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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Schweig- und Schließgesellschaft
> Immer mehr Comedians begehren gegen vermeintliche Sprech- und Denkverbote
> auf. So auch gewisse Dieters.
Bild: Stets fühlt er sich gecancelt, gähn: Dieter Hallervorden
Der ältere Herr steht allein auf der Bühne. Es ist der Kabarettist Dieter
H. Er lässt seinen Blick über die Köpfe des Publikums schweifen, dann
starrt er geradeaus in die Ferne. Sein 516-Plätze-Theater ist ausverkauft,
H. ist eine Legende in der politischen Kabarettszene (seit 2013 der
Kabarettist Dieter H. und 2005 der Kabarettist Hans-Dieter H. verstorben
sind).
Dieter H. erhebt seit mehr als 60 Jahren seine leicht leiernde Stimme und
nimmt politische und gesellschaftliche Fehlentwicklung kritisch aufs Korn –
in den sozialen Medien, in der Presse, als Schauspieler in Filmen und
Fernsehserien, als Schlagerstar, auf Wahlkampfveranstaltungen von Klein-
und Kleinstparteien und natürlich auf der Bühne, wie heute bei der Premiere
seines neuen Soloprogramms „Nichts kann man mehr sagen“. H. steht jetzt
schon seit 20 Minuten vor seinem Publikum, das begeistert und gefesselt an
seinen Lippen hängt. Manchmal öffnet er seinen Mund – was wird er sagen?
palim, palim? – und schließt ihn dann wieder. Die Spannung ist kaum
auszuhalten.
Doch nicht alle Kabarettisten können oder wollen ihrem Ärger auf diese
unkonventionelle Weise Luft machen. Ganz besonders betroffen vom
Moralterror ist Dieter H.s Namensvetter Dieter N., der eine eigene Sendung
im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hat, in der er darüber spricht, was er
alles nicht sagen darf. Sofort nach seiner Sendung teilen seine Anhänger
N.s Thesen und Texte in Bild und Ton in den sozialen Netzwerken und laufen
damit Gefahr, ebenfalls kritisiert, verfolgt und kulturell abgekanzelt zu
werden.
„Neulich“, sagt Dieter N. und grinst spitzbübisch in die Kamera, „saß i…
im Restaurant und bestellte ein Jägerschnitzel. Da sagt der
Kellner-Student: Entschuldigen Sie, das heißt jetzt
Waldtierbestandspflegebeauftragter-Schnitzel. Der Verband Deutscher Jäger
und Waidmänner hat sich beschwert, die Deutschen Jäger und Waidmänner
fühlten sich von dem Gericht verunglimpft.“
Er macht eine kleine Kunstpause. „Und was soll ich Ihnen sagen“, fährt N.
fort, „Die Jäger haben recht. Das Schnitzel war zäh, wahrscheinlich war das
Tier aus humanitären Gründen an Altersschwäche verstorben, die Panade war
dicker als das Fleisch, die Pilze aus der Dose – da würde ich mich auch
verunglimpft fühlen.“
## Gesalzener Mittelfinger
Das sind N.s Themen, hier legt er der Gesellschaft den gesalzenen
Mittelfinger in die ach so klaffende Wunde der Wokeness. Aber nicht mehr
viele Comedians trauen sich, so offen zu sein wie er. „Da wird ja ganz viel
korrekt gegendert bei den jungen Kollegen aus der Wokomedy“, sagt N. nach
der Aufzeichnung. „Die nehmen vorauseilend Rücksicht auf jede klitzekleine
Minderheit – nur nicht auf die verletzlichste und bedrohteste: Politiker.
Politiker werden bei ihrer Arbeit ständig beobachtet, angegriffen und
behindert. Das sind die einzigen wirklich Behinderten in Deutschland.
Wussten Sie, dass es in Deutschland mehr Klimaaktivisten gibt als
Politiker? Und wie viele Klimaaktivisten für den Tod Unschuldiger
verantwortlich sind und im Gegensatz dazu: wie viele Politiker? Aber das
darf man ja nicht laut sagen: nicht mal leise.“
N. steht deshalb fast jede Woche mit seiner Comedysendung mit einem Bein
kurz vorm Gecanceltwerden, mit einem auf dem Scheiterhaufen der
Moralterroristen und dem anderen im Gefängnis. Und das schon seit Jahren.
Seinen Kollegen Dieter H. bewundert er. „Der traut sich was!“, sagt er, als
wir ihn auf H.s neues Programm ansprechen. „Also ich könnte das nicht.“ Im
Herbst wollen die beiden Dieters gemeinsam auf Tour gehen. „Ich sag ja
nichts“, heißt das neue Programm, Untertitel „Das Schweigen der
Kabarettisten“.
Und die beiden sind nicht allein. Immer mehr Comedians erheben ihre Stimme
gegen all den Hass und die Ungerechtigkeit, die ihnen im Netz
entgegenbranden, zum Beispiel L. M., S. S. und M. G. (die namentlich nicht
genannt werden möchten), um nur einige zu nennen.
## Gut erfunden
Dieter H. steht nach zwei Stunden immer noch auf der Bühne seines Theaters.
Er muss sich keine Gedanken machen, gecancelt zu werden, bei sich selbst
kann er immer auftreten. „Canceln kann mich nur der Tod“, hat der
frischgebackene 90-Jährige neulich in einem Interview gesagt. Das stimmt
zwar nicht, ist aber gut erfunden.
H. öffnet den Mund, dann schließt er ihn wieder, schüttelt den Kopf und
geht von der Bühne. Nach einem Moment der Stille brandet Applaus auf. Dann
frenetischer Jubel.
„Schade“, sagt der Sohn von Dieter H., der sich um Licht und Ton gekümmert
hat, „der Papa hat ein tolles Programm geschrieben. Voller
Gleichberechtigung, Mitgefühl, Menschlichkeit und Solidarität. Nicht wie
all das, was er sonst in letzter Zeit in der Springerpresse und auf
Friedensdemos von sich gegeben hat. – Und nun hat er den ganzen Text
vergessen.“
Dann dimmt er den Scheinwerfer herunter und schaltet das Saallicht an.
24 Sep 2025
## AUTOREN
Michael-André Werner
## TAGS
Satire
Comedy
cancel culture
Verbot
Kabarett
Schwerpunkt AfD
Schule
Ehrenbürger
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