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# taz.de -- Die Wahrheit: Wie im Fluge vergeht die Schule
> Willkommensklassen waren gestern. In Berlin gibt es jetzt
> Abschiedsklassen für ausreisepflichtige Kinder und Jugendliche. Ein
> Abholbericht.
Bild: Über den Wolken muss es keinen Stacheldraht geben
Die Abschiebung einer ausreisepflichtigen zehnjährigen syrischen Schülerin
vor ein paar Wochen in Sachsen-Anhalt, mitten aus dem Sportunterricht
heraus, sorgte bundesweit für Empörung und Unverständnis. Die Schülerin
hätte dadurch nicht beim Auf- und Abbauen der Sportgeräte und Aufräumen der
Halle helfen können, monierten Schulleitung und Teile der Lehrerschaft.
Kritik gab es außerdem wie immer von den üblichen
Menschenrechtsorganisationen, aber überraschenderweise auch aus den Reihen
der Polizei.
„Also hier in Berlin hätt’s das nicht gegeben“, sagt der Berliner
Gruppenführer Reinhold F., der namentlich nicht genannt werden möchte. „Das
war alles sehr unüberlegt. Ich weiß nicht, was die Kollegen sich da
vorgestellt haben. So eine Sporthalle ist viel zu groß. Die Schülerin hätte
sich leicht irgendwo verstecken oder aus einem der vielen Ausgänge flüchten
können.“ Außerdem bestehe immer die Gefahr, dass die anderen Schüler die
Abschiebung verhindern wollen und die Polizisten mit Bällen, Keulen,
Springseilen oder Reifen angreifen. „So eine Turnhalle ist voll mit
potenziellen Waffen“, meint Reinhold F., „total unprofessionell von den
Kollegen in Sachsen-Anhalt.“
In Berlin wäre so ein Vorfall gar nicht möglich. „Wir holen die Kinder
direkt aus dem Klassenraum. Da gibt’s nur eine Tür, ein Kollege wartet
draußen, zwei gehen rein. Guten Tag, die Abschiebepolizei, pack mal bitte
deinen Schulranzen – und fertig. Natürlich steckt auch ein Klassenraum
voller Waffen: Bastelscheren, Zirkelspitzen, Bleistiftanspitzerklingen,
Papier, das schwere Schnittverletzungen verursachen kann. In schwierigen
Fällen machen wir’s deshalb so: Tür auf, Blendgranate rein, Tür zu. Peng.
Kurz warten. Dann reingehen. Guten Tag, die Abschiebepolizei … Wir hatten
noch keine Verluste in unseren Reihen. So, und jetzt entschuldigen Sie
mich, die Arbeit wartet auf mich.“ Er zupft seine Kampfmontur zurecht und
klemmt sich lässig seinen Helm unter den Arm.
Damit es gar nicht erst zu solchen unerfreulichen Szenen wie im
sächsisch-anhaltinischen Naumburg kommt, hat Berlins Schulverwaltung im
vorigen Jahr sogenannte Abschiedsklassen eingeführt.
## Konzentrierte Kinder
„Die Willkommensklassen, die es bei uns seit 2011 gibt, sind ja sehr
erfolgreich“, erklärt die Staatssekretärin für Migrationsaufgabe in der
Schulverwaltung Regina Schröder. „Geflüchtete Kinder werden dort
konzentriert und optimal auf den deutschsprachigen Unterricht vorbereitet –
bis sie in ihre Heimatländer zurückkehren. Und in den Abschieb … -dsklassen
ist es ähnlich: Die zur Abreise vorgesehenen ausreisepflichtigen Kinder und
Jugendlichen werden gemeinsam unterrichtet, so fällt auch die Abnabelung zu
ihrer deutschen Umgebung und zu ihrem deutschen Freundeskreis leichter. Die
Unterrichtsthemen sind speziell auf sie zugeschnitten. Viele können nicht
richtig Deutsch, aber auch die Sprache aus ihren Heimatländern beherrschen
sie kaum ausreichend. Hier können wir konkret mit Fremdsprachenkursen
helfen. Dann die drei bis vier Grundrechenarten, ein paar abendländisch
moralische Werte und vor allem Sport: schnell rennen, weit werfen,
klettern, von hohen Mauern runterspringen – so parcours-mäßig eben.
Bouldern ist auch sehr beliebt.“
Agathe Bauer unterrichtet seit Jahresbeginn solch eine Abschiedsklasse an
der Neuköllner Erich-Alfred-Hartmann-Schule. „Was ist das?“, fragt sie und
zeigt auf die Tafel, auf der ein Flugzeug zu sehen ist. 21 Hände schießen
in die Luft, einige Schülerinnen schnipsen auch.
„Flugzeug“, sagt ein Mädchen. „Und wo fliegt das hin?“, fragt die Lehr…
Betretenes Schweigen. Niemand meldet sich. „Nach Hause!“, ruft die Lehrerin
lachend. „Das Flugzeug fliegt nach Hause. Und jetzt alle: Das Flugzeug
fliegt nach Hause.“ Die Kinder murmeln den Satz leise mit.
## Sortierte Klassen
An Schulen mit einem besonders großen Anteil an Abschiedskindern werden die
Klassen dazu nach einzelnen Ländern oder zumindest Regionen sortiert. „Wir
wollen ja keine Afghanen mit Nordafrikanern in eine Klasse stecken“, sagt
die Staatssekretärin. „Oder Ukrainer mit Persern. Ja, ich weiß, ukrainische
Kinder sind von der Abschiebung gar nicht bedroht. Aber irgendwann wird der
Krieg ja hoffentlich vorbei sein. Wie heißt es doch so schön: Abschiede
sind Tore zu neuen Welten.“
Diese Zusammenstellung mache den Unterricht natürlich auch für die
Lehrkräfte einfacher und erleichtere so eine gemeinsame Rückführung. „Da
kann die Klassenlehrerin ihre Klasse sogar bis zum Heimatflughafen
begleiten. Das ist dann wie eine kleine Klassenfahrt sozusagen“, sagt
Staatssekretärin Schröder.
Bei Agathe Bauers Klasse klopft es an der Tür. Die Lehrerin schaut zur Uhr
und ruft: „Herein!“ Zwei Polizisten betreten das Klassenzimmer. „Guten
Tag“, sagt der eine, der andere brummelt etwas Unverständliches. „Kinder�…
ruft Agathe Bauer fröhlich. „Der Bus ist da!“
11 Jun 2025
## AUTOREN
Michael-André Werner
## TAGS
Abschiebung Minderjähriger
Willkommensklasse
Asyl
Die Wahrheit
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Windräder
Kitas
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