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# taz.de -- Eindrücke vom Theaterfestival ATT Berlin: Vom Geld, der Politik un…
> Beim Theaterfestival ATT Berlin geht es ums Verhältnis zwischen
> Autorschaft und Regie. Die Musik wird zum Akteur, manchmal fehlen die
> Worte ganz.
Bild: Volker Lösch hört mal wieder die Signale: Szene aus „Geld ist klasse�…
Wie erzählt man eine Geschichte, die eigentlich nicht erzählt werden kann?
Wie tastet man sich heran an einen Protagonisten, von dem man kaum etwas
weiß? Es ist eine behutsame Recherche-Reise, auf die Eva-Maria Bertschy,
Autorin und Regisseurin aus der Schweiz, die Zuschauer in ihrem Stück
„Fremde Seelen“ mitnimmt.
Vorsichtig umkreist sie die Geschichte eines katholischen Pfarrers in einem
kleinen Dorf hoch oben in den Bergen. Er kam als Flüchtling aus Vietnam in
die Schweiz und starb nach wenigen Jahren. An Einsamkeit? An Fremdheit?
Wachsende Traurigkeit zieht sich durch die Geschichte seiner Flucht aus
Vietnam und seiner Ankunft in einer Gemeinde, die von der Schauspielerin
Carol Schuler und dem Schwarzen Musiker Kojack Kossakamvwe mit sparsamen
Gesten und mit einer Musik, die ihren eigenen Weg zu Ahnen und Geistern
sucht, erzählt wird.
In Berlin wurde die Produktion vom Theater Neumarkt aus Zürich im Rahmen
des Festivals ATT (Autor:innentheatertage), zu dem seit dreißig Jahren das
Deutsche Theater einlädt, aufgeführt. Eine Besucherin erzählte mir, dass
sie es sich gleich zweimal angesehen hat, begeistert und angerührt.
Bertschy hat eine Form gefunden, die keine Behauptungen braucht, keine
steilen Thesen, das Ungewisse und den Zweifel aushält.
## Erfahrung der Fremdheit
[1][Es geht um Fremdheit, die mehr ist als die Erfahrung der Ablehnung im
Einwanderungsland.] Fremdheit, die auch durch den Zerfall von
Glaubensgemeinschaft entstehen kann, und Fremdheit gegenüber den eigenen
Traditionen, die allmählich etwas Fragwürdiges offenbaren. Ein Text und
eine Inszenierung, die das Denken auf Wege jenseits von den ausgetretenen
Pfaden der Diskurse mitnehmen. [2][Nicht zuletzt sind es Schweizer
Heimatlieder], die von einem deutschfranzösischen Chor aus Leipzig gesungen
werden und mit Kossakamvwes Begleitung um neue Klangfarben bereichert
werden, die in diesem Stück Horizonte verschieben.
Manchmal lässt sich auf den Autor:innentheatertage ein roter Faden
finden, wie im letzten Jahr, [3][als mehrere Texte um Fragen der Herkunft,
Identität und Zukunft kreisten]. Dieses Jahr standen die Produktionen eher
wie Solitäre nebeneinander, die je eine eigene Spielart für das Verhältnis
zwischen Text/Autorschaft und Regie/Inszenierung gefunden haben.
## Da putzt einer!
Wie sich dies Verhältnis in der Inszenierung „Er putzt“ von der
[4][Regisseurin Marie Schleef] nach einem Text von Valeria Gordeev
gestaltet – die mit „Er putzt“ [5][2024 den Ingeborg Bachmann Preis]
gewonnen hatte –, ist eine große Überraschung. Denn in der Produktion vom
Staatstheater Wiesbaden wird kein Wort gesprochen.
In Slow Motion bewegt sich „er“, der gleich von zwei Schauspielern
verkörpert wird, durch eine pastellfarbene Kulisse, zelebriert die Jagd
nach dem Staub sorgfältig mit wenigen Bewegungen und zeigt uns danach ein
von tiefer Befriedigung durchdrungenes Gesicht. Er bleibt freiwillig ein
Gefangener in einer überschaubaren Welt, in der er mit jedem Gegenstand in
einer taktilen Beziehung steht.
Putzen ist hier mehr als Notwendigkeit, mehr als zwanghafte Handlung – es
ist ein ständiges Sich-in-Beziehung-Setzen zur Umwelt. Kaum wundert es da
noch, dass „er“ am Ende ein staubgraues Ungeheuer liebevoll umarmt. Nur der
abendliche Fernsehkonsum seiner kleinen Schwester schlägt Sichtschneisen zu
einer anderen Welt in diesen geschlossenen Kosmos – da landet dann schon
mal ein Raumschiff gleich hinter der Türe.
Diese Mischung von Entschleunigung, Reduktion und Fiction war äußerst
skurril, oft auch komisch. Im Werk der jungen Regisseurin Marie Schleef
bildet „Er putzt“ einen Gegenpol zu einem Stück, mit dem sie 2020 bekannt
wurde, [6][„Name her. Eine Suche nach den Frauen“.] In dieser Performance,
gestaltet wie eine Vorlesung, reiste sie durch die Jahrhunderte, um
vergessene Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und Architektinnen
vorzustellen.
## Alter Meister der Überschreibung
Ein alter Meister der Überschreibung von klassischen Theaterstücken mit
politischen Stoffen und Skandalen der Gegenwart ist der [7][Regisseur
Volker Lösch]. Er brachte immer wieder Gruppen von Betroffenen auf die
Bühne, eine Konfrontation der Klassiker mit rauen sozialen Wirklichkeiten.
Aber nie gelang es ihm, dem unermüdlichen Agitprop-Regisseur und
Klassenkämpfer, wie er nun in „Geld ist Klasse“ erzählt, auch mal einen
wirklich reichen Menschen zum Dialog auf die Bühne zu bekommen. Bis er
Marlene [8][Engelhorn, Großerbin und Enkelin des BASF-Gründers,]
kontaktierte. Zusammen mit dem Autor Lothar Kittstein, der Regisseurin
Therese Lösch und der Schauspielerin Marlene Reiter haben sie ein Stück
entwickelt, das eine vergnügliche und unterhaltsame Lecture-Performance
ist:
Über Ungleichheit und Überreichtum, über die sich immer weiter öffnende
Schere zwischen Arm und Reich, über die stete Umverteilung des Geldes von
unten nach oben. Und über den Staat und die Politik, die es mit dem
Steuerrecht in der Hand hätte, die himmelschreienden Missstände zu
verbessern, das aber nicht tut.
## Klug, schnell und parodistisch
Die drei reden klug, sie reden schnell, sie schlüpfen parodistisch und
kabarettistisch in die Rollen anderer, karikieren und hinterfragen
gelegentlich auch die eigene Rolle. Marlene Engelhorn, Mitbegründerin von
taxmenow, redet zum Beispiel darüber, wie ihre Prominenz ihr viele
Plattformen öffnet und sie als Sprecherin qua Herkunft und Vermögen mit
Macht ausstattet.
Sie arbeiten mit Fakten, nennen Quellen, betonen, dass fast alles, was sie
erzählen, öffentlich bekannt ist. Und kehren immer wieder zu der
Verzweiflung zurück, warum sich denn nichts ändert. Sie beenden den Abend
mit Appellen. Reden über Geld, Reden über Klasse, Reden über das Erben – im
[9][Diskurs der Kunst und des Theaters] geschieht das aus guten Gründen
jetzt immer häufiger.
Aus dem Nebeneinander von solch einer Inszenierung, die sich zu ihrem Furor
des Weltverbessern-Wollens bekennt, aber auch zu ihrer Verzweiflung, daran
zu scheitern, und einem eher klassischen Theaterstück, wie „Frau Yamamoto
ist noch da“ von der Dramatikerin [10][Dea Loher] geschrieben, wächst auch
ein Reiz, Bezüge zu suchen.
## Mulmig wegen Umweltzerstörung
Denn auch in „Frau Yamamoto“ treibt die Protagonisten das mulmige Gefühl,
dass wir als Gesellschaft uns selbst den Bach hinunterschicken, unsere
Umwelt zerstören und Ungerechtigkeit nicht verhindern, in die
Rastlosigkeit. Aber die Erzählform ist eine ganz andere. In verstreuten
Geschichten, aufgesammelt in der Nachbarschaft der alten Frau Yamamoto,
ploppt das immer wieder auf wie ein persönliches Unglück, gegen das man
allein nicht ankommt.
Die Inszenierung von Jette Steckel kommt vom Schauspiel Zürich, wo Ulrich
Khuon Intendant ist. Er hatte die Autorentheatertage zuerst am
Thalia-Theater in Hamburg gegründet, mitgenommen an das Deutsche Theater in
Berlin, wo sie nun von Iris Laufenberg weitergeführt werden. Dea Loher war
für Khuon eine wichtige und viel gespielte Autorin.
Auch jetzt schaut man diesem Panorama von Paaren, die zwar viel miteinander
reden, aber nur selten über das, worüber sie eigentlich reden wollen,
wieder gerne zu. Vieles kommt vor, ohne auserzählt zu werden, die Suche
nach metaphysischem Überbau, der Weg in die Radikalisierung, verdächtige
Schießübungen, Unfälle im Sägewerk.
[11][The Notwist haben die musikalische, mit der Melancholie tändelnde
Musikbegleitung beigesteuert], von Florian Lösche ist das Bühnenbild aus
transparenten farbigen Wänden, die viele Szenen in Blau, Rot und Orange
tauchen. Am Ende geht man emotional bewegt und mit vielen Fragmenten von
möglichen Geschichten nach Hause.
19 Jun 2025
## LINKS
[1] /Theaterregisseur-Jan-Friedrich/!6090071
[2] /Buch-ueber-Zuercher-Inklusionstheater-HORA/!6028885
[3] /Autorentheatertage-in-Berlin/!6012803
[4] /Abdel-Maksoud-und-Schleef-in-Muenchen/!6002824
[5] /Bachmann-Preis-2023/!5941716
[6] /Feminismus-beim-Theatertreffen/!5769857
[7] /Buergerchor-in-Dresden/!6042747
[8] /Umverteilung-gegen-Armut/!5982912
[9] /Literaturtage-des-ZfL/!6094057
[10] /Das-letzte-Feuer-im-Theater-Bremen/!5995298
[11] /Indie-Musikfestival-in-Muenchen/!6051499
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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