| # taz.de -- Buch über Résistance-Kämpfer: Eine Epoche, in der Mut und Nieder… | |
| > Hervé Le Telliers neues Buch „Der Name an der Wand“ nähert sich einem | |
| > unbekannten Partisanen der französischen Résistance auf hinreißende | |
| > Weise. | |
| Bild: Das undatierte Foto zeigt einen unbekannten Kämpfer des französischen M… | |
| Es ist ein unscheinbares Ereignis, das andere vielleicht nebenbei | |
| registriert und sofort wieder vergessen hätten, den Autor Hervé Le Tellier | |
| aber aufmerken und in eine Geschichte eintauchen lässt, deren Spuren nach | |
| über achtzig Jahren verwischt sind. Le Tellier, dessen letzter Roman „Die | |
| Anomalie“ in 44 Sprachen übersetzt wurde, begibt sich in seinem neuen Buch | |
| „Der Name an der Wand“ auf eine Reise in die Region Auvergne-Rhône-Alpes, | |
| wo er ein Landhaus sucht und auch findet, in dem er sich niederlassen will. | |
| Auf dem Rohputz ist ein Name geritzt und seine verwitterten Großbuchstaben | |
| verraten, dass er da schon lange steht: ANDrÉ CHAIX. Nur wenige Meter vom | |
| Haus entfernt steht ein Denkmal: Es trägt die Inschrift: „Gefallen für | |
| Frankreich. Zum Gedenken an die Söhne von Montjoux.“ Darunter findet sich | |
| ebenfalls der Name „André Chaix“, ein Mann des Maquis war er also, der | |
| französischen und belgischen Partisanen, die sich im Zweiten Weltkrieg in | |
| Wäldern und Bergen versteckten. Zwanzig Jahre wurde er alt. Das ist alles, | |
| was Le Tellier zunächst von dem Unbekannten weiß, ein Name auf einem Stein. | |
| Le Tellier ist seit 1992 Mitglied der Autorengruppe [1][Oulipo], einer Art | |
| Werkstatt für potenzielle Literatur, der unter anderem Georges Perec und | |
| Italo Calvino angehörten. Der in die Wand geritzte Name geht Le Tellier | |
| nicht aus dem Kopf. Er fängt an, seine Motive zu reflektieren, bis es ihm | |
| schließlich zur „Notwendigkeit“ wird, über André Chaix zu sprechen, gera… | |
| weil dieser junge Mann für einen Historiker eher uninteressant ist, denn in | |
| den Archiven wird man nichts finden. Die Hinweise auf seine Person sind | |
| spärlich, ein Name, ein Geburts- und ein Todesdatum und die Tatsache, dass | |
| er Soldat der Forces françaises de l’intérieur gewesen war. Gerade das | |
| aber, was einen Historiker abschrecken würde, fasziniert Le Tellier. | |
| ## Ein Flugblatt, ein paar Fotos und eine Zigarettenspitze | |
| Der Autor fängt mit dem Tod von André Chaix an, nicht mit dessen Geburt, er | |
| umkreist die Todesumstände, das kurze Gefecht mit den Nazis, ein | |
| Hinterhalt, in dessen Verlauf André Chaix und andere Maquisards erschossen | |
| werden. Von den Organisatoren einer Ausstellung über den Widerstand in der | |
| Drôme erhält Le Tellier eine kleine, postkartengroße Pappschachtel. Das ist | |
| alles, was von André Chaix geblieben ist, aber diese persönlichen | |
| Gegenstände ermöglichen einen neuen Blick auf ihn. Le Tellier fühlt sich | |
| wie ein „Grabschänder“, als er die Schachtel öffnet. Sie enthält unter | |
| anderem einen Personalausweis, eine Arbeitsbescheinigung, einen | |
| Zeitungsausriss von der Trauerzeremonie 1949, zwei Briefe an seine Eltern, | |
| ein Flugblatt, ein paar Kontaktabzüge von Fotos und eine Zigarettenspitze. | |
| Le Tellier breitet seinen Fund vor uns aus, skrupulös, zurückhaltend, fast | |
| schon andächtig. Er weiß jetzt, wie André aussieht, der, an einen Baum | |
| gelehnt, „Selbstgewissheit“ ausstrahlt, mit einem offenen Blick, einer | |
| athletischen Figur und einem Schauspielergesicht, das den Autor an Jean | |
| Gabin oder Burt Lancester erinnert. Le Tellier tastet sich weiter vor, er | |
| begibt sich auf den Weg zur Werkstatt, in der André gearbeitet hat, er | |
| besucht das Gotteshaus, die Bäckerei, an denen André täglich vorbeigegangen | |
| sein muss, und er versteht es in verzaubernder Weise, das unbeschwerte | |
| Leben eines jungen Mannes entstehen zu lassen. | |
| Langsam steigt Le Tellier von Konkreten zum Allgemeinen empor, vom kleinen | |
| Detail zum großen Ganzen, ohne, wie es dem induktiven Denken anhaftet, eine | |
| Regel daraus abzuleiten. Er überlegt etwa, wie sich André in dem Gewirr des | |
| Widerstands zurechtgefunden hat, denn diesen beschreibt Le Tellier als | |
| „Sternennebel“, der nur langsam zu seinem Zentrum findet, zum gemeinsamen | |
| Nenner, gegen den „Boche“, den deutschen Besatzer, zu kämpfen. Was aber | |
| heißt es, dass zur Hinterlassenschaft Andrés ein Flugblatt des Comité | |
| national des écrivains gehört, dem auch Paul Éluard und Jean-Paul Sartre | |
| angehörten? | |
| ## Die Tonspur ihrer Existenz | |
| Die Deutschen hatten Paris besetzt, und Le Tellier versucht die Atmosphäre | |
| zu beschreiben, als André vielleicht noch gar nicht daran dachte, sich dem | |
| Widerstand anzuschließen. Der Autor stellt sich vor, wie André und Simone, | |
| die Frau, die er liebt und die er heiraten will, lachen, singen, tanzen und | |
| ins Kino gehen. Er hat nachgeforscht, „was die Tonspur ihrer Existenz | |
| gewesen sein könnte“, was sie im Kino angesehen, im Radio und auf dem | |
| Grammofon angehört haben könnten. Vielleicht Édith Piaf und „La Tour Eiffel | |
| est toujours là“, das sie im Moulin Rouge gesungen hat? Damals kam für die | |
| Deutschen eine Schließung der Restaurants, Theater, Music Halls und | |
| Bordelle nicht in Frage, weil Paris ein „Ort der Entspannung“ bleiben | |
| sollte. | |
| Viele Schauspieler und Regisseure sind in Paris geblieben. Sie haben Teil | |
| am goldenen Zeitalter des französischen Films, weil die konkurrierenden | |
| amerikanischen Produktionen von den Leinwänden verschwinden, auch wenn für | |
| Juden in diesem Gewerbe gilt, was Billy Wilder einmal auf die Frage, ob er | |
| Optimist oder Pessimist sei, geantwortet hat: „Pessimist. Die Pessimisten | |
| sind in Hollywood, die Optimisten sind in Auschwitz gelandet.“ Le Tellier | |
| schweift ab ins Allgemeine, ins große Ganze, er reflektiert, wie die | |
| Bereitschaft der Deutschen, Hitler zu folgen, zustande kommen konnte, und | |
| wie die Bereitschaft der Franzosen, mit den Deutschen zu kollaborieren, | |
| obwohl niemand dazu gezwungen wurde, in den KZs Dienst zu tun oder Juden | |
| aufzuspüren, um sie der deutschen Vernichtungsmaschinerie zu übergeben. | |
| Er geht auf [2][Christopher Browning]s Buch „Ganz normale Männer“ ein und | |
| auf dessen Befund, dass Gruppenzwang und Unterwerfung unter die Autorität | |
| „gewissenlose Mörder am Fließband produzieren“, und dass diese Unterwerfu… | |
| auch die „Schleusen der Barbarei“ für Polen, Litauer, Ukrainer und andere | |
| geöffnet habe. | |
| Dabei hat sich Le Tellier nur scheinbar von André entfernt, denn André war | |
| offenkundig unempfindlich für all den Hass, den diese Leute gesät haben. Er | |
| verweigerte ganz selbstverständlich, wie Hannah Arendt einmal geschrieben | |
| hat, seine Beteiligung an dem Morden, „weil er nicht willens war, mit einem | |
| Mörder zusammenzuleben – mit sich selbst“. Le Tellier hat André ein | |
| kleines, filigranes Denkmal errichtet, er hat für ihn eine Epoche erkundet, | |
| „in der Großherzigkeit und Mut mit Egoismus und Niedertracht eng | |
| beieinanderlagen wie nur selten“. Es ist ihm ein hinreißendes Buch | |
| gelungen, in dem man sich lange verlieren möchte. | |
| 30 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Bittermann | |
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