| # taz.de -- Christliche Orte in Marzahn-Hellersdorf: Kein gottloser Bezirk | |
| > Der Bezirk im Osten Berlins gilt nicht als Hotspot christlichen Lebens. | |
| > Dabei laufen die migrantischen Freikirchen traditionellen Kirchen den | |
| > Rang ab. | |
| Bild: Mehr als 100 christliche Orte gibt es in Marzahn-Hellersdorf, wie das Gel… | |
| Berlin taz | Eine Straße und ein S-Bahnhof erinnern in Marzahn an den | |
| [1][Gefängnisseelsorger Harald Poelchau] und seine Frau Dorothee. Mehr als | |
| 1.000 zum Tode verurteilte Menschen hat Poelchau in der NS-Zeit in Berliner | |
| Haftanstalten begleitet und mit ihnen ihre letzten Stunden verbracht. Mit | |
| ihnen gebetet oder gelesen und sich von den gefesselten Insassen Briefe an | |
| ihre Hinterbliebenen diktieren lassen, die er aus dem Gefängnis schmuggeln | |
| konnte. Gemeinsam mit seiner Frau und einem großen Freundeskreis hat er | |
| zudem viele Menschen unter Lebensgefahr versteckt und ihnen damit das Leben | |
| gerettet. Ihre Tätigkeit flog nicht auf, sodass die Poelchaus die NS-Zeit | |
| überlebten. | |
| Seit 2017 erinnert auch eine Gedenkstele neben einem Supermarkt an das | |
| Wirken der Poelchaus. Angebracht wurde sie auf Initiative eines Pfarrers im | |
| Ruhestand. Laut dem [2][Verein Zusammenleben], einem Förderverein der | |
| Evangelischen Kirche Marzahn-Nord, sind Straße, S-Bahnhof und Stele nur | |
| einige von vielen christlichen Orten im Bezirk Marzahn-Hellersdorf. | |
| Wenn man auf das christliche Leben in Berlin blickt, kommt einem nicht | |
| unbedingt zuerst Marzahn-Hellersdorf in den Sinn. Vielmehr scheint es eher | |
| ein gottloser Bezirk zu sein. Von Anfang an haben in den erst am Ende der | |
| DDR-Zeit errichteten Plattenbauten nur wenige Christen gewohnt. Dazu laufen | |
| seit Jahren den Kirchen die Mitglieder davon. | |
| Der Verein Zusammenleben wollte genau wissen, wo in dem Bezirk christliche | |
| Orte sind. Und fand neben sechs evangelischen und einer katholischen | |
| Kirchengemeinde sowie einigen Kitas insgesamt 108 Orte. Seit fünf Jahren | |
| suchen 30 „Pilger“, wie sie sich nennen, in der warmen Jahreszeit einmal | |
| pro Woche einen dieser Orte auf, sprechen mit den Akteuren vor Ort oder | |
| nehmen an Gottesdiensten teil. | |
| ## Christliches Leben immer öfter in Freikirchen | |
| Herausgekommen ist dabei eine Sammlung von Porträts dieser Orte [3][im | |
| Internet] und in Buchform. Zusammenfassen lassen sich die Ergebnisse wie | |
| folgt: Während die katholische und die evangelische Kirche einen | |
| Mitgliederschwund aufweisen, findet christliches Leben immer öfter in | |
| Freikirchen statt. Hierher kommen auch viele Familien mit Kindern, während | |
| die großen Kirchen eher ältere Mitglieder haben. Zudem findet soziales | |
| Engagement verstärkt in lokalen Initiativen statt. | |
| An insgesamt rund 50 Orten treffen sich wöchentlich Menschen zu | |
| Gottesdiensten in christlichen Gemeinschaften, so Katharina Dang, eine | |
| Pfarrerin im Ruhestand, die das Projekt leitet. In ehemaligen Kitagebäuden, | |
| in Gewerbegebieten, in Privatwohnungen oder auch als Gäste in evangelischen | |
| Kirchen. Nicht bei allen diesen Gruppen ist die Trennschärfe zur Sekte | |
| gegeben – bei den allermeisten schon, meint zumindest die Pfarrerin. | |
| Allein elf dieser Gemeinden wurden von russlanddeutschen Zuwanderern | |
| gegründet. Es sind Orte, an denen auch gemeinsam gekocht und Sport | |
| getrieben und somit der Vereinsamung entgegengewirkt wird. Weitere | |
| Gemeinden gibt es von Zuwanderern aus Rumänien, Nigeria sowie von | |
| russischsprachigen Roma. | |
| Bei der nigerianischen Gemeinde handelt es sich um einen Ableger der | |
| [4][Dunamis-Gemeinde] aus dem westafrikanischen Land, die das größte | |
| Kirchengebäude der Welt mit 100.000 Plätzen gebaut hat. Von dem | |
| gigantischen Gottesdienst gibt es einmal im Monat eine Direktübertragung in | |
| einen ehemaligen Laden der eher wenig schicken Einkaufspassage Plaza | |
| Marzahn. | |
| ## „Die Menschen haben ihre Religion mitgebracht“ | |
| „In Berlin gibt es so viele Sorten von Christen wie in keiner anderen | |
| deutschen Stadt“, sagt Hans-Joachim Ditz vom katholischen Erzbistum Berlin | |
| bei der Präsentation der Sammlung in Marzahn. „Das ist nicht etwa das | |
| Ergebnis von Konzepten aus Politik oder Kirche, sondern von Migration. Die | |
| Menschen haben ihre Religion mitgebracht.“ Aber nicht nur das. Auch andere | |
| Freikirchen wie die Neuapostolische Kirche in Kaulsdorf sprechen Menschen | |
| an. „Menschen suchen Gemeinschaft“, sagt Projektleiterin Katharina Dang. | |
| „Die finden sie in diesen Gemeinden.“ | |
| Freikirchen stehen für eine tiefe Frömmigkeit und schotten sich gegenüber | |
| der Mehrheitsgesellschaft ab. Man bringt sie mit strengen Verhaltens- und | |
| Kleiderordnungen in Verbindung, mit eher unangenehmen Missionierungen, der | |
| Ablehnung homosexueller Partnerschaften oder mit Rassismus. Nicht ohne | |
| Grund: Russlanddeutsche vom rechten Rand wie der frühere | |
| AfD-Bundestagsabgeordnete Waldemar Herdt aus Niedersachsen gelten als | |
| Netzwerker der christlichen Rechten mit ausgezeichneten Kontakten zum | |
| Kreml. | |
| Und in Marzahn-Hellersdorf? Von Homofeindlichkeit haben Katharina Dang und | |
| ihre „Pilgergruppe“ nichts gemerkt. Das fällt bei einmaligen Besuchen indes | |
| auch nicht sofort ins Auge. Einige wenige Kirchen wie die Zeugen Jehovas | |
| und die Mormonen gehören allerdings zu Glaubensgemeinschaften, die alles | |
| andere als liberale Ansichten haben. Zu den meisten migrantischen Kirchen | |
| gibt es dabei große Unterschiede und keine belastbaren Daten. Aber das Bild | |
| von der Illiberalität der Freikirchen decke nur einen kleinen Teil der | |
| Realität ab, meint Dang: „In Sachen Diversität sind uns einige Freikirchen | |
| sogar einen Schritt voraus.“ | |
| So habe sie bei verschiedenen Freikirchen Frauen und Männer aus | |
| afrikanischen Staaten, Korea und Indien gesehen, die in mehrheitlich | |
| deutschen Gemeinden leitende Aufgaben wahrnehmen würden. In ihrer eigenen | |
| evangelischen Kirchengemeinde gelinge es nicht immer, die Russlanddeutschen | |
| für den Gemeindekirchenrat zu gewinnen, sagt Dang. | |
| Bei ihrer Tour seien sie zudem auf großes soziales Engagement von Christen | |
| gestoßen, etwa bei den Ausgabestellen von „Laib und Seele“ in einer | |
| evangelischen und einer freikirchlichen Gemeinde, bei der | |
| Migrationssozialberatung der Caritas oder in Wohngruppen für Menschen mit | |
| Behinderung. Ein Engagement, ohne das auch im für gottlos gehaltenen | |
| Marzahn-Hellersdorf das Zusammenleben nicht klappen würde. | |
| 7 Aug 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Harald_Poelchau | |
| [2] https://zusammenleben-berlin.de/ | |
| [3] https://www.zusammenleben-berlin.de/index.php/pilgerweg | |
| [4] https://dunamisgospel.org/ | |
| ## AUTOREN | |
| Marina Mai | |
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| Glaube, Religion, Kirchenaustritte | |
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