beate S.: Ja. Ich war als Kleinkind oft krank, da hat sie sich sehr | |
| gekümmert. Sie ging auch mit uns auf den Spielplatz, wir machten Ausflüge. | |
| Meine Mutter war die zentrale Konstante. Bei ihr fühlte ich mich geborgen. | |
| Sie war eine tolle Mutter. Aber diese Tanten von der Fürsorge kamen einfach | |
| und hatten Listen dabei, was alles nicht in Ordnung sein sollte. | |
| taz: Weil sie alleine erzog? | |
| Beate S.: Ja. Meine Mutter lachte laut in der Öffentlichkeit. | |
| Selbstverständlich ging sie tanzen. Aber griff die Polizei die Frauen nach | |
| 21 Uhr in der Diskothek auf und sie wusste „alleinerziehend gemeldet“, nahm | |
| sie sie zwei Tage in Sittenhaft. Das gab’s. Viele Mädchen im Kinderheim | |
| waren da, weil die Mutter nachts aufgegriffen wurde. Es machte dann auch | |
| die Sittenpolizei die Wohnungen auf und nahm die Kinder raus. Diese | |
| Fürsorgerinnen waren damals ungemein mächtig. Sie entschieden, ob bei uns | |
| aufgeräumt ist oder nicht. Und die sagten meiner Mutter: Um 7 Uhr muss es | |
| Frühstück geben und 12 Uhr Mittag, und wenn nicht, drohten die Kinder zu | |
| verwahrlosen. Die guckten gar nicht, ob es uns gut geht. Eine Verfehlung | |
| war, dass ich eine Hose trug. Und dann haben sie die Kinder im wahrsten | |
| Sinne des Wortes entführt. | |
| taz: Wie entführt? | |
| Beate S.: Wir Kinder vom Schulterblatt nannten das so. Wenn diese Tanten | |
| von der Fürsorge kamen, dann riefen wir uns zu: Sie sind wieder da, sie | |
| klauen! Dann versteckten wir uns. Die sind wirklich rumpelig da | |
| rumgetrampelt. Da kam immer ein Wagen mit Fahrer und zwei Fürsorgerinnen | |
| drin. Und die brachten die Kinder irgendwohin, und manchmal nach drei Tagen | |
| wieder nach Hause. Das war furchtbar. Du warst in einer anderen Welt, und | |
| hattest Heimweh und schlecht behandelt haben sie uns auch. | |
| taz: Wie hieß das erste Heim, in dem Sie länger lebten? | |
| Beate S.: Am besten erinnere ich mich an das Kinderheim Am Burgberg. Da war | |
| ich mehrmals zwischen sieben und zehn. Etwa 16 Kinder in einem Schlafsaal. | |
| Es ging da recht ritualisiert und militärisch zu. Wir mussten immer in | |
| Zweierreihen antreten. Die Heimleiterin war so eine alte Nazitante. Eine | |
| hagere Frau mit schriller Stimme. Passte ihr was nicht, stürmte sie aus | |
| ihrem Zimmer und ohrfeigte die Kinder, schüttelte sie und schrie sie an. | |
| taz: Gab es auch nette Erzieher? | |
| Beate S.: Es stellte sich nie ein Erzieher gegen diese Heimleitung. Aber es | |
| gab einen Schrank mit schöner Kleidung. Wir wurden gebadet, geschrubbt, | |
| geföhnt und umerzogen. | |
| taz: Wann sind Sie wieder zu Ihrer Mutter gekommen? | |
| Beate S.: Wenn meine Mutter geheiratet hat, dann kamen wir wieder zu ihr. | |
| Wenn sie alleinstehend war, kam die Fürsorgebehörde und hat sie ins | |
| Krankenhaus Ochsenzoll gesteckt, weil die davon ausgingen, wenn man sie mit | |
| Stromstößen und Kaltwasserbädern behandelt, würde sie endlich normal sein. | |
| Wir kamen ins Kinderheim. | |
| taz: Wie schrecklich! | |
| Beate S.: Und dann, als ich neun war, tauchte plötzlich der zweite Ehemann | |
| meiner Mutter mit seiner neuen Frau auf. Die beiden sagten: Kannst bei uns | |
| wohnen. Und da die auch im Schanzenviertel wohnten, dachte ich: Das ist ja | |
| super, da bin ich gleich um die Ecke bei meiner Mutter. Wir zogen dann kurz | |
| nach meiner Ankunft um, nach Steilshoop. Ab dann wollte ich zurück ins | |
| Heim zu meiner Schwester. | |
| taz: Was haben Sie gemacht? | |
| Beate S.: Ich ging zur Kinderfürsorge und sagte, dass ich da schlecht | |
| behandelt werde und dass ich ins Heim möchte oder zur Mutter. Dann starb | |
| sie 1974, kurz nachdem sie mal wieder aus dem Krankenhaus kam. Damit war | |
| das ausgeschlossen. Ich habe der Fürsorge von Misshandlungen und sexuellem | |
| Missbrauch erzählt. Mir wurde nicht geglaubt. | |
| taz: Wie alt waren Sie? | |
| Beate S.: Zehn. Ich wohnte bei dieser Pflegefamilie, lief dort aber oft | |
| weg. Also, mal schlief ich bei Freundinnen von meiner Mutter, mal in einer | |
| Kirche neben den Obdachlosen. | |
| taz: War es so schrecklich bei dem Pflegevater? | |
| Beate S.: Da war Kindesmisshandlung an der Tagesordnung. Auch sexueller | |
| Missbrauch. Und diese Frau war herrisch und gewalttätig. Ich musste die | |
| ganze Hausarbeit machen und sie Mama nennen. Das tat ich nicht. Also lief | |
| ich immer wieder weg und die Polizei griff mich auf. So kam die | |
| Pflegefamilie auf die Idee, mich in die Feuerbergstraße zu stecken. | |
| taz: Die Feuerbergstraße war das geschlossene Mädchenheim in Hamburg. Und | |
| da waren Sie? | |
| Beate S.: Nein, aber meine Schwester Anna*. Im Kinderheim Am Burgberg waren | |
| wir noch zusammen. Meine Schwester wollte, dass ich wiederkomme und machte | |
| Stress, sodass sie in ein anderes Kinderheim verlegt wurde. Nun wollte die | |
| Pflegefamilie auch Anna nehmen und sie kam an zwei Wochenenden zur | |
| Eingewöhnung. Da bekam sie mit, was da ablief. Das erzählte sie im | |
| Kinderheim den Erziehern. Die Pflegefamilie sagte, meine Schwester lüge und | |
| hätte gestohlen. Ich wurde dazu nicht gehört. | |
| taz: Und deshalb kam Anna in die Feuerbergstraße? | |
| Beate S.: Meine Schwester hatte echt ein Problem. Wenn sie richtig wütend | |
| wurde, hat sie ihre ganze Gruppe zerlegt. Und dann steckten die sie in die | |
| Feuerbergstraße. Mit elf. In der Feuerbergstraße war sie das Küken. | |
| taz: Ihnen drohte es auch? | |
| Beate S.: Allen Mädchen im Heim wurde ständig angedroht: „Fräulein, noch | |
| einmal, dann bist du in der Feuerbergstraße.“ Und warst du erst mal dort, | |
| kamst du da nicht wieder raus. Auch Anna kam von dort direkt in ein | |
| Frauenhaus. So lief die Kette ab. | |
| taz: Als Sie hörten, Anna ist dort, was dachten Sie da? | |
| Beate S.: Ich war froh, dass es dichtbei war und dass ich da zu Fuß | |
| hingehen konnte. Ich wusste ja nicht, wie das von innen aussieht. Ich | |
| fragte in dieser Familie: Besuchen wir Anna? Aber das wurde verneint. Sie | |
| würde ja lügen. Da besuchte ich sie allein. Ich konnte Stadtpläne lesen, | |
| das hatte meine Mutter uns noch beigebracht. Es war nicht weit. Einmal | |
| durch den Friedhof rüber, zack, war ich da. | |
| taz: Und dann? | |
| Beate S.: Ich klingelte. Dann betrat ich einen engen Flur mit Pförtnerloge. | |
| Ich sagte, ich will meine Schwester besuchen. Ich forderte: „Ich will da | |
| jetzt rein“, und blieb stehen. Irgendwann holte mich ein Erzieher ab. Er | |
| lief hinter mir und zeigte damit die Richtung an: Links, rechts, geradeaus. | |
| Dann wurde Annas Zelle aufgeschlossen. Sie war natürlich erfreut, mich zu | |
| sehen. Aber sie dachte, ich wäre jetzt auch eingewiesen. Annas Zimmer war | |
| eng und ließ sich nur von außen öffnen und verriegeln. Vor den Fenstern | |
| waren Gitter. Nur die obere Klappe ließ sich öffnen. Dann gingen wir in den | |
| Gruppenraum. | |
| taz: Konnten Sie frei reden? | |
| Beate S.: Wir blendeten die anderen einfach weg. Ich sagte ihr: Ich will | |
| wieder ins Kinderheim. Da sagte sie: Aber nicht hierher, nicht hierher. Ich | |
| soll sie nicht mehr besuchen. Das wäre kein guter Ort für mich. Zum | |
| Beispiel wegen der Rockerbanden. | |
| taz: Die Rockerbanden? | |
| Beate S.: Die parkten da gerne, wenn sie ihre Freunde in Fuhlsbüttel im | |
| Knast besuchten. Wenn die Mädchen der Feuerbergstraße Ausgang hatten, zum | |
| Einkaufen waren oder so, haben sie die da vor dem Tor abgefischt, ganz | |
| normal. Die standen da mit ihren Motorrädern und luden die Mädchen ein, | |
| mitzufahren. Und dann machten sie einen auf Loverboy und schickten sie auf | |
| den Strich, mit übelster Gewalt. | |
| taz: Sie kamen nicht wieder? | |
| Beate S.: Anna gab mir zu verstehen, dass ich sie nicht besuchen darf. Ich | |
| lief aber immer wieder von zu Hause weg. Diesmal kam ich in die | |
| Averhoffstraße. Das war auch ein geschlossenes Heim. Aber ich war froh | |
| darüber, dass es diese Tür gab, die man nicht öffnen konnte. Ich dachte: | |
| Super, die kommen hier nicht rein. | |
| taz: Wie lange blieben Sie? | |
| Beate S.: Vier Monate. Dann machte der Lehrer der Heimschule dort Druck, | |
| dass ich wieder zur Schule gehen soll. Es war ein Auffangheim. Ich durfte | |
| mit meiner Schwester telefonieren und auch mein leiblicher Vater durfte | |
| mich besuchen. Aber ich durfte nicht raus. Für mich war das in der | |
| Situation gut. Ich musste nicht arbeiten, niemand schlug mich, niemand | |
| beleidigte mich. Ich bekam gutes Essen. Wir hatten 1976. Und es war in | |
| dieser Averhoffstraße nicht mehr so schlimm wie Am Burgberg. | |
| taz: Zog ein neuer Geist ein? | |
| Beate S.: Ja. Die Erzieher waren junge Leute, Freaks. Und der einzig | |
| Strenge war der Lehrer. Dann durfte ich einen Ausflug ins Einkaufszentrum | |
| machen. Dafür kam extra eine Erzieherin mit. Die ließ mich immer mal wieder | |
| stehen, um zu testen, ob ich weglaufe. Tat ich nicht. Dann durfte ich den | |
| Müll runterbringen. Auch da lief ich nicht weg. Ich war dort unter | |
| Beobachtung. | |
| taz: Wie ging es weiter? | |
| Beate S.: Ich kam in ein Kinderheim in Hamburg-Bergedorf. Aber dort war die | |
| Gewalt untereinander ein Problem. Es gab da Clans, die Kinder erpressten | |
| und mobbten und auch sexuellen Missbrauch. Ich ging dort zur Heimschule, | |
| nur ganz kurz, weil wieder ein Lehrer intervenierte und vorschlug, dass ich | |
| aufs Gymnasium komme. Aber ich wollte auf eine Gesamtschule. Da sagten die, | |
| wenn ich sie selbstständig finde, kannst ich da hin. | |
| taz: Also haben Sie wieder in den Stadtplan geguckt? | |
| Beate S.: Ich fragte einfach den Busfahrer. Der beschrieb mir den Weg, die | |
| Gesamtschule wäre ein orangener Klotz. Da fuhr ich Viertel vor sieben los, | |
| ging zum Hausmeister und sagte: „Ich bin jetzt hier eingeschult“. Und dann | |
| brachte er mich direkt zum Schulleiter. Der fand es großartig, dass ich | |
| überhaupt da war. | |
| taz: Der hat Sie unterstützt? | |
| Beate S.: Es interessierte ihn, wie es mir in diesem Kinderheim geht. Er | |
| sagte, wenn ich Probleme hätte: „Meine Tür ist offen.“ Sie war auch immer | |
| offen. Und dann war ich in meiner Klasse und total froh, weil ich bis | |
| nachmittags Unterricht hatte, sodass die Verweildauer im Heim kurz war für | |
| mich. | |
| taz: Und wie kamen Sie in die Jugendwohngruppe? | |
| Beate S.: Irgendwann tauchten Hippies auf. Die stürmten das Kinderheim und | |
| redeten mit uns. Ich selbst war in einer Antifa-Kindergruppe. Darüber | |
| lernte ich den Politiker Thomas Ebermann kennen, und über ihn kam die Frage | |
| auf: „Willst du in einer WG wohnen?“ Und es gab einen Sozialarbeiter mit | |
| Latzhose, der gründete einen Verein und mietete die ersten zwei | |
| Jugendwohnungen in unserem Stadtteil an. Und dann machten sich | |
| Sozialarbeiter und Schulpsychologen stark für mich. Ich hatte ein | |
| richtiges Netzwerk und war auch Schulsprecherin. | |
| taz: Wie war das Leben in der Jugendwohngruppe? | |
| Beate S.: Na, ich wohnte da. Und noch eine Schülerin meines Jahrgangs und | |
| einer, der Erzieher lernte. Und auch das Baby meiner Schwester zog mit ein. | |
| Anna konnte sich nicht um sie kümmern. Als ich 18 war, zog ich in eine | |
| richtige WG. | |
| taz: Wann befassten Sie sich wieder mit Ihrer Heimzeit? | |
| Beate S.: So mit 27. Der frühe Tod meiner Mutter war traumatisch für mich. | |
| Ich dachte, ich werde nicht älter als dreißig. Da begann ich eine Therapie. | |
| Dort ist natürlich die Heimzeit aufgeploppt, auch mit heftigen Reaktionen. | |
| Aber meine Therapeutin klammerte das erst mal aus und leitete mit mir den | |
| Trauerprozess über den Tod meiner Mutter ein. Wir fanden Rituale für mich. | |
| In dieser Zeit traf ich einen Erzieher und er fragte, was ich jetzt so tun | |
| würde. Ich sagte ihm, dass ich Kurse für Arbeitslose vom Arbeitsamt leite. | |
| Er fragte mich, ob ich verstehen würde, was im Kurs vermittelt wird. Er hat | |
| mir nicht geglaubt, dass ich diesen Kurs leite. | |
| taz: War der Erzieher nett? | |
| Beate S.: Ja, aber er hatte gleich wieder diese Kümmerperspektive. „Ach, du | |
| kannst es mir doch jetzt echt sagen. Du siehst doch gut aus. Du nimmst doch | |
| nicht mal Drogen.“ Und ich so: „Hä? Ich habe Jura studiert.“ Ich war | |
| fassungslos, so angesprochen zu werden. | |
| taz: Wie kamen Sie dazu, sich mit der Geschichte der Hamburger Fürsorge zu | |
| befassen? | |
| Beate S.: Das war 2014, als die Entschädigungsverfahren für die | |
| Heimzöglinge liefen. Ich hatte zu Mädchen aus den Kinderheimen noch | |
| Kontakt. Wir haben uns beraten und beantragten diese Entschädigung. Die | |
| Behörde forderte Belege, dass wir Heimkinder waren. Und wir sollten | |
| aufschreiben, wann, wie, wo, durch welche Handlung wir beschädigt wurden. | |
| Aber wie das so ist, wenn du das Trauma reaktivierst, dann hast du alle | |
| deine Gefühle wieder. Ich ging zu Anna und sagte, da gibt es 10.000 Euro, | |
| die kannst du brauchen. Sie sagte nur: „Kommt nicht in die Tüte.“ Sie hät… | |
| darlegen müssen, was ihr dort passierte, worin die Misshandlungen lagen. | |
| Das hat sie psychisch nicht geschafft. | |
| taz: Hätte Anna Anspruch auf Entschädigung gehabt? | |
| Beate S.: Sie war viel häufiger im Kinderheim als ich. Sie bekam viel mehr | |
| ab. Bei mir gab es immer Freundinnen meiner Mutter, die sagten, du kannst | |
| bei mir bleiben. Aber meine Schwester wollte schon mit sieben einfach | |
| allein zu Hause bleiben. | |
| taz: Und das klappte nicht? | |
| Beate S.: Nein, sie wurde dann von der Fürsorge ins Heim gebracht, bis | |
| unsere Mutter entlassen worden ist. Ihr ging es in der Psychiatrie in | |
| Ochsenzoll nicht gut. Anna war später selber dort und hat aus der Akte dort | |
| Bilder bekommen. Bevor meine Mutter dort reinkam, sah sie ganz anders aus | |
| als hinterher. | |
| taz: Im Haus der Feuerbergstraße sitzt heute Hamburgs Kinder- und | |
| Jugendnotdienst. Ein passender Ort? | |
| Beate S.: Es ist nicht der Ort, der mich anwidert, sondern was da geschehen | |
| ist. Das Konzept für das erst 1983 geschlossene Mädchenheim stammt von | |
| Käthe Petersen; meine Schwester hat das noch zu spüren bekommen. | |
| taz: Käthe Petersen, die Leiterin des Landesfürsorgeamts, hatte in der | |
| NS-Zeit bei der Hamburger Sozialbehörde Karriere gemacht. | |
| Beate S.: Nach 1945 wurde das Kinder- und Jugendgesetz nicht geändert, bis | |
| 1978 hat die Fürsorge mit Konzepten aus dem NS-Recht gearbeitet. Das | |
| erklärt die Sprache und die ganze Haltung der Fürsorgefrauen und auch die | |
| Pädagogik in den Heimen. | |
| taz: Welche Sprache meinen Sie? | |
| Beate S.: In meiner Heimakte steht, ich sei „schwachsinnig“. Meine Mutter | |
| und meine Schwester sollen auch schwachsinnig gewesen sein. „Schwachsinnig“ | |
| und „sozial verwahrlost“. Auf der Akte meiner Mutter stand mit großen | |
| Buchstaben „HWG“, das steht für „Häufig wechselnder Geschlechtsverkehr�… | |
| taz: Sie wollten für sich kein Geld, sondern eine Entschuldigung für die | |
| üble Zeit in den Heimen. | |
| Beate S.: Ich verdiene heute in der Wirtschaft gutes und eigenes Geld und | |
| leide keine Not. Eine Freundin, die auch im Heim war, hatte Miet- und | |
| Energieschulden. Die saß mit ihren Kindern im Dunkeln. Aber so etwas durfte | |
| man mit der Entschädigung nicht bezahlen. Das Amt für Entschädigung hat | |
| dirigiert, was man damit machen darf und was nicht. Es musste jeder Cent | |
| der Ausgabe mit Kassenbon belegt werden. Das ist demütigend. | |
| taz: Das wollten Sie nicht. | |
| Beate S.: Ich telefonierte mit dem Leiter dort und sagte, ich will eine | |
| schriftliche Entschuldigung für all die Jahre. Auch für das, was sie | |
| unseren Müttern antaten. | |
| taz: Kam die Entschuldigung? | |
| Beate S.: Auf Papier, ein paar Standardsätze ohne konkretes Bedauern. | |
| taz: Gehen Sie heute offen mit Ihrer Lebensgeschichte um? | |
| Beate S.: Inzwischen nicht mehr. Denn dann werde ich in der Regel sofort | |
| herabgewürdigt. Auch linke Akademiker fangen an, einen kleinzumachen. | |
| Geliebte werden respektlos und gewalttätig, Lehrkräfte der Kinder machten | |
| aus mir eine Hartz-4-Empfängerin. Beruflich hat mich diese Tatsache daran | |
| gehindert, irgendwo eine Anstellung zu finden. Deshalb bin ich | |
| selbstständig tätig. Was wirklich hilft, ist Selbstwirksamkeit über die | |
| politische Arbeit. Und ein selbstbestimmtes Leben. | |
| * Name geändert | |
| 7 Jul 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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