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# taz.de -- Gewerkschaft für Care-Arbeit: „Sorgearbeit in der Verfassung sch…
> Jo Lücke und Franzi Helms haben die erste Gewerkschaft für Care-Arbeit
> gegründet. Ein Gespräch über Leistung, Streik und was der Staat für
> Mütter ist.
Bild: Jo Lücke und Franzi Helms
taz: Frau Helms, Frau Lücke, wie sieht die perfekte Welt im Hinblick auf
Sorgearbeit aus?
Jo Lücke und Franzi Helms: In einer Welt, in der niemand wegen Sorgearbeit
Nachteile hat, muss auch niemand Angst vor Armut haben, wenn er:sie
Fürsorgeverantwortung übernimmt. Jedes neue Gesetz wird daraufhin geprüft,
ob es Eltern, pflegende Angehörige oder andere Fürsorgende benachteiligt.
Erzieher:innen und Pflegekräfte werden gut bezahlt und arbeiten unter
würdigen Bedingungen. Alle hätten genug Zeit, um füreinander zu sorgen –
das würde zu gesünderen Menschen, besserer Bildung und mehr
gesellschaftlichem Zusammenhalt führen. Ein Land ohne Diskriminierung von
Fürsorgenden wäre auch ein Land mit weniger Gewalt.
taz: Sie fordern eine Grundgesetzänderung. Was genau soll im Grundgesetz
verankert werden?
Helms: Menschen mit Sorgeverantwortung werden benachteiligt – beim
Einkommen, in der Rente, in der politischen Teilhabe und in ihrer
verfügbaren Zeit. Wir fordern, dass familiäre Fürsorgeverantwortung als
Diskriminierungsmerkmal in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes aufgenommen
wird. Diese Ergänzung hätte nicht nur eine starke symbolische Bedeutung,
sondern vor allem konkrete Auswirkungen – etwa im Sozial-, Arbeits- und
Steuerrecht.
Lücke: Das würde auch beruflich Pflegenden, Erzieher*innen und anderen
Care-Beschäftigten helfen. Wer Sorgearbeit gleichwertig anerkennt, wertet
auch jene Berufe auf, die Sorge zur Profession gemacht haben.
taz: Warum braucht es eine eigene „Gewerkschaft“ für unbezahlte
Sorgearbeit?
Lücke: Es fehlt eine Organisation, die unbezahlte Sorgearbeitende vereint.
Viele sind durch Job und Familie so eingespannt, dass politische Teilhabe
kaum möglich ist. Deshalb haben wir die Gewerkschaft gegründet. Für andere
zu sorgen kostet Zeit und Energie und ist in diesem Sinne auch Arbeit. Wir
sehen Staat und Gesellschaft als eine Art Arbeitgebende, die Verantwortung
für faire Rahmenbedingungen tragen.
taz: Wie organisieren Sie Menschen, deren Arbeit definitionsgemäß
„unsichtbar“ und nicht institutionell eingebunden ist?
Helms: Wir schaffen barrierearme Vernetzungsangebote. Im ersten Schritt
geht es darum, Räume für Austausch und Sensibilisierung zu eröffnen – denn
Sorgearbeit bringt strukturelle Probleme mit sich, sie ist kein
individuelles Phänomen. Das gesellschaftliche Narrativ, dass Fürsorge aus
Liebe und Hingabe geschieht, ist tief verankert. Verantwortung für Sorge
wird vor allem Frauen zugeschrieben; die damit verbundenen Rollenbilder
sind meist unbewusst verinnerlicht.
Lücke: Wir wissen, dass Menschen wenig Zeit haben. Deshalb bieten wir
digitale Formate zu verschiedenen Tageszeiten und bauen Lokalgruppen auf.
Erst sensibilisieren, dann mobilisieren – oft in Zusammenarbeit mit
bestehenden Verbänden. Für eine Grundgesetzänderung braucht es eine breite,
solidarische Basis.
taz: [1][Friedrich Merz fordert, dass mehr gearbeitet wird.] Ihre Reaktion
darauf?
Helms: Wenn man unbezahlte Sorgearbeit mitdenkt, arbeiten Frauen heute
bereits mehr als Männer. Es geht also nicht um „mehr leisten“, sondern
darum, anzuerkennen, was schon geleistet wird. Es ist keine Lösung, wenn
alle Frauen vollzeiterwerbstätig sind. Wir brauchen neue Standards – unsere
heutige Arbeitskultur hat viele gesundheitliche Folgen. Studien und
Pilotprojekte zeigen: Eine 30-Stunden- oder Vier-Tage-Woche wäre längst
überfällig. Die Debatte über längere Arbeitszeiten ist rückwärtsgewandt �…
es ist Zeit, Arbeit und Leistung neu zu denken.
Lücke: Die steigenden Lebenshaltungskosten erhöhen den Erwerbsdruck –
[2][besonders für Frauen, die ohnehin den Großteil der unbezahlten
Sorgearbeit leisten]. Gleichzeitig bleibt das erhoffte Wirtschaftswachstum
aus. Dieses Ungleichgewicht zeigt: Produktivität hängt nicht nur von
Arbeitszeit ab, sondern auch von Vertrauen, funktionierenden
Fürsorgestrukturen und demokratischer Teilhabe. Doch genau diese Grundlagen
geraten unter Druck. Globale Krisen, Kriege und sicherheitspolitische
Prioritäten verdrängen feministische und soziale Themen aus dem politischen
Fokus. Die Geschichte zeigt: In solchen Phasen wächst die Tendenz, Frauen
wieder in traditionelle Rollen zu drängen – insbesondere in unbezahlte
Sorgearbeit. Diese unsichtbare Leistung hält die Gesellschaft
funktionstüchtig, verursacht aber keine Kosten. Sie wird erwartet, aber
nicht abgesichert – und damit zur Grundlage eines Systems, das Fürsorge
nicht strukturell mitdenkt.
taz: Welche politischen Maßnahmen könnten Sorgeverantwortliche entlasten?
Lücke: Lohnersatz bei Pflegezeiten, Inflationsanpassung beim Elterngeld,
mehr Kitaplätze – das alles ist wichtig, aber nicht genug. Ohne
Grundgesetzverankerung bleiben diese Themen politisch optional und können
jederzeit zurückgestellt werden.
taz: Was sagt es über unser Wirtschaftssystem, wenn selbst Fürsorgearbeit
dem Prinzip der maximalen Verwertung untergeordnet wird?
Lücke: Die Autorin Nancy Fraser beschreibt Wellen kapitalistischer
Ausbeutung. Die Strukturen versuchen, möglichst viel unbezahlte Arbeit aus
Sorgearbeitenden herauszupressen – bis der Schaden größer wird als der
Nutzen. Wenn niemand mehr Zeit für Fürsorge hat, leiden Kinder, die später
als Arbeitskräfte fehlen. Dann folgen kleine politische Korrekturen – wie
Elterngeld oder Mütterrente. Unsere Forderung nach einer
Grundgesetzänderung würde die Grenze dessen, was „ausgequetscht“ werden
kann, deutlich verschieben.
taz: Wie sieht die Anerkennung von unbezahlter Care-Arbeit im
internationalen Vergleich aus?
Lücke: Meines Wissens gibt es kein Land, das unbezahlte Sorgeverantwortung
in seiner Verfassung schützt. In vielen Ländern findet sich ein
Diskriminierungsverbot im Pendant zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz –
dieser bezieht sich aber nur auf das Arbeits- und Zivilrecht.
taz: Wie sehen Ihre nächsten konkreten Schritte aus?
Lücke: Wir bauen eine Geschäftsstelle auf, gewinnen Mitglieder, schaffen
Sichtbarkeit und planen einen Streik – allerdings nicht der Sorgearbeit,
sondern der Lohnarbeit. Auf unserer Agenda steht daher, politische
Streikformen in Deutschland auszuloten. Denn Sorgearbeitende haben ja sonst
keine Möglichkeiten für Arbeitskampf. Ein Vorbild könnte Island sein – dort
nannte man den Streik einen „gemeinschaftlichen Urlaubstag“. Vielleicht ist
das auch für uns ein gangbarer Weg. Vielleicht ist es aber auch an der Zeit
für eine neue Rechtsprechung in Sachen Streik.
Helms: Uns interessiert außerdem, ob die Benachteiligung von
Sorgearbeitenden heute schon gegen Grundrechte verstößt. Wir sammeln Fälle
und prüfen eine Verfassungsbeschwerde. Kurz: Wir stellen Fragen, die bisher
niemand stellte – weil es als normal galt, dass Sorgearbeit privat
organisiert wird. Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der Fürsorge als
das anerkannt wird, was sie ist: ein unverzichtbarer Beitrag zu unserem
Zusammenleben.
6 Jun 2025
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## AUTOREN
Leyla Roos
## TAGS
Care-Arbeit
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