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# taz.de -- Die Alternativen der Täter
> Lange währte der Streit, ob der Massenmord an den europäischen Juden von
> oben befohlenwurde oder fast führungslos eskalierte. Diesen Disput hält
> Christopher Browning heute für erledigt
von CHRISTIAN SEMLER
Mit seinem Werk „Judenmord“ ist der britische Historiker Christopher
Browning auf ein Terrain zurückgekehrt, auf dem sich einst die großen
Auseinandersetzungen zwischen den „Intentionalisten“ und den
„Funktionalisten“ zutrugen.
Damals ging der Streit um die Frage, ob der Massenmord an Europas Juden ein
Verbrechen gewesen sei, das von der Naziführung mit Hitler als überragender
Figur schrittweise und zielbewusst ins Werk gesetzt wurde, wie die
Intentionalisten es sehen. Oder ob dieser Mord sich nicht vielmehr als
Produkt einer chaotischen Entwicklung darstellte, eines kumulativen, nahezu
führungslosen Radikalisierungsprozesses – so die Fuktionalisten. Beide
Schulen betonten den mörderischen Vorsatz, aber wo die Intentionalisten
eine klare Strategie sahen, erschien den Funktionalisten der schließliche
Massenmord mehr als Befreiungsschlag, mit dessen Hilfe sich die Nazis aus
den von ihnen selbst geschaffenen Sackgassen einen Weg bahnen wollten.
Wie die meisten Zeithistoriker ist Christopher Browning heute der Ansicht,
dass die Frontlinien von damals sich aufgelöst haben. Seine neue Arbeit,
Produkt einer Vorlesungsreihe von 1999, stellt ein relativ breites Feld von
Übereinstimmung fest. Es gab zwar ein In- und Gegeneinander örtlicher,
regionaler und zentraler Instanzen, ein Art Trial and Error, ein
mörderisches Vorpreschen mit nachträglicher Billigung von oben. Hier
verweist Browning auf eine Reihe neuer, regionaler Arbeiten und liefert
auch selbst eine instruktive Fallstudie. Aber es gab eben auch einen
Entscheidungsprozess innerhalb der zentralen Naziführung zum Judenmord.
Umstritten sind die einzelnen Phasen dieses Prozesses, auch der Charakter
der mörderischen Entscheidung selbst.
Nach Brownings Meinung bezeichnen der Juli und der Oktober 1941 die
wichtigsten der fatalen Daten. Als mit Beginn des Vernichtungsfeldzugs
gegen die Sowjetunion beschlossen wurde die sowjetischen Juden zu ermorden,
sei der Rubikon überschritten worden. Der Siegestaumel angesichts des
raschen, scheinbar unwiderstehlichen Vomarschs der Wehrmacht brachte
schließlich im Oktober den Entschluss zur „Ausmerzung“ der europäischen
Juden. Mit diesem Versuch der Festlegung grenzt sich Browning gleichzeitig
von zwei Konzepten ab: zum einen von dem des Historikers Peter Longerich,
der das Jahr 1939 für entscheidend hält; denn damals seien die Grundlagen
der Vernichtungspolitik gelegt und auch die verschiedenen Varianten des
Vernichtungsprojektes „Judenreservat“ entwickelt worden – vom
„Nisko“-Projekt in Südostpolen über das „Madagaskar“-Projekt bis zu d…
Aussicht genommenen „Reservat“ in der Sowjetunion. Zum anderen von der
These Christian Gerlachs, das entscheidende Datum sei der 12. Dezember
1941. An diesem Tag habe Hitler vor hohen Würdenträgern in der
Reichskanzlei den Massenmord angeordnet, dies sei de facto der
„Führerbefehl“ gewesen, dessen schiere Existenz so lange bestritten worden
sei. Mit dem Befehl, so Gerlach, habe Hitler die Konsequenz aus dem
Kriegseintritt der USA und dem Stocken der Wehrmachtsoffensive vor Moskau
gezogen.
Browning ist sich im Klaren darüber, dass es trotz vieler neuer Funde in
sowjetischen und osteuropäischen Archiven immer noch darum geht, von
späteren Verhaltensweisen, Besprechungen, Reden, Tagebucheintragungen,
Terminkalendern auf Ereignisse zurückzuschließen, für die keine
schriftlichen Beweise und keine Zeugenaussagen vorliegen. Solchen
Erwägungen, die jedem mit Strafsachen befassten Juristen vertraut sind,
haftet notwendigerweise etwas von einer nur scheinhaften Logik an, etwas
Austauschbares, das unangenehme Gefühl, man könnte genauso gut den jeweils
entgegengesetzten Standpunkt vertreten. Dennoch ist diese
Auseinandersetzung, wie Browning sie abbildet und selbst führt, unbedingt
notwendig. Wie anders sollen wir eine vertiefte Kenntnis der Dynamik des
Mordens erhalten? Über die Mischung aus verbrecherischer Rationalität und
dem schlechthin Irrationalen, vor allem aber über den Anteil, den die
verschiedenen an den Morden beteiligten Gruppen zu verantworten haben – von
Hitler bis zum Polizeireservisten.
Gerade zu dem so schwer nachvollziehbaren Schwanken der nazistischen
Vernichtungspolitik zwischen ökonomischen und ideologischen Motiven finden
sich bei Browning erhellende Kapitel, die der Ausbeutung und schließlichen
Emordung jüdischer Zwangs- und Sklavenarbeiter in Polen gewidmet sind. Geht
es hier um die zusammenfassende Analyse bereits erschienener Werke oder
erschlossener Dokumente, so bringt Browning in einem Schlusskapitel, „Die
Vollstrecker des Judenmords“, neue Quellen zu den Aktionen einer Reihe von
Polizeibataillonen während des Judenmords. Obwohl diese Quellenbasis schmal
ist, sind die Schlussfolgerungen Brownings überzeugend. So weist er nach,
dass die großen Verhaltensunterschiede etwa zwischen einer Polizeieinheit
in Ostoberschlesien und einer in Weißrussland vor allem mit einer Tatsache
zusammenhängen: Erstere agierte in einem quasi noch heimischen kulturellen
und sozialen Zusammenhang, während Letztere gerade aus diesen
Zusammenhängen „exterritorialisiert“ war. Dort, im Rücken des
Vernichtungskriegs, passte man sich rasch den Erfordernissen des
Massenmords an, dort vollzog sich der Prozess der Selbstbrutalisierung.
Aber selbst dann gab es neben dem harten Kern der Überzeugungsmörder
Mitläufer und auch zehn bis zwanzig Prozent, die an Erschießungsaktionen
zwar nicht teilnahmen, ohne aber offen zu protestieren. Viele beteiligten
sich begeistert an der Jagd auf vorgebliche und auch auf wirkliche
Partisanen, die Ermordung von Juden erschien ihnen jedoch als „schmutzige
Sache“. Ohne einen Anflug von Apologie weist Browning hier nach, wie weit
die Interpretationen Goldhagens von dem entfernt sind, was wir als
„Wirklichkeit“ rekonstruieren können. So oder so birgt Brownings Analyse
für uns keinen Trost. Wie wenig gehörte dazu, sich der Mordmaschine zu
verweigern, und wie wenige haben es getan!
Will man ein Resümee aus Christopher Brownings Forschungsbericht ziehen, so
erweist sich, dass nach vielen Jahren der Strukturanalyse der
Naziherrschaft, in denen von den Motiven der Täter, vom Antisemitismus als
Massenphänomen im Nazismus und von den Opfern wenig zu lesen war, jetzt
eine Wende stattgefunden hat, die dieses vernachlässigte Thema ins Zentrum
rückt. Jetzt tut sich eine Korrespondenz auf zwischen der Forschungsarbeit
samt ihren komplexen Ergebnissen und den einfachen, dafür aber bohrenden
Fragen des Publikums: Wer war beteiligt und in welchem Maße, hatten die
Täter eine Handlungsalternative – und schließlich: Wie hätte ich mich
verhalten?
Christopher R. Browning: „Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und
dasVerhalten der Täter“. 288 Seiten,S. Fischer, Frankfurt a. M. 2001, 49 DM
3 Apr 2001
## AUTOREN
CHRISTIAN SEMLER
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