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# taz.de -- Die Wahrheit: Mangiare in Minden
> Wie das italienische Essen einst nach Ostwestfalen kam und eine
> kulturelle Aneignung der sehr eigenen und balsamischen Art durchlief.
In den Siebzigerjahren kam Italien endlich auch bis Ostwestfalen, konkret:
zu mir nach Minden. Zuerst liefen die Spaghetti-Western in unseren Kinos,
im „Regina“, „Scala“ und „Stella“, was eigentlich ja schon sehnsuch…
exotisch nach Italien klang.
Dabei durfte ich noch gar nicht in gefährliche Filme wie „Spiel mir das
Lied vom Tod“, verliebte mich aber sofort in die Hauptdarstellerin Claudia
Cardinale auf dem Filmplakat. Erst Jahrzehnte später realisierte ich, dass
sie der gleiche Jahrgang wie meine Mutter ist und verdränge das bis heute
erfolgreich.
Kurze Zeit später eröffneten bei uns die ersten Ristorante. Etwas
kulinarisch abwertend nannte man sie „Pizzerien“, denn dort gab es vor
allem diese unglaublich leckeren, warmen, mit Käse und Tomatensoße und
manchmal weit mehr belegten Teigfladen. Das waren zutiefst demokratische
Lokale, in die jeder gehen konnte, wie er war. Man musste sich nicht
„ordentlich anziehen“, die Preise waren moderat, der Geschmack exorbitant,
weit jenseits von allem, was meine Mutter aus dem gemeinen „Dr. Oetker
Kochbuch“ fabrizierte. Oder wie mein Freund Ede sagte: „Jenseits der
ostwestfälischen Ackerfurchen-Kulinarik.“
Bereits im Jahr 1970 hatte mit der „Pizza alla Romana“ Bielefelds
Teiganrührer Nummer eins Dr. Oetker die erste Tiefkühlpizza auf den Markt
geworfen. Etwa zur gleichen Zeit erhoben wir Deutschen die Nudel und die
Pizza vom Status der primi piatti, also der Vorspeisen, zur alleinigen
Hauptspeise. Niemand von uns bestellte Carne oder Pesce, also Fleisch oder
Fisch. Im Grunde amputierten wir die italienische Küche und nahmen ihr den
eigentlichen Hauptgang.
Aber niemandem ist die kulturelle Aneignung Italiens so gelungen wie uns
ostwestfälischen Nordlichtern, und das gleich in mehrfacher Hinsicht.
Minden ist die einzige Stadt in Deutschland, in der in sämtlichen Pizzerien
seit Jahrzehnten, seit Anbeginn der Backzeit, auf jedem Tisch ein Glas –
kein Gläschen – ein Glas (!) mit Oregano steht, mit dem man die Pizza
verfeinern kann. Ein Wundersalz! Magic Herbs! Special Spice!
Die eigentliche Italianisierung Ostwestfalens erfolgte dann in zwei
weiteren wichtigen Schritten: In unserer Jugendkneipe Windlicht gastierten
im Herbst 1977 Werner Lämmerhirt und Ulrich Roski, Fiedel Michel und Roger
Sutcliffe. Erstmals warb das Plakat mit den Auftrittsterminen nun auch in
einem „deutschen“ Lokal mit Pizza-Wein-Bier und „ganz neu“ Spaghetti!
Und dann die Krönung, 30 Jahre später. Der nächste, der endgültige Schritt.
Im Jahr 2007 erfand der neue Windlicht-Wirt die „Pizza OWL“. Eine
Grünkohlpizza! Liebevollst belegt mit Grünkohl, Rauchenden und Kohlwurst.
Dazu servierte er Senf statt Oregano. Mancher Ostwestfale bestrich seine
Pizza dann auch tatsächlich komplett mit Senf. Grünkohl statt Tomatensauce,
Senf statt Käse. Ein echtes Kulturgut, anders als der absolute kulinarische
Tiefpunkt, die Pizza Hawaii mit Ananas.
15 Oct 2024
## AUTOREN
Bernd Gieseking
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Italien
italienische Küche
Ostwestfalen
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