| # taz.de -- Filmfestspiele in Cannes: Wunden, die bleiben | |
| > Vor der Preisverleihung am Samstag bleibt es spannend. Womöglich geht die | |
| > Goldene Palme an einen Thriller aus Brasilien oder ein Drama aus | |
| > Norwegen. | |
| Bild: Nora (Renate Reinsve) und Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas) in Joachim Trie… | |
| Kurz vor Schluss geht das Rätseln um die Goldene Palme der 78. | |
| Filmfestspiele von Cannes, die an diesem Sonnabend verliehen wird, | |
| unverändert weiter. Unter Kritikern weichen die Urteile zu den möglichen | |
| Gewinnern zum Teil stark voneinander ab, aber allgemein herrscht die | |
| Ansicht vor, dass es den großen Favoriten im Wettbewerb bisher nicht gibt. | |
| Dabei fehlt es nicht an erfolgreich mutigen Filmen, darunter die schon | |
| vorgestellten Beiträge [1][„In die Sonne schauen“ von Mascha Schilinski] | |
| mit seinem vielstimmigen Familienporträt über vier Generationen hinweg oder | |
| [2][Óliver Laxes heftig schöner Wüstentrip „Sirāt“]. | |
| Einen eigenen Dreh für den Umgang mit Geschichte wählt [3][der | |
| brasilianische Regisseur Kleber Mendonça Filho] in seinem fiebrig | |
| verwirrenden Thriller „The Secret Agent“. Die Handlung spielt im Jahr 1977 | |
| während der Militärdiktatur, die Hauptfigur, der Wissenschaftler Marcelo | |
| (Wagner Moura) ist auf der Flucht nach Recife unterwegs. | |
| Flucht vor zwei Killern | |
| Er hatte sich mit einem mächtigen Unternehmer angelegt, da Marcelos | |
| Forschungsarbeit bei diesem Begehrlichkeiten geweckt hatte, wogegen sich | |
| der redliche Forscher zu wehren versucht hatte. Jetzt hat der Unternehmer | |
| zwei Killer losgeschickt, die hinter ihm her reisen. | |
| Mendonça setzt gleich zu Beginn des Films den Ton, zeigt Marcelo, wie er | |
| auf der Landstraße an einer Tankstelle für Benzin hält, um wenige Meter | |
| entfernt eine verwesende Leiche zu entdecken, die notdürftig mit Pappe | |
| zugedeckt ist. Als wenig später die Polizei eintrifft, interessiert die | |
| sich nicht für den Toten, sondern will bloß Marcelos Papiere kontrollieren. | |
| Die ständige Bedrohung durch den Tod, um den sich zugleich kaum jemand zu | |
| scheren scheint, vermischt Mendonça mit Bildern, die von tropischer Schwüle | |
| durchfeuchtet scheinen, einem trügerisch leichten Bossa-Nova-Soundtrack und | |
| einer Art des Erzählens, die das Publikum über viele Einzelheiten lange im | |
| Dunkeln lässt. Das verwirrt, doch auf ansteckende Weise. Und Walter Mouras | |
| stoische Verlorenheit wäre allein schon preiswürdig. | |
| Konkurrenz aus Norwegen | |
| Bei den Schauspielern, aber auch beim ganzen Rest hat Mendonça inzwischen | |
| Konkurrenz aus Norwegen bekommen. [4][Joachim Trier] bietet mit | |
| „Sentimental Value“ (Affeksjonsverdi) ein grandioses Kammerspiel mit den | |
| Hauptdarstellern Renate Reinsve, Inga Ibsdotter Lilleas und Stellan | |
| Skarsgård als Dreierkonstellation aus Töchtern und Vater. | |
| Nora (Reinsve) ist erfolgreiche Schauspielerin, Agnes (Lilleas) arbeitet | |
| als Historikerin an der Uni. Ihr Vater Gustav ist berühmter Filmregisseur, | |
| allerdings liegt sein letzter Spielfilm einige Jahre zurück. Die Beziehung | |
| der Töchter zum Vater hat sich abgekühlt, nach der Trennung der Eltern | |
| lebten die Schwestern bei der Mutter. Gustav hingegen verschwand für sie. | |
| Der Tod ihrer Mutter bringt die Familie scheinbar wieder zusammen. Gustav | |
| taucht kurz bei der Trauerfeier auf, bittet Nora um ein privates Treffen. | |
| Sie vermutet Unerfreuliches, um zu erfahren, dass Gustav ein neues Drehbuch | |
| fertig hat, das er mit ihr in der Hauptrolle verfilmen möchte. Er habe den | |
| Part für sie geschrieben. Nora schickt ihn darauf zum Teufel. | |
| Renate Reinsves Spiel | |
| Joachim Trier lässt vor allem [5][Renate Reinsve] viel Raum, um die Nöte | |
| von Nora zu zeigen. Gesprochen wird einigermaßen viel, doch sind es bei ihr | |
| die körperlichen Gesten wie ein leichtes Verrutschen des Gesichts oder eine | |
| Anspannung, die sich nicht entladen will, über die man vom Leiden ihrer | |
| Figur am meisten erfährt. | |
| Und Stellan Skarsgård vollbringt es mit seiner minimalen Mimik, die | |
| Verschlossenheit von Gustav nicht hermetisch, sondern als brüchigen Panzer | |
| erscheinen zu lassen. Gut denkbar, dass sich auch die Jury dafür begeistern | |
| kann. Gerechtfertigt wäre es. | |
| 23 May 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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