Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Dröhnender Motor der Stadt
> Berlin bekommt einen neuen und viel zu lang ignorierten Ehrenbürger: das
> Auto. Ein Jubelbericht.
Bild: Ja, ist denn schon wieder Car Freitag?
Fröhlich, aber doch getragen ist die Stimmung im großen Saal des Berliner
Rathauses, ganz wie es dem Anlass der Veranstaltung angemessen ist. Denn
heute wird hier eine Ehrenbürgerschaft der Stadt Berlin verliehen – eine
ebenso große wie seltene Auszeichnung.
„Es erfüllt mich mit besonderer Freude“, beendet gerade Berlins Regierender
Bürgermeister Kai Wegner seine Rede, „und es ist mir eine große Ehre, hier
und heute an diesem historischen Datum die erste Ehrenbürgerschaft des
Landes Berlin in meiner jungen Amtszeit verleihen zu dürfen – an das:
Automobil.“ Wegner steigt vom Podium herunter und stellt sich stolz neben
seinen frisch in den Berliner Farben Schwarz, Weiß und Rot lackierten
Dienstwagen.
Aber es ist selbstverständlich nicht Wegners Dienstwagen, der hier
ausgezeichnet wird, der Audi A3 steht stellvertretend für alle 1.244.061
Autos, die in der Hauptstadt angemeldet sind und die Straßen mit Leben
erfüllen sowie für die unzähligen Fahrzeuge aus dem Um- und Ausland, die
Berlin jedes Jahr be- und heimsuchen.
„Das Auto hat sich nicht nur um die Stadt verdient gemacht, in dem es für
eine verlässliche und kontinuierliche Transportmöglichkeit sorgt, es steht
auch für Unabhängigkeit und Freiheit: Freiheit von Fahrpreisen, Freiheit
von Fahrplänen, Freiheit vom Wetter. Wir, Berlin als Stadt und alle seine
Mitbürgerinnen und Mitbürger, sind verpflichtet, dem Auto Tür und Tor beim
Kampf um diese Freiheit offen zu halten und diesen zu unterstützen“, sagt
der engagierte Deutschlandticket-Gegner Kai Wegner. „Berlin wird in den
kommenden Jahren wieder zu einer freien Stadt werden – frei von Pollern,
frei von Fahrradwegen, frei von der Diktatur des Unmotorisiertseins.“
## Brumm, brumm
Um diese Freiheit zu gewährleisten, wird Berlin die zentrale Autobahnachse
A 100 entlang des S-Bahn-Rings erweitern, verkündet Wegner, die
Ampelschaltungen für den fließenden Pkw-Verkehr werden auf ein permanentes
Grün gestellt. Fußgänger, die über die Straße wollen, können allerdings
schnell und einfach einen Carsharing-Wagen mieten und auf die andere
Straßenseite fahren.
Ehrenbürger von Berlin zu werden ist nicht einfach. Werden in der
Hauptstadt pro Jahr etwa zehn bis zwölf Verdienstorden des Landes Berlin an
engagierte Bürgerinnen und Bürger der Stadt verteilt, so gibt es nur etwa
alle zwei Jahre einmal eine Ehrenbürgerschaft.
Materielle Werte sind damit nicht verbunden. Ein Ehren-Bürgergeld wird
nicht ausgezahlt. Als Würdenträger erhält man immerhin Einladungen zu
Empfängen, Bällen und Gedenkfeiern. Von jedem Ehrenbürger wird außerdem ein
Gemälde angefertigt, das dann in den Gängen des Roten Rathauses aufgehängt
wird, die Wahl des Künstlers steht dabei jedem Geehrten frei.
Traditionell gibt es überdies ein lebenslanges Anrecht, den öffentlichen
Nahverkehr kostenlos zu nutzen. Da Autos aber weder Bus noch U-Bahn fahren
können, sind ab sofort alle Busspuren wie auch alle Radwege als sogenannte
Ehrenbürgerspuren für Autos freigegeben.
Jeder Geehrte erhält außerdem eine Ehrenbürger-Anstecknadel, um andere
Ausgezeichnete auf der Straße zu erkennen. Das Automobil bekommt
stattdessen einen goldenen Sticker – den Bürgermeister Wegner nun
symbolisch auf die Windschutzscheibe seines Dienst-Audi pappt.
## Hup, hup
Die Ehrenbürgerschaft wird in der Regel erst im fortgeschrittenen Alter
zuerkannt. Das Automobil ist mit seinen über 140 Jahren der wahrscheinlich
älteste Gewürdigte in einer hochrangigen und illustren Liste von
Persönlichkeiten: die deutsche Medienoligarchin Friede Springer, sämtliche
deutschen Bundespräsidenten und -Kanzler, US-Präsidenten wie Ronald Reagan
oder George H. W. Bush, aber auch Künstlerinnen und Künstler wie Paul
Lincke, Heinrich Zille, Marlene Dietrich und Dietrich Fischer-Dieskau.
Die Auszeichnung erlischt auch mit dem Tod nicht und kann auch nicht
gekündigt werden. Stattdessen erhalten Betroffene ein Ehrengrab auf einem
Berliner Friedhof. Nur in Ausnahmefällen kann eine Ehrenbürgerschaft
aberkannt werden, zum Beispiel wenn jemand auf der falschen Seite der Mauer
regiert (Wilhelm Pieck oder Erich Honecker), als Kommunist die Stadt vom
Faschismus befreit (verschiedene russische Generäle) oder den Krieg
verloren hat (Adolf Hitler).
Der Regierende Bürgermeister Wegner tätschelt liebevoll die Motorhaube und
setzt sich dann auf die Fahrerseite. „Das Auto ist der Motor der Stadt. Und
deshalb verleihe ich ihm die Ehrenbürgerwürde Berlins“, verkündet er
feierlich und hupt dreimal. Die Gäste der Feierstunde, darunter die sechs
derzeit noch lebenden Ehrenbürger der Stadt, applaudieren. Das
Catering-Personal verteilt Sekt. Auch Wegner nimmt sich ein Glas, heute
darf er ausnahmsweise einmal mit Alkohol am Steuer sitzen. Sonst muss er
immer im Fond trinken.
24 Jun 2025
## AUTOREN
Michael-André Werner
## TAGS
Ehrenbürger
Berlin
Autos
Satire
Schwerpunkt AfD
Schule
Abschiebung Minderjähriger
Literaturbetrieb
Kolumne Die Wahrheit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Die Schweig- und Schließgesellschaft
Immer mehr Comedians begehren gegen vermeintliche Sprech- und Denkverbote
auf. So auch gewisse Dieters.
Die Wahrheit: Wohnraum für mehr als 1.000 Jahre
Weltweit exemplarische Planungspolitik: Was passiert, wenn die AfD das
Berliner Tempelhofer Feld randbebaut.
Die Wahrheit: Kinder sind unser ganzes Kapital
Im defizitären Berlin dürfen sich jetzt sämtliche Schulformen von großen
Firmen sponsern lassen. Nicht nur die Schulsenatorin ist begeistert.
Die Wahrheit: Wie im Fluge vergeht die Schule
Willkommensklassen waren gestern. In Berlin gibt es jetzt Abschiedsklassen
für ausreisepflichtige Kinder und Jugendliche. Ein Abholbericht.
Die Wahrheit: Arno Schmidts „Herr der Ringe“
Neue Kinderbücher und mehr – die aktuelle und wahre Vorschau auf die
Leipziger Buchmesse 2025 und darüber hinaus. Jetzt auch mit KI.
Die Wahrheit: Mangiare in Minden
Wie das italienische Essen einst nach Ostwestfalen kam und eine kulturelle
Aneignung der sehr eigenen und balsamischen Art durchlief.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.